SPRECHER (Klaus Baum): Das erste, was ich von Cesare Pavese gelesen habe, war sein Tagebuch: Das Handwerk des Lebens. Mich interessierten damals, zehn Jahre ist das nun her, lediglich die darin befindlichen Notizen über Liebe und Eifersucht, und mit Ungeduld las ich über jene Passagen hin­weg, in denen er sich mit seiner Dichtungstheorie und dem Mythos be­schäftigt.

Mich beeindruckte die Offenheit und Aufrichtigkeit, mit denen Pavese, na­hezu selbstquälerisch, die eigene Person reflektiert, seine Sehnsucht nach einer erfüllten Beziehung, die Unfähigkeit, eine solche Beziehung zu reali­sieren, und sein daraus resultierendes Leiden an der Einsamkeit, am Al­leinsein. Von seiner schonungslosen Art, sich als bedürftigen Menschen darzustellen, der nach der Nähe einer Frau hungert, und der aus Ver­zweiflung immer wieder an Selbstmord denkt, von dieser schonungslosen Offenheit ging für mich damals etwas Tröstendes aus, so, als spräche Pa­vese zu mir selbst, als einer, der sich mir anvertraut und der, weil er sich nicht maskiert, seinem Leser ermöglicht, sich mit seinen Nöten solidarisch zu fühlen.

Cesare Pavese, geboren 1908 in Santo Stefano Belbo auf einem Bauern­gut, blieb in seinen literarischen Arbeiten stets der Landschaft des Pie-mont verbunden, den Hügeln der Langhe; das Dorf als Lebensraum spielt in den Romanen und Erzählungen des Cesare Pavese eine große Rolle, doch ebenso die Stadt, vor allem Turin, die Hauptstadt des Piemont, wo er zur Schule ging, studierte und nach seinem Studium überwiegend als Lektor für den Verlag Einaudi arbeitete. Am 26. August 1950, vierzehn Tage vor seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, packte Pavese, der in Turin mit seiner Schwester und ihrer Familie zusammenwohnte, einen Koffer, gab vor, verreisen zu wollen; doch statt einen Zug zu nehmen, mietete er sich gegenüber dem Bahnhof im Hotel Roma ein Zimmer. Am Abend des nächsten Tages fand ihn ein Angestellter des Hotels tot auf dem Bett liegend. Pavese hatte eine Überdosis Schlaftabletten genom­men. Wenige Wochen zuvor hatte er den bedeutendsten italienischen Li­teraturpreis, den >Premio Strega< erhalten, hatte das entscheidende Ziel seines Lebens erreicht, als Schriftsteller anerkannt zu werden. Die letzte Eintragung in seinem Tagebuch stammt vom 18. August 1950. Er notiert sechs Tage vor seinem Tod:

ZITATOR 1: »Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schrei­ben.«

SPRECHER: Paveses Denken kreiste nahezu lebenslang um den Selbstmord: Jede Zeile seines Werkes liest man mit der Frage, worin der Grund gelegen haben mag für sein Gefühl des Unglücks, das im August 1950 in auswegloser Trostlosigkeit endete.

Die existientiellen Probleme, die Cesare Pavese künstlerisch und theore­tisch zu verarbeiten versuchte, durchziehen die Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden. Das Buch Kohelet der hebräischen Bibel, von Luther übersetzt mit Der Prediger, spricht von der Nichtigkeit des Daseins, von der Sinnlosigkeit allen Bemühens und von der Verzweiflung, die damit einhergeht. Selbst Paulus spitzt die Daseinsbefindlichkeit des Menschen auf ihre äußerste Negativität zu: Das Subjekt ist in Antinomien verstrickt und vermag sich durch eigene Anstrengungen nicht aus seiner quaivollen Existenz zu befreien. Es liegt nicht in seiner Macht, Ganzheit und Einheit zu realisieren.

Doch es bedürfte nicht der Religion und ihrer Botschaft >Fürchte dich nicht!<, wenn das Dasein der Menschen angstfrei wäre, und es bedürfte keiner frohen Botschaft, wäre das Leben heiter.

Von Kohelet bis Woody Allen, von den Gnostikern bis Beckett, ist die Welt immer wieder als trostlos empfunden worden. Die an dieser Negativität Verzweifelnden mochten vielleicht auch im 20. Jahrhundert Rettung im Glauben an eine transzendente Macht gesucht haben, aber vielen gelingt es nicht mehr. Es bleiben eigentlich nur, so Albert Camus in seinem 1943 erschienenen Le Mythe de Sisyphe, zwei Möglichkeiten: Die seelische und geistige Kraft, die Sinnlosigkeit der Existenz, das Absurde, aus- und durchzuhalten, oder den Selbstmord zu wählen. Beckett hat die Illusions-losigkeit, die Camus dem Leben gegenüber anstrebt, in seinem Roman Malone stirbt, auf den Punkt gebracht:

ZITATOR 1: »Wer lange genug gewartet hat, wird eines Tages für im­mer warten. Und dann wird nichts mehr geschehen und niemand wird mehr kommen. Alles wird zu Ende sein. Außer dem Warten, das sich selbst als vergeblich weiß.« SPRECHER: Pavese notiert in seinem Tagebuch:

Z1TÄT0R 1: »Warten ist noch eine Beschäftigung. Auf nichts warten -das ist schrecklich.«

SPRECHER: Es heroisch zu ertragen, wie Beckett es vorschlägt, war für Pavese nicht akzeptabel. Oder vielleicht doch? Dies wenigstens für einen Tag zu leisten, nennt Pavese seine Helden-Regel, die einzige, die es gibt:

ZITÄTOR 1: »(A)llein sein, allein, allein.

Wenn du einen Tag verbringen wirst, ohne die Gegenwart eines anderen weder vorauszusetzen noch sie in irgendeine Geste oder einen Gedanken von dir zu verwickeln, wirst du dich heldenhaft nennen können.«

SPRECHER: Pavese ist kein Einzelfall, seine Lebenseinstellung, ge­prägt von Sinnverlust und Vergeblichkeit, ist nicht auf eine problemati­sche Psyche< zurückzuführen, sondern allenfalls auf eine feine und fast zwangsläufige Sensibilität: Man hat Pavese, wie Verena Lenzen in ihrer Monographie ausdrücklich betont, als einen religiösen Menschen ohne Religion bezeichnet. Pavese war religiös, weil er einen Ausweg aus der krankmachenden, seelisch belastenden Entzweiung des Menschen such­te, und er war ohne Religion in dem Sinne, daß er diesen Ausweg nicht imv Glauben an eine heilende Kraft Gottes oder der christlichen Kirche sah. Und obwohl oder gerade weil dies so ist, finden sich bei Pavese christolo-gische Denkmuster, allerdings in säkularisierter Gestalt. Wer gelernt hat, in Paradoxien zu denken, den verwundert es nicht, daß insonderheit bei Künstlern, die in der Einflußsphäre des Katholizismus aufgewachsen sind, das Gefühl für das Absurde der Existenz sich so stark ausgeprägt hat, aber ebenso ein Glaube an das Sinnliche als Verkörpe­rung des Göttlichen: Da wird die Liebe zur Himmelsmacht, das heißt eine Liebe, die plötzlich Gestalt annimmt, die einen Körper, eine Seele, ein Lä­cheln hat.

Genau so ist es Pavese mit 28 Jahren ergangen.

Einen anderen Menschen zu lieben, und von ihm geliebt zu werden, er­fährt Pavese als erfüllte Gegenwart, und gleichzeitig macht er die Erfah­rung jenes paradoxen Wesens der Sehnsucht, jener Dialektik von Wunsch und Erfüllung. Pavese formuliert in seinem Tagebuch am 20. Februar 1938:

ZITÄTOR 1: »Warum haben fast alle eine Enttäuschung in der Liebe erlitten? Weil gerade die Liebe, in die sie sich mit Schwung geworfen ha­ben, sie verraten muß – aus dem Gesetz, daß man nur das erlangt, was man mit Unbeteiligtheit fordert«

SPRECHER: Wie die meisten Melancholiker der Moderne zielt Pavese auf das Absolute, und nur, wenn man es in einem besonderen Ereignis sucht – und man kann es darin allein deshalb schon nicht finden, weil es vergänglich ist -, wird man behaupten, das Streben nach Glück, genauer gesagt: die Hoffnung, Momente des Glücks zu erleben, sei von vornherein aussichtslos.

Z8TÄTOR 1: »Einsamkeit ist Leiden – Paarung ist Leiden – Menschen-Anhäufungist Leiden – Tod ist das Ende von allen.«

SPRECHER: Diese Gleichsetzung von Einsamkeit, Paarung und Men­schen-Anhäufung entspringt einer seelischen Müdigkeit, einer Resignation vor der Zweideutigkeit alles Seienden. Zwar, und auch dafür lassen sich Belege bei Pavese finden, zwar ermöglicht eine gewisse Zeit der Einsam­keit das Glück konzentrierter geistiger, schriftstellerischer Arbeit: Einem Menschen jedoch, der nur noch das Negative wahrzunehmen vermag, dem alles zum Leiden wird, ist mit einer rational bestimmten Argumentati­on nicht beizukommen; über den Verstand allein, über den Willen, ist eine Depression nicht aufzulösen.

Beckett hat die Reduktion der Weltsicht, oder, genauer gesagt, die Reduk­tion des Urteils über die Beschaffenheit der gesamten Schöpfung auf den Aspekt der Trostlosigkeit, Beckett hat diese Reduktion im Endspiel reflek­tiert:

ZITATOR 2: »Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das

Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuchte ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Se­gel der Sardinenboote. Wie schön das alles ist. [Pause.] Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. [Pause.] Er allein war verschont geblieben. […] [Pause.] Der Fall ist anscheinend … der Fall war gar keine … […] Seltenheit.«

SPRECHER: Dem, der nur Asche sieht, nur den Verfall, nur die Ver­zweiflung, dem ist schwer zu helfen mit einem Hinweis auf die Schönheit der Dinge, auf das neue keimende Leben; an deren heilende Wirkung zu glauben, ist in solcher Lage absurder als das Absurde selbst. Pavese ist mit dem Vorwurf der Einseitigkeit nicht zu treffen; dafür ist er selber viel zu reflektiert und differenziert: Fast zu jedem Gedanken findet sich bei ihm ein Gegengedanke; und aufs ganze gesehen, ist der pavesi-sche Kosmos so komplex, daß auch hier nur Aspekte dessen aufgezeigt werden können. Das kritische Bewußtsein der Wirklichkeit und seiner selbst konnten Pavese nicht von der Obsession des Suizids befreien. Daß Cesare Pavese auch Menschen-Anhäufung Leiden nennt, hat einen historischen Bezug: Menschen-Anhäufungen, das ist zwar auch der Ver­strickungszusammenhang der Gesellschaft, jener »Dschungel« aus Selbstbehauptung, Maskierung, Lüge, Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Aber Pavese hatte 1922 in Turin ein Massaker miterlebt, das die Faschi­sten verübten, ihre sogenannten Strafkommandos stürmten unter der Leitung von Piero Brandimarte die Gewerkschaftszentrale und zwei Clubs der Sozialisten, steckten diese in Brand und zogen anschließend weiter zur Redaktion der kommunistischen Zeitung >L’Ordine Nuovo< und ver­wüsteten deren Räume. Elf Menschen wurden in jener Nacht aufs grau­samste ermordet und zehn weitere schwer verletzt. Davide Lajolo schreibt in seiner Pavese-Biografie, daß die Schwarz-Hemden Charaktereigenschaften favorisierten und förderten, die dem jun­gen Pavese völlig konträr und zuwider waren:

Z1TÄT0R 2: »Arroganz, Dreistigkeit gemischt mit Grobschlächtigkeit,Unverfrorenheit, Aktionismus um jeden Preis und eine Art Das-ist-mir-doch-Scheiß-egal-Rhetorik.«

SPRECHER: Selbst dann, wenn dieser Menschentyp eine Gesellschaft nicht in so offensichtlicher Weise dominiert, wie es die Faschisten in Italien oder die Nazis in Deutschland taten, selbst dann ist der Einzelne einem Kraftfeld von Ansprüchen, Mißverständnissen, Schuldzuweisungen und Lieblosigkeiten ausgesetzt, an denen sensible Natur zerbrechen können. Um sich zu bewahren, um eine eigene Identität ausbilden zu können, hilft meist nur der Rückzug, und das heißt für einen intellektuell veranlagten Menschen der Rückzug in eine geistige Welt. Man kündigt die kräftezeh­rende Konfrontation mit den Durchsetzungsinteressen der anderen auf und konzentriert sich statt dessen auf den einsamen Dialog mit Büchern, auf das eigene Schreiben.

Die Auseinandersetzung mit Menschen, mit denen man zusammenlebt oder deren Bahnen man aus beruflichen Gründen zu kreuzen gezwungen ist, diese Auseinandersetzung ist immer auch ein zermürbender Kampf gegen die Abwehr narzißtischer Kränkungen: Der Wahrheitssuchende, der Aufrichtige, der Offene stellt immer ein Skandalon dar für jene, die sich »in Watte packen«, in die Watte des Selbstbetruges. Der Umgang mit Schmeichlern und Schurken, mit Korruption und Bestechlichkeit ist für die allermeisten Menschen einfacher als der Umgang mit der Wahrheit. Un­voreingenommene Klärung von Sachverhalten, Ehrlichkeit, die Fähigkeit, sich selbst zu relativieren, Kritik anzunehmen, sie ohne Animositäten und unterschwelligen Haß, sie ohne schweigende Ausgrenzung zu beantwor­ten, also mit einem Satz: Das zu betreiben, was der Würde des Menschen entspricht, geschieht äußerst selten; die Alternative lautet, zu resignieren oder sich aus dem Gewirr der Wahrheitsvermeidungsstrategien, der Ab­wehr von Erkenntnis- und Selbsterkenntnis, herauszuziehen. Einsamkeit wird zur >Conditio sine qua non< künstlerischen Arbeitens.

ZiTaTOR 1: »Zwischen den Leuten leben heißt: sich fühlen wie ein hin und her gewehtes Blatt. Es kommt das Bedürfnis, sich zu isolieren, dem Determinismus all[…] dieser Billiardkugeln zu entfliehen.«

SPRECHER: Gesellschaft beziehungsweise das Zusammenleben der Menschen überhaupt ist für Pavese ein »Dschungel von Interessen«, in dem selbst der Revolutionär bereit ist, seine Ideale mit Gewalt durchzu­setzen, also demjenigen, der nicht bereit ist, diese Ideale anzunehmen, »den Kopf einzuschlagen«.

Kunst zu schaffen, Literatur, ist aber das Gegenteil der Durchsetzung von Interessen. Das hat Pavese mit erstaunlicher Klarheit bereits als Jugendli­cher gesehen. In einem seiner Briefe an seinen Freund Sturani, der Male­rei studierte, schreibt der Achtzehnjährige:

ZITÄTOR 1: »Kunst ist die Befreiung von einem dem Leben eingebo­renen Egoismus.«

SPRECHER: Diese Auffassung berührt sich mit dem, was Walter Ben­jamin in seinem Trauerspielbuch konstatiert:

ZITATOR 2: »Wahrheit ist nicht ein Meinen im Erkennen, [nicht die Durchsetzung dessen, was man für richtig hält], sondern: Das der Wahr­heit gemäße Verhalten ist ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist der Tod der Intention.«

SPRECHER: Später heißt es dann in der Ästhetische(n) Theorie Ador­nos, die in manchen ihrer Gedankenfiguren von Benjamin inspiriert ist, daß ein Kunstwerk nur da entsteht, wo im Schaffens-Prozeß die Intention des Subjekts transzendiert wird; erst durch diesen Vorgang der Transzen-dierung wird der >Creator< zum Künstler.

Derartige Überlegungen sind für das pavesische Schaffen insofern von Bedeutung, als sich in ihnen ein christologisches, beziehungsweise mes-sianisches Moment verbirgt. Das paulinisch-lutherische >sola fide, sola gratia< – allein durch den Glauben, allein durch die Gnade – läßt sich da­hingehend übersetzen, säkularisieren, daß Glück nicht machbar ist, daß es nicht intentional, also mit Willen und Absicht herbeiführbar ist. Definiert man Glück als die Erfahrung des erfüllten Augenblicks, und diesen Au­genblick als eine Form sich realisierender Ganzheit, dann gelangt man zu einem Begriff von Ewigkeit im Jetzt, zum Begriff einer Mitte der Geschich­te. >Mitte der Geschichte< heißt dann, man blickt nicht beständig nach vorn, nach vom, weil erst in der Zukunft das Ganze sich sukzessiv ereig­nen wird, sondern man blickt zurück – sehr oft in Wehmut -, weil die Erfah­rung des Glücks der Vergangenheit angehört. Ganzheit im Christentum heißt: Jesus Christus ist ganz Mensch und ganz Gott. Und da die Menschwerdung Gottes nur einmal geschieht, wird die Lebenszeit Jesu als Mitte der Geschichte gesehen.

Mehr als die Erfahrung von Ganzheit gibt es nicht, mit der Einschränkung, daß die an den Augenblick gebundene Ewigkeit, wie der Leib Jesu, ver­gänglich ist.

Ästhetik ist partiell, spätestens seit Schellings System des transzendenta­len Idealismus, säkularisierte Christologie. An die Stelle des Glaubens tritt das Kunstschaffen, und an die Stelle der Gnade das Absichtslose, Unwill­kürliche, das dem Künstler in der Hervorbringung des Werks zuteil wird und das Werk – über die Intention des Künstlers hinaus – vollendet. Und weil das Werk dann eine Synthese darstellt, eine Synthese des Bewußten und des Bewußtlosen, des Absichtsvollen und des Intentionslosen, wird die Kunst zum Organon der Geschichte, zu ihrer Mitte. Dieser Gedanke einer Mitte der Geschichte findet sich bei Pavese wieder, zum einen mit Blick auf sein Kunstverständnis und zum anderen hinsicht­lich seines Mythosbegriffs. Mythos und erfüllte Geschichtszeit weisen bei Pavese Gemeinsamkeiten auf.

In einer Gesellschaft, die vom Machtwillen und der Durchsetzung partiku­larer Interessen bestimmt ist, erscheinen die Künstler, die sich dem Wahr­heitsanspruch der Kunst unterwerfen, diesen Wahrheitsanspruch zu ihrer eigenen Sache machen, oftmals als arme Irre; ihr Kunstwerk gewinnt nur dadurch Substanz, daß sie – im Gegensatz zum machtbewußten Politiker oder Wirtschaftsboß, im Gegensatz auch zum Philosophen oder Joumalisten heutiger Prägung -, daß sie auf die eitle Position der Überlegenheit, über den Dingen zu stehen, verzichten. In diesem Sinne artikuliert Pavese für sich die Erfahrung, daß bereits ein Gedicht, damit es gelingt, von ihm Monate des Lebens und Erleidens abfordere. Das Dasein des Künstlers gleicht von daher am ehesten – und hier findet sich eine weitere Parallele zur Christologie – dem Leiden Jesu: Allein »durch Erniedrigung (ist) Er­höhung« möglich. In einem Brief an Augusto Monti, seinen ehemaligen Gymnasial-Lehrer, wird deutlich, wie Pavese persönlich das Handwerk des Schreibens empfindet:

Z1TATOR 1: »(M)eines Erachtens verlangt die Kunst eine so lange Mühsal und Zermürbung des Geistes, ein so unaufhörliches Golgatha von Versuchen, die zumeist scheitern, ehe man zum vollendeten Werk ge­langt, daß sie eher als eine widernatürliche Tätigkeit des Menschen klas­sifiziert werden könnte. (…) Im Gegenteil, wenn diese Seele sich nicht zermürbt und quält und ausquetscht, wenn sie nicht eine lange Reihe von Erfahrungen durchmacht und diese bis zur völligen Absorption wiederholt, wenn sie also, mit anderen Worten, sich nicht durch die Mühsal und Miß­brauch besonderer Haltungen reduziert auf einen Aspekt außerhalb jeder Normalität, [wenn sie nicht] frei von jenem platten Optimismus [ist], den natürliche Gesundheit mit sich bringt, dann wird diese Seele ein nie voll­endetes Kunstwerk zustande bringen. Ich wiederhole: nur und genau unter diesen unmenschlichen oder vielleicht auch übermenschlichen Bedingun­gen und nur durch ein langes Sichabquälen mit Fehlversuchen kann es dem Geist gelingen, jene wunderbaren lebendigen Früchte zu zeitigen, je­ne neuen Geschöpfe_heiyorzu^bnngen2_die dann auf der Wegsind wie_an^ dere Lebewesen.«

SPRECHER: Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn Pave-se einen seiner Gedicht-Zyklen Lavorare stanca nennt: Arbeiten ermüdet, zehrt aus. Wie aus einem Schwindsüchtigen, wie aus Kafkas Hunger­künstler das Leben flieht, so auch aus dem Schriftsteller, der das Leben jedoch durch äußerste Anstrengung im Werk auferstehen läßt. Freilich ist auch diese Sicht ergänzungsbedürftig: Wer Erfahrungen im Schreiben macht, kennt das Glück der Erkenntnis, kennt die Kraft, die ein­zig und allein aus jener Anstrengung hervorgeht, die sich um Genauigkeit, Klarheit und Stringenz des Gedankens bemüht. Die schriftstellerische Tä­tigkeit kann Identität stiften. Schreiben ermöglicht es, Abhängigkeiten, in denen man lebt, zu durchschauen, sie gleichsam auf den Begriff zu brin­gen, einen Begriff, der in der Dichtung Metapher, Bild, Gleichnis, Symbol heißt.

Die divergierenden Wahrheitsansprüche der anderen, das Kräftefeld der Partikularismen und Egozentrismen, jenes Mikadospiel der Realität, in dem jedes Stäbchen schreit, du mußt dich nach mir richten, du mußt dich mir unterwerfen, Partikularelemente eben, die den Einzelnen nach allen Seiten hin aus der Balance reißen, sie kann man im Schreiben durchdrin­gen-, Indem man diese Ansprüche nach Wahrheit und Unwahrheit schei­det, differenziert, benennt. Es handelt sich um die uralte Menschheitserfahrung, Kräfte des Unheils dadurch zu bannen, daß man ihren Namen ausspricht.

Schreiben ist Protest gegen krankmachende Diffusion, Schreiben ist Wi­derstand gegen Über-Ich-Instanzen, die einander herrisch widersprechen. In der geistigen und künstlerischen Arbeit wird es möglich, einzelne, un­terschiedliche und oft widersprüchliche Erfahrungen, Erfahrungen, die man in Verbindung mit anderen macht, in den Prozeß der Selbstwerdung zu integrieren. Es genügt also nicht, wenn man darunter leidet, »ein hin und her gewehtes Blatt« zu sein, sich durch Einsamkeit dem Determi­nismus der Billiardkugeln zu entziehen, sondern man muß diese Einsam­keit als Mittel nutzen: Also in ihr nicht einen Selbstzweck sehen, um so aus der Distanz zu gestalten, was im unmittelbaren Darin- und Dabeisein nicht möglich wäre. Der Künstler, der seiner Kunst ohne Erfahrungen kei­nen Inhalt verleihen kann, bedarf der anderen, sonst bleibt er leer, welt­leer; und er muß dennoch zu diesen anderen auf Distanz gehen, um seine Erfahrungen in Kunst verwandeln zu können. Jeder Gestaltungsprozeß ist in sich gleichsam konträr: er beinhaltet Vertiefung und Ablösung, genauer gesagt, er stellt eine Ablösung durch Vertiefung dar. Und dieser Umstand bestimmt die Position des Künstlers als Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Existenzweisen, zwischen Nähe und Ferne, zwi­schen dem Darinsein und dem sich Hinausarbeiten, zwischen Frosch- und Vogelperspektive. Der Künstler mag noch so sehr von Reinheit träumen, davon, frei zu sein von aller Erdenschwere: dem Künstler gelingt es nicht, selbst wenn er vom Frosch zum Vogel würde, im Flug das Gewirr des Sumpfes, aus dem er kommt, gänzlich abzuschütteln. Von allen Künsten ist die schriftstellerische Arbeit der begrifflichen Refle­xion am nächsten: Aber Menschen, die das bloße Dahinleben der anderen reflektieren, die Nachdenklichen also, die sich im Strom der Selbstverges­senen nicht schmerzlos mittreiben lassen können, werden oft als störend empfunden, als Vivisektionisten, als solche, die ihre Mitmenschen bei le­bendigem Leibe sezieren. Nicht allezeit mitzumachen, nicht ein- und un­terzutauchen ins Alltägliche und Übliche, nicht so zu sein wie alle, wird als Schuld hingestellt. Spannungen, die ein Schriftsteller ohnehin auszuhalten hat, werden so noch verstärkt, Spannungen, ob der ewigen Wiederkehr des Gleichen: Denn die Menschen ändern sich nicht! Diese Spannungen sind unabhängig von Regierungs- und Wirtschaftsfor­men, sie sind unabhängig von Ländern und Zeiten, verschärfen sich aller­dings aufs äußerste, wenn Geistfeindschaft zum Dogma wird, wenn Dik­taturen kritisches Denken verbieten und freie Meinungsäußerung unter Strafe, ja unter Todesstrafe gestellt wird.

Die italienischen Faschisten, obwohl brutal und mörderisch, besaßen im Vergleich zu dem unbedingten Fanatismus der deutschen Nazis noch ei­nen Rest an … – und hier komme ich ins Stocken, denn von einem Rest an Humanität zu reden, scheue ich mich: dieses andere in Italien bestand – im Vergleich zur Hitlerdiktatur – in folgendem: Man ließ Pavese am Leben und schickte ihn 1935 nur in die Verbannung, das heißt, man verurteilte ihn dazu, sich drei Jahre im kalabresischen Brancaleone aufzuhalten. Die­se Region an der Stiefelspitze Italiens, beschreibt Burton Anderson, der ein Buch über Italiens Weine verfaßt hat, so:

ZiTÄTOR 2: »Kalabrien hat hinter seinen Bergen stets in glücklicher Abgeschiedenheit gelebt.«

SPRECHER: Ein fragwürdiger Euphemismus, den vielleicht ein Tourist äußern kann, fragwürdig vor allem dieses >stets<: Denn Pavese hat sich in dem Küstenort Brancaleone keineswegs glücklich gefühlt; er hat auch nicht wie ein großstadtmüder Feriengast die Landschaft genossen, die Berge oder das Flimmern des Lichts auf den sich kräuselnden Wellen des Wassers; Cesare Pavese hat unter der Abgeschiedenheit im kalabresi­schen Brancaleone gelitten. Das Ionische Meer vermittelte ihm nicht das Gefühl von Weite; das Meer war für ihn vielmehr die vierte, graue Wand eines Gefängnisses, das er nicht verlassen durfte. Und die klaffende Wunde seines Leidens in der Verbannung war sein Verhältnis zu seiner ersten und wohl auch einzigen großen Liebe seines Lebens, zu Tina, de­ren Name in den biografischen Texten von und über Pavese jahrzehnte­lang nicht ausgesprochen wurde. Die Biografie von Lajolo spricht nur von »der Frau mit der rauhen Stimme«, und die deutsche Erstausgabe des Tagebuches in der Übersetzung von Charlotte Birnbaum spricht nur von ihr als >sie< – in Anführungszeichen. Grund seines Leidens war die Ferne von Tina und die Sehnsucht nach ihr. Dies wird deutlich in Paveses Briefen an seine Schwester:

Z1TATQR 1:

Liebe Maria,

wann hörst Du auf, so zu tun, als ob Du meine Briefe nicht erhieltest, in denen ich Dich danach fragte, ob Du Nachricht von ihr hast, eine Nach­richt über sie und sonst nichts (…).

Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, weil ich ein wenig eifersüchtig war- (…) -, und ich damals noch nicht wußte, daß fern von ihr zu sein an mir zehren würde wie ein Hai oder ein Krebs. (…) Es war damals vollkommen idiotisch von mir zu glauben, daß Isolation -und dauere sie nur einen Moment – ein Segen sei. Wenn sie, wie ich es tue, fühlen würde, wie die Distanz zur Qual wird, eine Distanz, die schmerzt, wie der Biß eines Verhungernden (…), dann würde sie mir schreiben.

Liebe Maria,

ich hoffe, Du hast mittlerweile ein Exemplar meines Gedichtbandes La-vorare stanca (…) erhalten und meine drei Briefe, welche meine   Kreuzi­gung dokumentieren, eine Kreuzigung, von der ich mich immer noch nicht ganz erholt habe.« SPRECHER: Die Ferne zu Tina ist das Kreuz; die Einsamkeit ist für Pa-

vese so unerträglich, daß er nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist. Dieses Gefühl von Selbstverlust führt dazu, daß er sich berühren muß, um sich noch selbst zu spüren:

ZITÄTOR 1:

»Liebe Maria,

wenn ein Mann Briefe statt Poesie verfaßt, dann ist er erledigt. Ich ziehe mich aus, um ins Bett zu gehen, und ich habe Mitleid mit mei­nem nackten Körper, der noch so jung ist und schön – und so allein. (…) Ich berühre den Leberfleck auf meiner Wange, um mich meiner eige­nen Identität zu vergewissern.«

SPRECHER: In anderen Briefen, die er 1935 an Freunde schrieb, ist der Grundton ebenfalls zutiefst melancholisch, man könnte die Melodie auch beckettianisch nennen: morgens erwacht er mit stechenden Schmer­zen, dem Schmerz der Einsamkeit; sein Wachsein gleicht einem Zustand nervöser Anspannung, nervöser Angst; sein Zimmer ist feucht und voll von Kakerlaken, das Bett nachts extrem klamm. Brancaleone, dieser Verban­nungs-Ort, er kommt ihm vor wie das Ende der Welt: Er möchte nur noch auf den Tod warten.

Weil Tina für Pavese das Absolute ist, ist alles andere – ohne ihre Anwe­senheit – wertlos. Erst durch eine erwiderte, erfüllte Liebe erhalten bei Pa­vese die Dinge dieser Welt, erhält alles einzelne einen Sinn. Ohne Liebe – dominiert das Absurde!

In einem Brief an einen ehemaligen Schulkameraden beklagt sich Pavese über sein Schicksal und beschwert sich über die Ungerechtigkeit als kon-stitutiv für die Schöpfung Gottes:

ZiTATOR 1: »Das Hauptmerkmal unseres Ewigen Vaters ist der Man­gel an Feingefühl … Zum Beispiel: Es gibt Menschen, die haben unentwegt nur Pech. >Würden sie, um ihrem Unglück zu entgehen, den Beruf des Hutverkäufers ergreifen, würde Gott nachziehen, und dafür sorgen, daß fortan die Menschen ohne Kopf geboren werden<. Andererseits hat der Ewige Vater solche geschaffen, bei denen nichts schiefgehen kann: Zunächst stattet er sie mit Schönheit aus, mit einem fröhlichen Gemüt und mit Intelligenz, und dann läßt er sie die Lotterie ge­winnen. Auf diese Weise wird der Gerechtigkeit genüge getan. Gott hat sogar den Teufe! erfunden, um ihm seinen Pfusch an der Schöpfung in die Schuhe schieben zu können.«

SPRECHER: Wer wie Pavese zutiefst unglücklich ist und Gott derart anklagt, wer das Schaffen von Literatur, also das Schreiben, als Kalvari-enberg empfindet, wer die Erfahrung macht, daß ihm die künstlerische Tä­tigkeit nicht dazu verhilft, das Leben partiell besser zu ertragen, dem ist auch nicht mit einem Hinweis auf die Theodizee zu helfen, der zufolge Leiden prinzipiell sinnvoll ist, sinnvoll, weil es dem Menschen Tiefe, Er­kenntnis und Weisheit verleiht. Denn: Was nützt solche Erkenntnis, wenn sie nur zur Einsicht in die eigene Ohnmacht gegenüber den Mächten des Leidens führt – und eine dieser Mächte ist »die Frau mit der heiseren Stimme«.

Durch Intervention wurde Pavese – noch vor Ablauf eines Jahres – der Rest seiner Verbannungs-Strafe erlassen: Er durfte im März 1936 nach Turin zurückkehren. Sein Freund Sturani holt ihn vom Bahnhof ab, und das erste, was Pavese fragt, ist:

ZITATOR 1: »Wo ist (Tina)?«

SPRECHER: Sturani antwortet ihm:

ZITATOR 2: »Vergiß sie! Sie hat gestern morgen geheiratet.«

SPRECHER: Cesare Pavese, der voller Hoffnung und Zuversicht in den Norden, nach Turin zurückkehrt, erfährt so lapidar die wohl größte Enttäu­schung seines Lebens – er fällt erst einmal in Ohnmacht. Noch in Brancaleone, am 28. Februar 1936, vermerkte Pavese in seinem Tagebuch:

ZITATOR 1: »Wie hat sie mich verletzt? Da war jener Tag, sie hob den Arm und winkte jemandem auf der anderen Straßenseite zu. Der Tag, als niemand kam, mir die Tür zu öffnen, und dann erschien sie mit wirrem Haar. Der Tag, als sie zu ihm leise, flüsternd sprach auf der Böschung. Die tausend Male, die sie mich hin und her taumeln ließ. Doch dies hat nichts mit Ästhetik zu tun, sondern mit Kummer und Schmerz. Ich wollte all die Erinnerungen an die glücklichen Momente aufzählen – und erinnere mich nur an Kümmernisse.

Nun ja, auch sie erfüllen den selben Zweck. Meine Geschichte von ihr be­steht also nicht aus dramatischen Szenen, sondern aus Augenblicken zartester Wahrnehmungen. So sollte Dichtung beschaffen sein. (Die klei­nen, sensiblen Wahrnehmungen.) Aber es ist Agonie.« SPRECHER: Siebenundzwanzig Tage später versucht Pavese sich im Tagebuch Rechenschaft zu geben: Er zieht Bilanz über seine eigene Person; solche Bilanzierung findet sich bereits in seiner Jugend und auch in späteren Jahren, sie ist gleichsam eine leitmotivische Tätigkeit seines Le­bens,

Z1TÄTOR 1: »10. April 1936:

Wenn ein Mensch in meinem Zustand ist, bleibt ihm nichts (anderes) üb­rig, als (eine) Gewissensprüfung anzustellen. Ich habe keinerlei Grund, meine fixe Idee zurückzuweisen, daß alles, was einem Menschen wider­fährt, bedingt ist in seiner ganzen Vergangenheit; kurz, es ist verdient. Offensichtlich habe ich mich ziemlich töricht aufgeführt, so daß ich mich nun an diesem Punkt befinde.

Vor allem: moralische Leichtfertigkeit. Habe ich mir jemals die Frage ge­stellt, was ich meinem Gewissen nach tun muß? Ich bin immer gefühls­mäßigen, hedonistischen Antrieben gefolgt. Darüber gibt es keinen Zwei­fel. Sogar mein Weiberhaß (in den Jahren 1930 bis 1934) war ein wollü-stig-genießendes Prinzip (…).

Und auch was die Arbeit anbelangt: war ich darin jemals etwas anderes als ein Hedonist? Ich gefiel mir in der sprunghaft fiebrigen Arbeit, im Schwung des Ehrgeizes, aber ich hatte Angst, Angst, mich zu binden. Ich habe nie wirklich gearbeitet; ich verstehe in der Tat kein Handwerk. Und auch ein anderer Makel ist klar zu sehen. Ich bin nie der einfache, nicht reflektierende Mensch gewesen, der seine Freuden genießt und auf alles übrige pfeift. Dazu bin ich zu feige. Ich habe mir immer mit der Illusion ge­schmeichelt, ich empfände das Moralische im Leben, wenn ich köstliche Augenblicke – das ist das richtige Wort – damit hinbrachte, mir Gewis­sensfragen zu stellen, auch ohne daß ich mich dazu entschlossen hätte, sie in Tätigkeit umzuschmelzen. Um nicht die heimliche Lust ans Licht zu ziehen, die ich früher in der moralischen Erniedrigung und Demütigung in ästhetischer Absicht empfand, wobei ich auf eine Genie-Laufbahn hoffte! Und diese Zeit habe ich schließlich noch nicht überwunden.«

SPRECHER: Pavese war seit frühester Jugend davon überzeugt, Dichter zu werden, Werke zu schaffen, die seine Zeit, seine Epoche über­dauern werden; an Selbstvertrauen hat es ihm in dieser Hinsicht nicht ge­mangelt; doch, um dieses Ziel zu erreichen, das war ihm bewußt, würde es unausweichlich sein, durch Leiden hindurchzugehen. Das Leiden aber birgt die Gefahr, sich darin zu verlieren, es birgt das Risiko, nicht mehr aus der Leiderfahrung hinauszugelangen; genauer gesagt, in den Phasen der Demütigung, des Kleinseins, der Ohnmacht, kann sich das Gefühl verfe­stigen, dem vernichtenden Zirkel nicht mehr zu entkommen. Und wer glaubt, durch künstlerische Verarbeitung des Unglücks die Wand seiner Gefängniszelle zu durchstoßen, der landet doch nur, wie der polnische Aphoristiker Jerzy Lee [sprich: Letz!] es sieht, in der Nachbarzelle. Mit anderen Worten: Im Gegensatz etwa zu Zola, der soziale Verhältnisse von außen – wie ein Wissenschaftler – studierte, um sie dann darstellen zu können, gehört Pavese zu jenen Künstlern, die durchleben und durchlei­den müssen, was dann den Gegenstand ihrer Kunst ausmacht. Je tiefer etwas erlitten wird, um so gehaltvoller das Werk: Das heißt, den Abgrund ausloten, jenen >maelstrom< des Edgar Allen Poe, um wirklich zu wissen, wovon man spricht. Das war dje Theodizee des Cesare Pavese: Diese Theodizee konnte für ihn nur so lange tragend sein, als er glaubte, durch Dichtung lebensfähig zu werden – so wie die meisten Menschen, die des­halb heiraten, eine Familie gründen, Vater und Mutter werden, um so ihre gesellschaftlich anerkannte biologische Bestimmung als nicht festgestellte Säugetiere, als Fortpflanzer der menschlichen Gattung zu erfüllen. Doch die Tagebucheintragung vom 10. April 1936 geht weiter: Pavese kommt auf die Möglichkeit des Selbstmordes zu sprechen. Er stellt sich vor, daß sein Zustand moralischer Demütigung auch äußerlich sichtbar sein müßte, dergestalt, daß er wie ein Bettler mit zerrissenen Schuhen herumläuft, und er nennt dies sein »gegenwärtiges Selbstmörder-Leben«:

ZITÄTOR 1: »(l)ch weiß, daß ich dazu verdammt bin, angesichts jeden Hindernisses oder Schmerzes an den Selbstmord zu denken. Dies ist es, was mich erschreckt: mein Prinzip ist der Selbstmord, der nie vollzogene, den ich auch nie vollziehen werde, der aber meiner Empfindsamkeit schmeichelt.

Das Schreckliche ist, daß alles, was mir bleibt, jetzt nicht genügt, mich aufzurichten, weil ich in dem gleichen Zustand – einmal abgesehen davon, verraten worden zu sein – schon früher gewesen bin. Und schon damals habe ich keine moralische Erlösung, keine Rettung gefunden. Auch dieses Mal werde ich nicht stark genug sein – so viel ist klar.

Und doch (…) hatte ich den Weg der Rettung gefunden. Und mit all der Schwäche, die in mir war, wußte mich jene Person an Disziplin zu binden, an ein Opfer – durch das simple Geschenk ihrer selbst. (Indem sie ganz einfach für mich da war), versetzte sie mich in den Stand intuitiver Wahrnehmung neuer Pflichten, verkörperte sie (diese Pflichten) vor meinen Augen. Denn mir selbst überlassen – das hat mir die Erfah­rung gezeigt – bin ich sicher, im Hinblick auf diese Pflichten zu versagen. Mit ihrem Fleisch und ihrem Schicksal vereint, hätte ich Erfolg gehabt. Dessen bin ich mir gleichermaßen sicher. Ich bin (für mich allein) ein Feig­ling; sie (hingegen) wäre mir ein Ansporn gewesen. (…)

Ich hatte ein Liebesabenteuer, bei dem ich verurteilt und für unwürdig be­funden wurde, es fortzusetzen. Angesichts dieses Debakels ist meine Trauer […] darüber, das Liebste verloren zu haben, absolut nichts. Das Bewußtsein dieses Unglücks vermengt sich in meinem Kopf mit den schweren Schicksalsschlägen, die mir seit 1934 nicht mehr widerfahren sind. Weg mit der Ästhetik, […] fort mit dem Genius, hinfort mit all dem Un­sinn. War das, was ich bisher in meinem Leben getan habe, je etwas an­deres als die Handlung eines Narren?

Eines Narren im banalsten und irreparabelsten Sinn; ein Mann, der nicht zu leben weiß, der sich in moralischer Hinsicht nicht entwickelt hat, der leichtfertig ist, der sich mit der Krücke Selbstmord aufrecht hält, aber ihn nicht vollzieht.«

SPRECHER: Vom Lebensende Paveses im August 1950 her gesehen, muß man hinzufügen: Er vollzieht, achtundzwanzig Jahre jung, den Selbstmord noch nicht, denn er hatte – außer einigen Übersetzungen und dem Gedichtband Lavorare stanca – seine schriftstellerische Arbeit noch gar nicht recht begonnen.

In den Jahren 1936 bis 1938, also nach seiner traumatischen Verban-nungs- und Tina-Erfahrung, schreibt er unter anderem eine Reihe von Er­zählungen, die – in chronologischer Reihenfolge gesehen – mit einer Ge­schichte über die Verbannung beginnen: Terra d’esilio. Schon die Titel ei­niger dieser kurzen Prosawerke sind bezeichnend: Weiberhaß, Erste Lie­be, Die Selbstmörder, Treue.

Die Geschlechterbeziehung und die Geschlechterspannung wird zum zentralen Motiv des pavesischen Schreibens, genauer gesagt, die Un­möglichkeit gelingender, dauerhafter, glücklicher Beziehungen wird zu seinem Generalthema. Ratschläge wie dieser sind da zu lesen:

ZITATOR 1: »Wenn sie ein Mädchen haben, machen sie ihr ein Kind. Es ist die einzige Art, sie zu halten.«

SPRECHER: Ein Mann in der Verbannung klagt:

ZITATOR1: »Frauen sind Luder. Ich bin hier und mach den Mönch, und die dort läßt sich schaukeln.«

SPRECHER: Die Frau, von der in der Erzählung die Rede ist, geht fremd, läßt den Verbannten, einen Arbeiter aus Turin, sitzen, und wird von ihrem neuen Liebhaber, einem Kollegen des Arbeiters, aus Eifersucht er­mordet.

In einer anderen Erzählung wird ein Junge, der als Gehilfe in einer Buch­handlung arbeitet, gewarnt:

ZITATQR 1: »Vielen tun (die Frauen) Schlimmes an. Denke daran, daß zu jedem Mann nur eine einzige Frau paßt, und nicht immer kann man sie finden.«

SPRECHER: Zwar wird differenzierend hinzugefügt, daß diese Sicht den Frauen gegenüber ungerecht sei, da auch sie von Männern mißhan­delt werden; aber Pavese scheint sich darauf zu versteifen, daß Frauen sich keine liebevollen, einfühlsamen Männer suchen, womit er möglicher­weise auch sich selbst meint, sondern daß viele Frauen gerade solche Männer suchen, von denen sie mißhandelt werden, damit sie dann um so besser darüber jammern können, daß es ihnen schlecht geht:

ZITATOR 1: »(l)ch würde mich nicht wundem, wenn ihr gerade die schlechte Behandlung, über die sie sich so beklagt, Spaß machte; wahr­scheinlich tobt sie sich mit so etwas aus.«

SPRECHER: Akteure der Erzählungen sind überwiegend Menschen aus dem Volk, einfache Leute – und das ermöglicht Pavese, ihnen die gängigsten Vorurteile über Frauen in den Mund zu legen, um seinen, wie er es selber nennt, Weiber-Haß abzureagieren. Solchen Macho-Weisheiten steht dann wiederum die Fähigkeit Paveses gegenüber, sich im Medium poetischer, zärtlicher Sprache in die Probleme von Frauen einzufühlen. Diese Einfühlsamkeit entspricht Paveses selbstkritisches Ver­mögen, sich nicht nur als Opfer weiblichen Verrats und weiblicher Unzu­länglichkeiten zu sehen, sondern er begreift sich auch als Täter, als einer, der sich letztlich nicht zu binden vermag, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht.

Daß Pavese sich darum bemüht, die Ursachen für sein Leiden an der Ein­samkeit, am Junggesellendasein, nicht zu personifizieren, wird an einer Tagebuch-Eintragung deutlich, die er fünf Monate vor seinem Tod, am 25. März 1950 notiert:

ZITATOR 1: »Man tötet sich nicht aus Liebe für eine Frau. Man tötet sich, weil eine Liebe, irgend eine Liebe, uns in unserer Nacktheit enthüllt, in unserem Elend, unserer Wehrlosigkeit, unserem Nichts.«

SPRECHER: Nirgendwo sonst als in einer nicht erwiderten Liebe wird den Menschen ihre ungeheuere Bedürftigkeit, ihre Grenze bewußt, denn die Liebe eines anderen Menschen entzieht sich kausaler Verfügbarkeit. In. diesem Sinne gleicht vielleicht der Augenblick, in dem Liebe unverhofft auf Liebe trifft, der messianischen Geschichtszeit, der sich ereignenden Realität des Unverfügbaren.

Pavese erweckt in vielem, was er schreibt, den Eindruck, er leide unend­lich an der Einsamkeit: Doch all sein Kummer, all das Zehrende des Al­leinseins wäre vorbei, mit einem Schlag beendet, wenn eine Frau bei ihm bliebe, ihm sagte, du, du bist mein Mann. Aber diese Vorstellung be­leuchtet nur die eine Seite der ambivaienten Haltung Paveses gegenüber einer festen menschlichen Bindung. Verena Lenzen weist in ihrem Pavese-Buch zu Recht darauf hin, daß die Ambivalenz des Schriftstellers, zwar allein, aber nicht einsam sein zu wollen, für die möglichen Partnerinnen eine Zumutung war.

Die Erzählung Ende August läßt erahnen, daß Pavese seinen Frauen, al­so den Frauen, mit denen er nach Tina zusammen war, das Gefühl ver­mittelt haben muß, ihnen entrückt zu existieren, das heißt, zwar da zu sein, aber doch woanders, ja, sogar woanders hin zu streben: Ein Gefühl, daß nicht nur für Frauen mehr als kränkend sein kann. Viele Menschen haben wohl schon erlebt, daß man in Momenten größter Nähe und Intimität gedanklich und vielleicht auch gefühlsmäßig von dem geliebten Menschen abrückt, für eine kurze Weile sich von ihm entfernt -daß man diese Selbsterfahrung aber verschweigt und nie darüber spricht, um den anderen nicht zu verletzen. Und obwohl man darüber schweigt, wird diese Distanzierung doch bemerkt.

Eine solche Szene beschreibt Pavese in Ende August, eine Szene, der man noch eine Erklärung voranstellen muß, um ihre Bedeutung im Kontext des pavesischen Denkens deutlich zu machen, eines Denkens, das oft genug den Charakter einer >self-fulfilling prophecy< hat, also bewirkt, was es annimmt.

Pavese hat eine Theorie des Mythos entwickelt, die er auf seine persönli­chen Naturerfahrungen, auf die von ihm geliebte Landschaft des Piemont appliziert. Charakteristisch für sein gesamtes literarisches Schaffen ist die poetische Vergegenwärtigung der Aura, der Atmosphäre eines Ortes: der Duft von Blüten, von verwelkendem Laub, die Hitze eines Sommertages, der Geruch von reifem Weizen, der Hauch des Windes, der Fäulnisgeruch eines stehenden Tümpels.

Pavese, der seine Kindheit auf dem Land verbrachte, entdeckt mit zuneh­menden Alter den Wert der primären Eindrücke und Erfahrungen. Für ihn ist evident: Wenn man einer Sache zum ersten Mal begegnet, gibt es kei­ne bewußte Wahrnehmung; bewußt wird die Intensität eines Erlebnisses aus früheren Jahren erst in der Erinnerung. Das erste Mal eröffnet sich al­so erst beim zweiten Mal, im Medium der Erinnerung: Der Ort, an dem sich solch intensives Erleben ereignete, wird für Pavese zu einer Art heiligem Ort: In diesem Erleben »bleibt die Zeit stehen, einen schwindelerregenden Augenblick lang«. Der Gegenstand, der die Emp­findung auslöst, so Pavese, »drückt das Göttliche nichfaus, sondern (er) ist es (selbst), er ist ein >metaphysisch Wahres<«. Paveses Suche nach dem Unbedingten, nach dem Ergriffensein durch ein Absolutes, also nach etwas, das von außen kommend das Innere des Menschen in einen erregenden Zustand des Glücks versetzt, diese Suche Paveses wendet sich der Natur beziehungsweise den Eindrücken seiner Kindheit zu: einer Scheune, dem Geruch nach Heu, dem Licht, das durch Ritzen fällt.

In der Erinnerung an primäre Erlebnisse offenbart sich das Wunderbare, das Unbedingte in endlicher Gestalt. Seine säkularisierte Christologie richtet sich auf den heiligen Ort und den heiligen Moment, auf den letztlich der Zeit enthobenen Augenblick. Pavese bindet jedoch dieses Heilige be­ziehungsweise Mythische an das Postulat rationaler Durchdringung.

ZITÄTOR 1: »Aus der frühen Kindheit, aus den Augenblicken der ent­scheidenden Berührung mit den Dingen und der Welt, in denen der Mensch noch unvorbereitet, ergriffen und aufnahmebereit ist, aus allen je­nen >ersten Malen<, die sich jeder Ratio entziehen, aus den Morgenstun­den unseres Lebens, in denen sich in unserem Bewußtsein ein Bild, ein Idol geprägt hat und uns angesichts des Gestaltlosen ein ahnendes Beben überlief, überkommt uns wie aus einem Strudel oder einer weit geöffneten Tür ein Taumel, ein Vorgeschmack der Verzückung, das Versprechen, daß uns Erkenntnis zuteil werden wird. Eine Eigentümlichkeit dieser Emp­findung ist es, daß sie in der Zeit verharrt, daß wir in ihr mit jedem Mal je­nes erste Mal wie neu nacherleben (…).

Sich der Kontemplation und dem Nachvollzug eines solchen Augenblicks hinzugeben, heißt, aus der Zeit heraustreten, ein metaphysisch Absolutes streifen, eine Sphäre betreten, in der unter Mühen und Qualen ein Keim gepflegt wird, der seine Unbeweglichkeit nur verliert, um etwas anderes zu werden, nämlich bewußte Dichtung, durchdachte Idee, veranwortliches Handeln, kurz, Geschichte.

Mythisch nennen wir daher diesen Frühzustand und Mythen die verschie­denen Bilder, die für jeden von uns immer gleichbleibend in der Tiefe un­seres Bewußtseins aufblitzen. Sie leben, weil sie bisher noch nicht in poetischem oder klarem rationalem Ausdruck aufgelöst worden sind, strahlen aber so viel Leben, so viel Wärme, so viel Hoffnung auf Licht aus, daß sie wie Leuchtfeuer (…) (für) unser (…) Bewußtsein wirken. (…) (E)in Dichter (tut nichts) anderes, als ständig über diese seine Mythen nachzugrübeln, um sie in ein klares Bild und in eine dem Mitmenschen zugängliche Formulierung aufzulösen? Diese Mythen, an die man glauben muß (…), haben nämlich die dämonische Eigenschaft, uns durch die Er­fahrung eines einzigartigen, unauflösbaren Absoluten zu verzaubern, gleichzeitig aber unser Bewußtsein zu quälen wie ein wichtiges Wort, an das man sich nur halb erinnert, und unseren Geist zur Aufbietung all(..) seiner Kräfte zu zwingen, um sie aufzuhellen, zu definieren und ganz in unseren Besitz zu bringen. Besitzen aber heißt zerstören (…). Diese Zer­störung ist (…) eine Verwandlung, die den Mythos entweiht und ihm seine Einzigartigkeit und seine geheimnisvolle Macht als geglaubtes Symbol nimmt. Der Dichtung gewordene Mythos verliert seine religiöse Glorie, und wenn er darüber hinaus auch noch theoretische Erkenntnis (>menschliche Philosophie<) wird, ist der Prozeß abgeschlossen.«

SPRECHER: Cesare Pavese, von den Frauen, von den Menschen, von der Politik ohnehin enttäuscht, sucht nach anderen Quellen der Verzaube­rung des Ich: Es ist die Natur, es sind die Erlebnisse seiner Kindheit, zu denen er Zuflucht nimmt; in ihnen hofft er jene Entgrenzung seiner selbst, jene Partizipation am Absoluten zu finden, die ihn von sich selbst als einer isolierten, einsamen Monade befreien soll.

Pavese wäre aber kein rational denkender Analytiker gewesen, hätte er den Mythos in einem restaurativen Sinn für die eigene Glücksuche funk-tionalisiert: Hellsichtig nimmt Pavese die kritische Arbeit am Mythos vor­weg, die nach 1945 in Europa einsetzt und mit der sich unter anderem Namen wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Klaus Heinrich oder Roland Barthes im Bereich der Philosophie und Namen wie Peter Stein und Ariane Mnouchkine im Bereich des Theaters verbinden lassen. Die eigenen Mythen, so Pavese, sollen nicht dazu dienen, das Ich in Watte zu packen, um so nur narzißtische Bedürfnisse zu befriedigen, sondern der Mythos soll im Medium begrifflicher beziehungsweise dichterischer An­strengung durchdrungen und so aufgehoben werden. Genauer gesagt, die Auflösungsbestrebungen geben nur die Richtung an, in der die Anstren­gungen des Schriftstellers sich bewegen sollen: Gleichsam ambivalent soll er das Unauflösbare, den Zauber, auflösen und doch.nicht auflösen. Es ist ein Entzauberungs- und Wiederverzauberungsprogramm in Einem. Dies ist nur ein Minimum dessen, was man zu Paveses Mythosbegriff an­merken muß, um Mißverständnissen vorzubeugen, um Pavese weder als Rationalisten noch als Irrationalisten zu stigmatisieren; dem aufmerksa­men Leser seiner Werke entgehen nicht die Parallelen zu Adornos Ver­hältnisbestimmung von Mimesis und Rationalität, die sich in dessen >Ein-leitung< zur Negativen Dialektik und in seiner Ästhetische[n] Theorie fin­den lassen.

Der Grund also, warum ich im Zusammenhang der pavesischen Suche nach Erlösung durch eine Frau auf den Mythos zu sprechen komme, liegt in zweierlei: Zum einen spielen in Paveses Werk die hier vorgestellten Gedanken über die verzaubernde Kraft der Natur im Medium der Erinne­rung eine zentrale Rolle und zum anderen kollidieren diese Vorstellungen eminent mit der Sehnsucht, in der Vereinigung mit einer Frau Rettung vom Alptraum der Einsamkeit zu finden.

Gerade eine solche Kollision wird in der nur drei Seiten umfassenden Er­zählung Ende August ausgesprochen:

Der Ich-Erzähler verbringt die spätsommerlichen Tage mit Clara, die ihn liebt; doch plötzlich überwältigt ihn eine Kindheitserinnerung und er rückt innerlich von Clara ab:

Z1TÄTOR 1: »In einer Augustnacht bummelten wir langsam den Geh­steig entlang (…). Es war eine der Nächte, in denen ein lauwarmer, hefti­ger Wind weht. Immer wieder fächelte er einem zärtlich das Gesicht, er drückte an Wangen und Lippen Wellen von Duft (…). Damals waren (Clara) und ich nahezu glücklich (…); wir lagen lange Stun­den nebeneinander, bevor wir einschliefen. Clara hat für alles Verständnis, und damals hatte sie mich gern; auch ich hatte sie gern, wir brauchten es uns nicht erst zu sagen. Und doch weiß ich jetzt, daß unser Unglück in je­ner Nacht begann. (…)

Jener nächtliche Wirbelwind hatte mir (…) eine weit zurückliegende Freude wieder unter die Haut, in die Nase getrieben, eine dieser einfachen Erinnerungen, die geheim sind wie unser Körper, die mit ihm (…) von Kindheit an fest verwachsen sind. (…)

In meinen Kindheitserinnerungen ist etwas, was die leibliche Zärtlichkeit einer Frau, und sei es Clara, nicht duldet. In jenen Sommermonaten – sie haben nun in der Erinnerung eine einzige Farbe – schlummern Augenblik-ke, die von einer Empfindung (…) plötzlich wieder entzündet werden kön­nen (…); ich kann kaum glauben, daß ich in einer entschwundenen, fast schon abgetanen Zeit so viel Freude wiederfinde. Ein Junge – war das ich? – blieb nachts am Ufer des Meeres stehen, unter der Musik und den un­wirklichen Lichtern des Cafes, und roch den Wind; nicht den gewohnten Seewind, sondern einen plötzlichen, kurzen Windstoß, der den Duft von exotischen, von der Sonne verbrannten Blumen mitbrachte, zum Tasten nahe. Jener Knabe könnte existieren ohne mich; und er existierte tatsäch­lich >ohne mich<, er wußte nicht, daß seine Freude nach so vielen Jahren (…) in einem anderen, einem Mann wiederauftauchen würde. Aber ein Mann setzt eine Frau voraus, die Frau; ein Mann kennt den Körper einer Frau, ein Mann muß eine Frau umarmen, liebkosen, pressen, eine jener Frauen, die, dunkelbraungebrannt, unter den Lampions der Cafes am Meer getanzt haben. Der Mann und der Junge kennen sich nicht und su­chen sich, sie leben zusammen und wissen es nicht, und wenn sie einan­der wiederfinden, haben sie das Bedürfnis, allein zu sein. Clara, die Ärmste, war in jener Nacht so zärtlich zu mir wie immer. Viel­leicht noch zärtlicher, denn auch sie hatte ihre Bosheiten. Wir spielen manchmal: zwischen uns das Geheimnis aufrichten, ahnen, daß jeder für den anderen ein Fremder ist, und so der Eintönigkeit entfliehen. Aber nun konnte ich ihr nicht mehr verzeihen, daß sie eine Frau ist, eine, die den weit zurückliegenden Geschmack des Windes in den Geschmack von Fleisch verwandelt.«

SPRECHER: Dieses Nacherleben kindlicher Verzückung des jungen Cesare gewinnt in der Realität des erwachsenen Mannes Pavese eine derartige Macht, sie wird so intensiv, daß er Clara, die Frau, die ihn liebt, von sich abrückt, sie gleichsam impulsiv zurückstößt. Er nimmt ihr übel, daß sie den Geschmack des Windes, den der Knabe erlebte, in den Ge­schmack des Fleisches verwandelt.

Für Pavese bleibt ein fundamentaler Widerspruch in seinem Leben zu konstatieren, ein Widerspruch zwischen mindestens zwei einander sich ausschließender Verabsolutierungen; er vermochte sie weder durch poeti­sche noch durch theoretische Erkenntnis aufzulösen: Die Liebe einer Frau und die Liebe zum Knaben im Manne, die nahezu mit Sprengsätzen be­stückte Liebe zweier unterschiedlicher Daseinsformen des Menschen, der kindlichen und der erwachsenen Gestalt des Lebens. In seiner Wüsten­einsamkeit sehnt sich Pavese nach einer Frau, nach einem Körper, nach Liebe, nach Zärtlichkeit, doch kaum besitzt er, wovon er so intensiv träumt, dürstet seine Seele wieder nach jener Einsamkeit, die jene Erinnerung an den Duft der Kindheit in ihm heraufbeschwört, jenen fast primordialen, pa­radiesischen Universalzustand.

Hätte man Pavese zu seinen Lebzeiten, etwa als Freund, wegen seiner inneren Widersprüche kritisieren wollen, hätte das kaum geholfen; er war sich ihrer selber nur zu genau bewußt: Er hat seinen Hang zum Absoluten 1940 in einer Selbstbilanzierung – in einem Brief an eine junge Frau na­mens Fernanda Pivano – klar ausgesprochen. Doch all dieses Wissen, all seine Einsicht hat ihn nicht heilen können von jenem unstillbaren Verlan­gen der Seele nach dem Unbedingten; Erfüllung hat er letztlich nur im Tod finden können, in einem Tod, den er selbst herbeiführte. Die Absolutheit des Todes erfährt der Mensch aber nur um den Preis eines >point of no return<; und deshalb – einmal dort angelangt – erfährt man sie nicht.