Meine Mail
An: redaktion@nachdenkseiten.de
Betreff: Friedhelm Hengsbach – einem der letzten Intellektuellen mit einer eigenen Meinung
als regelmäßiger Leser der Nachdenkseiten möchte ich Sie auf einen Denkfehler aufmerksam machen oder, genauer gesagt, auf eine ungenaue Formulierung, die deutlich macht, daß auch die “letzten” kritischen Intellektuellen nicht davor gefeit sind, Denkmuster einer öffentlichen Meinung zu übernehmen, in denen diejenigen verschwinden, ja, überhaupt nicht zu existieren scheinen, denen Öffentlichkeit nicht oder nur sehr marginal zuteil wird.
Ihre Formulierung müßte präziser lauten: >>Friedhelm Hengsbach ist einer der letzen prominenten, bekannten Intellektuellen, der noch eine eigene Meinung hat.<<
Wie viele Intellektuelle es darüber hinaus gibt, die die neoliberale Wirtschaft und ihre Geschäftsführer in der Politik kritisieren, wissen wir nicht, weil wir gewöhnlich nur das wahrnehmen, was in den Medien erscheint. Der Satz des irischen Philosophen und Bischofs George Berkeley “esse est percipi” – Sein ist wahrgenommen werden – müßte heute lauten: esse est tivipi. Nur der existiert, der in den Medien ist. Und die Medien sind heute, wie Wolfgang Lieb vor einiger Zeit schrieb, die Lautsprecher neoliberaler Machthaber. Wie sollte da jemand, der weder über eine Professor noch über ein anderes repräsentatives Amt verfügt, das ihm per se Reputation verleiht, wie sollte also jemand, der nicht schon vor der Flutwelle neoliberalistischer Ideologie etabliert war, sich überhaupt noch öffentlich Gehör verschaffen?
Man muß sich in erster Linie selbst fragen – und das gilt besonders dann, wenn man öffentlich wirksam ist -:
Könnte ich bei den Urteilen, die ich fälle, etwas übersehen haben, könnte es sein, daß meine Statements Generalisierungen sind, mit denen ich den Ausgegrenzten und nicht Wahrgenommenen, zusätzlich Unrecht antue. Mit anderen Worten: Es gibt hierzulande genügend Intellektuelle, die sich sehr kritisch mit gegenwärtiger Politik auseinandersetzen, die aber kaum Gelegenheit erhalten, ihre Analysen zu publizieren.
Da wir hierzulande seit Jahren eine massive Meinungsmanipulation erleben, auf die die Nachdenkseiten immer wieder hinweisen; da die Bedeutung der Begriffe gezielt in ihr Gegenteil verkehrt wird (für mich der Hauptgrund, warum ich die SPD nicht mehr wählen kann), ist es um so dringlicher, daß die wenigen Kritiker des Neoliberalismus, denen noch Öffentlichkeit zuteil wird oder die sich diese Öffentlichkeit wie die Nachdenkseiten kontinuierlich erarbeiten, daß diese Kritiker es verstehen, mit Sprache sehr sensibel umzugehen.
Ich möchte Ihnen aber in gewisser Weise recht geben: Unter den Intellektuellen mit Öffentlichkeitswirkung ist das Wissen um die Zusammenhänge von globalisierter Wirtschaft und Politik dürftig.
Dies hat wieder einmal eine Sendung im ZDF gezeigt, in der einige Schriftsteller “live” den Ausgang der Bundestagswahl im Nachstudio mit Volker Panzer diskutieren durften. Diese Sendung lief nach Mitternacht, also am 19.9.2005 um 0:15. Sie wird wiederholt am Donnerstag, den 22. 9. 2005, um 10:15 auf 3sat.
Im folgenden der Link, dem Sie die Namen der Diskutanten entnehmen können. Ich habe die Sendung leider nur zum Teil verfolgt. Sie wäre es wert, aufgezeichnet und dann analysiert zu werden, weil die Äußerungen der überwiegend jungen SchriftstellerInnen wie Thea Dorn exemplarisch verdeutlicht, wie gut die Gehirnwäsche der neoliberalen Propaganda, an der die SPD einen wesentlichen Anteil hat, funktioniert. So war unter anderem zu hören, die Linken in der SPD hätten Schröder den Teppich unter den Füßen weggezogen. Gefragt wurde nicht, ob die kritischen Argumente gegen Schröder einen Wahrheitsgehalt haben beziehungsweise von der Sache her begründet sind. Das pure Faktum, mit Schröder nicht einer Meinung zu sein, wurde schon als negativ hingestellt.
Ich hatte vor einiger Zeit Herrn Lieb geschrieben, daß die Nachdenkseiten ausschließlich nur zu Politik und Wirtschaft Stellung nehmen und daß Politisches in Kunst und Literatur nicht vorkämen, also eine ganze Dimension unseres Daseins außen vor bleibt. Nun, ich will damit nicht sagen, daß die Nachdenkseiten dies auch noch leisten müßten, sondern auf folgendes aufmerksam machen:
Die Äußerungen der SchriftstellerInnen in der ZDF-Sendung machte deutlich, daß man ohne die genauen Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik letztlich in den propagandistischen Phrasen von Bertelsmann und Co., von Schröder, Clement, Hundt, Braun usw. hängen bleibt. Das heißt, die Fokusierung der Nachdenkseiten auf wirtschaftpolitische Themen ist ein Indiz für eine historische Parallele, nämlich die zur Reformation.
Nimmt man Luther als Beispiel, dann hat dieser sich mit der Religionspraxis der Papstkirche detailliert auseinandergesetzt. Er mußte es, nicht nur, weil er sich selbst als Christ verstand, sondern weil die katholische Kirche – in ihrer Verfilzung mit weltlicher Macht – einen Absolutheitsanspruch vertrat, den man nur “knacken” konnte, in dem man dieser Kirche nachwies, daß ihre Lehre falsch ist.
Ich will damit sagen, wenn ein Denkgebäude mit absolutem Wahrheitsanspruch auftritt und sich anschickt, die Macht über die Menschen, die Macht über die Nationen und Gesellschaften zu übernehmen, muß man sich in erster Linie damit beschäftigen, diesen Wahrheitsanspruch durch fundierte Gegenargumente zu widerlegen. Daß die Nachdenkseiten sich also fast auschließlich mit wirtschaftspolitischen Themen befassen, zeigt für mich auf, wie totalitär der Neoliberalismus geworden ist. Ohne Kritik an seinen diktatorisch vorgetragenen Desideraten, ohne Kritik an seiner Unersättlichkeit muß man an sich selbst verzweifeln, wird man irre im Kopf, aber diese täglich notwendige Kritik an dieser brutalen, alles beherrschen wollenden Ideo- logie macht selber einseitig. Nicht, daß man als Person einseitig würde, aber man reagiert und antwortet fast nur noch auf die Einseitigkeiten der Macht.
@ Klaus Baum,
„…aber diese täglich notwendige Kritik an dieser brutalen, alles beherrschen wollenden Ideologie macht selber einseitig. Nicht, daß man als Person einseitig würde, aber man reagiert und antwortet fast nur noch auf die Einseitigkeiten der Macht. “
Ein entscheidender Punkt: Die Kritik an den (neol.)Verhältnissen steht in der Gefahr sich selbst nicht mehr kritisch zu hinterfragen und weitgehend der medialen Berichterstattung hinterher zu laufen.
Wird diese von den Medien und Politik dann noch aufgegriffen, um den Eindruck von kritischer Reflexion auf das System zu erzeugen, dann hat sich Kritik von links auch erledigt.
Das ist aus meiner Sicht auch die Stärke der neoliberalen Ideologie. Das allgemeine Bewusstsein für Solidarität als Gesellschaft für den Einzelnen umzudeuten in Solidarität des Einzelnen für die Gemeinschaft (Frage nicht danach was der Staat für Dich tun kann, sondern was Du für den Staat tun kannst). Gleichzeitig hat eine Verlagerung der Verantwortung vom System auf den Einzelnen stattgefunden, was durch das allgemeine „Wir“ nur verschleiert wird.
Oder Begriffe, die unerwünschte Assoziationen hervorrufen könnten werden mit Anglizismen besetzt: wie z.B. Lockdown, die Ausgangssperre aus dem Militärrecht: Eine Strafe für Soldaten, die zu spät in die Kaserne zurückgekommen sind.
Und passt das nicht wunderbar dazu was wir gerade erleben?
Ich würde es nicht nur auf die Kritik einer Ideologie, nämlich des Neoliberalismus reduzieren, sondern auf die Kritik der ideologischen Lage schlechthin. Den folgenden Beitrag hatte ich zunächst auf meiner Facebookseite notiert, nämlich als einer meiner Kommentare ob des Selbstverständnisses einer sog. Linken, die sich nicht scheut als „Antifa“, zum Agent Provokateur der Herrschenden verwenden zu lassen. Dezidierter zu diesem Thema bin ich allerdings an anderer Stelle darauf eingegangen. Hier geht es mir um die Kritik der Ideologie schlechthin. Um das diesbezüglich Besondere in dieser Epoche.
Das dickste Brett vorm Kopf
Von Herold | Veröffentlicht: 20. Dezember 2020
Wo die herrschende bürgerliche Klasse ausgerechnet in der Epoche ihres Niedergangs von der besten aller Gesellschaften redet, und damit meint sie die ihrige, nicht die zukünftige, nicht die die sie ablösen wird, scheint dies auch ein Beleg für die absurdesten aller Zeiten. Und ja, ich kann ihr dabei nicht einmal wirklich widersprechen. Denn wo die Wahrheit, bzw. die Wirklichkeit nicht mehr zu erkennen ist, kann jeder behaupten was er will.
Den folgenden Kommentar habe ich zunächst in Facebook hinterlegt. Einer der vielen, zu denen ich mich dieser Tage gezwungen sehe. Die Situation ist ernst. Doch wo die Gefahr am größten, ist auch die Rettung oft nicht weit. Das zumindest scheint mir noch so wahr wie wirklich, auch wenn aus dem Munde eines Zeitzeugen stammend, nämlich Hölderlins, der dies Diktum, allein anhand seiner ganz persönlichen Geschichte doch wiederum zu widerlegen suchte. Aber auch das gehört zur Wirklichkeit: die besten Propheten irren dort am stärksten, wo die Prophetie ihr eigenes Schicksal berührt. Die Wirklichkeit scheint unser stärkstes Brett vorm Kopf:
Wir leben vermutlich in der absurdesten Zeit, die es je gegeben hat. Wo Pontius Pilatus Jesus noch gefragt haben soll: Was ist Wahrheit?, spitzen wir diese Frage noch einmal zu auf: Was ist Wirklichkeit? Und dies nicht nur als philosophische Frage, sondern als alltägliche. Doch so nervig das ist, das erzwingt in jedem von uns, zumindest den, der Fragen überhaupt stellt, den Philosophen. Ich denke, selbst Marx hat sich das nicht so vorgestellt, als er prophezeite, dass die Massen sich die Philosophie aneignen und sie damit als besondere Wissenschaft überflüssig machen. Denn nach seiner Vorstellung wäre das erst eins der Ergebnisse einer sozialistischen Revolution. Doch da diese vorerst auszubleiben scheint, auch und gerade ob ihrer Schwierigkeiten, nämlich aufgrund der sich gerade nochmal zuspitzenden Trennung zwischen Theorie und Praxis, und des darin nicht nur Verderbens der bürgerlichen Wissenschaft, deren Prostituierung, und des darin sich sudelnden bürgerlichen Kretins, sondern eben auch der damit einhergehenden Idiotisisierung der Massen, müssen diese Massen, ja: genau exakt jene idiotisierten Massen, noch vor der sozialistischen Revolution „Philosophen“ werden – kollektive Philosophen. Ja mehr noch: ohne diesen Akt der geistigen Selbstermächtigung wird es keine reale Selbstermächtigung geben. Als wenn sie nicht schon schwer genug gewesen wäre. Die ganze bisherige Geschichte. Diese Geschichte der Klassenkämpfe.
Wahrscheinlich macht es wenig Sinn über den Neoliberalismus zu philosophieren, wenn man ihn nicht in einen historischen Zusammenhang stellt, mit dem Scheitern des Keynsianismus als staatsinterventionistischen Eingriff, die lahmende Wirtschaft über die Nachfrageseite zu stärken.
Die Antwort darauf war eben die weitgehende Zurücknahme des Staates als eigenständiger Akteur in wirtschaftliche Prozesse einzugreifen, sondern wieder der „unsichtbaren Hand“ dem Markt zu überlassen, als gesellschaftliche Instanz, ihn als Mass des gesellschaftlichen Erfolges zu installieren..
Nicht vollkommen, sondern immer noch da erwünscht , wo es es um die Absicherung von Konkurrenzvorteilen in der internationalen Konkurrenz geht durch das Absenken des Lohnniveaus und der sozialen Leistungen für die Unproduktiven.
Die Bezeichnung den Neoliberalismus mit dem Etikett des Liberalismus zu behaften wird insofern schief, weil der bürgerliche Liberalismus, der immerhin noch einen , wenn auch einen bescheidenen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit angestrebt hat, heute nicht mehr existiert.
0 Pingbacks