Vielleicht ist eine kurze Erklärung, warum ich diesen Text von Konstantin Wecker hier veröffentliche, ganz hilfreich:

Bei meinen Bloggerkollegen, die fast ausschließlich über Wirtschaftsthemen schreiben, über Wirtschaft und Politik, hat man den Eindruck, sie stehen den Sachen, den Dingen, dem Geschehen gegenüber, sind gleichsam unbeteiligte, rational argumentierende, emotionslose Subjekte. Konstantin Wecker verkörpert hingegen jene selten gewordene Spezies Mensch, die mitfühlen, die auch gefühlsmäßig Beteiligte sind, bei ihm gibt es nicht diese Spaltung von Subjekt und Objekt, sondern er ist Partizipierender am Geschehen, einer, der sich dabei selbst reflektiert.

Konstantin Wecker schreibt:

>>Liebe Freunde,
1. Mai 2013, Uckermark.
Unruhe unter meinem stets weit geöffneten Hotelzimmerfenster lässt mich aufschrecken. Es ist viertel nach zehn und für die meisten eine durchaus christliche Uhrzeit. Für viele Musiker allerdings der Moment, sich nochmal umzudrehen. Ich bin sauer. Geschnatter, Gekicher, freudige Aufschreie, Begrüßungsorgien.
Das Konzert gestern war sehr schön. Zwar nicht ausverkauft, aber die wenigen, die da waren, waren großartig. Sie ließen uns mit ihrer Begeisterung die halbleeren Ränge vergessen.
Anschließend noch ein paar Bier an der Hotelbar. Dann, wie gewohnt, der stets sinnlose Versuch einzuschlafen. Wälzen. Lesen. Aufstehen. Rumgehen.
Da hat sich seit vierzig Jahren nicht viel geändert. Es gehört zum Beruf.
Die Menschen unter meinem Fenster scheinen sich nun alle versammelt zu haben. Warum eigentlich gerade unter meinem Fenster. Ich wage einen Blick zu meinen Feinden hinunter. Sieht mir nach Familienfeier aus. Vielleicht wird der Opa 80. Oder Mami 60.
Ich erschrecke über meine Gehässigkeit. Was hab ich gegen diese Menschen? Stört mich ihre Fröhlichkeit? Nur weil sie mich daran hindern, mich weiter im Bett rumzuwälzen?
Ich sehe sie mir nochmal an. Angenehme Menschen eigentlich. Keine Protzer, kein Aufsichtsratvorsitzenden-Treffen der Deutschen Bank. Keine Drückerkolonnen aus der Maschmeyer-Armee. Einfache Menschen. Menschen, die sich sicher an jedem Monatsende einschränken müssen. Jeder sein eigenes Universum. Jeder voll von Nöten, Sorgen, aber auch von Hoffnungen und kleinen Vorfreuden. Manche vielleicht im Liebestaumel, dieser herrlichen Zeit der jungen Liebe, wo einfach alles stimmt, wo man wohlig und warm aufgefangen ist von all dem, wie das Leben sein könnte.
Und je mehr ich mir diese Fremden betrachte, umso näher werden sie mir. Ich beginne eine aufkeimende Zärtlichkeit in mir zu entdecken für all diese unbekannten schnatternden und lachenden Wesen, die mir noch vor kurzem so weit weg erschienen wie eine lärmende, feindliche Invasion.
Vielleicht hätten sie 1933 Hitler gewählt. Aber ich vielleicht auch. Vielleicht wählen sie im September Merkel. (Das wenigstens werde ich sicher nicht tun.)
Was weiß ich schon von ihren Ängsten. Wer bin ich denn, dass ich mir herausnehme, über sie, die mir so unbekannten, zu urteilen? Die Zärtlichkeit übermannt mich an diesem ersten Mai. Ein zärtliches Gefühl für jede Frau und jeden Mann, und für die Kinder sowieso. Für alle, die in einer Gesellschaft leben müssen, die so unglaublich kalt und ungerecht geworden ist für die, die nicht am Drücker sitzen. Für alle, die derzeit so verarscht werden von den Mächtigen. Für uns eben. Uns alle. Und insgeheim träume ich von einem Aufstand an diesem ersten Mai. Und dass wir uns all die Rechte zurückholen, die sie uns gestohlen haben. Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wasser, das Recht darauf, von der Gesellschaft versorgt zu werden, wenn man es selbst nicht mehr kann. Das Recht auf einen Mindestlohn. Das Recht auf eine Welt ohne Zeitarbeitsfirmen. Das Recht auf unser Recht.

Dass dieser Mai nie ende
Ach Sonne wärm uns gründlich
Wir haben kaum noch Zeit
Die Welt verbittert stündlich

http://www.youtube.com/watch?v=taRvTYpVTOQ<<