Hier geht nun der Radioessay los, der 1996 auf SDR 2 mit nur einem Sprecher lief. Redaktion hatte Bernd H. Stappert und Regie Stefan Hilsbecher:

„Das kann mein Kind auch.“ So titelte das Plakat einer museumspädagogischen Veranstaltungsreihe. Das kann mein Kind auch – diesen Eindruck vermittelt gleichfalls so manche Ausstellung zeitgenössischer Kunst.

Um Kunst schaffen zu können, ist es scheinbar nicht mehr notwendig, handwerkliche Fähigkeiten auszubilden, Zeichnen zu lernen, den genauen Blick zu schulen und die Hand, die das Gesehene umsetzt. Es gibt Kunsthochschulen, an denen nichts mehr geschult wird, an denen man das Zeichnen nach der Natur und das Zeichnen überhaupt am liebsten abschaffen möchte. Es gibt Kunststudenten, die noch nie etwas von handwerklichem Können gehört haben, die zwischen Hingepfuschtem und Virtuosem nicht zu unterscheiden vermögen, die weder ein Gefühl für Proportionen und Komposition entwickelt haben, noch die einfachsten Grundtechniken ihres Metiers beherrschen. Mangelndes Können wird mit der Beobachtung rationalisiert, daß handwerkliche Fähigkeiten oft genug über den Ausdruck von Biederkeit nicht hinausgelangen. Handwerk und Biederkeit werden vorschnell gleichgesetzt, und es wird gefolgert, da das Handwerkliche bieder oder bloß kunstgewerblich ist, sei es für den wahren künstlerischen Ausdruck überflüssig.
Dem Gefühl so mancher Museumsbesucher, das, was sie da sehen, könne ihr Kind auch, entsprechen noch weitere Varianten. Zu den Standards museumspädagogischer Dienste gehört die Erfahrung, daß moderne Kunst etwas ist, das der Durchschnittsbürger nicht mehr versteht. Was er nicht versteht, ist nicht so sehr, daß die moderne Kunst zu komplex wäre, sondern daß scheinbar Banales – eine schwarze Jalousie auf einer weißen Wand oder regelloses Getümmel von Farbflächen – Kunst sein soll. Stellvertretend für den Durchschnittsbürger artikuliert Ephraim Kishon in einem seiner Stücke das Problematische am Kunstanspruch so mancher Werke: er karikiert die Bewunderung eines Kunstkritikers für einen Turm aus Tisch, Stuhl, anderen sperrmüllartigen Teilen und einem Wasserkocher. Der Kunstkritiker hält dieses zufällig übereinandergestapelte Sammelsurium für die ultima ratio plastischen Gestaltens. Kishon aber kann mit einer Form von Kunst, die keinen nachvollziehbaren Regeln mehr folgt, wenig anfangen. Bevor man jedoch Kishons Kritik am Kunstbetrieb ironisch abtut, sollte man fragen, ob sein Kunstverständnis am Traditionellen haftet und deshalb hoffnungslos konventionell ist oder ob er einen neuralgischen Punkt der Gegenwartskunst trifft, einen Punkt, der eben darin zum Ausdruck kommt, daß es Menschen gibt, die behaupten, das kann mein Kind auch, das kann sogar ein Affe. Und es wurden ja tatsächlich im Hinblick auf den abstrakten Expressionismus, der informellen Malerei im Stile Pollocks, Experimente mit Affen angestellt.
Lew Archer, der Privatdetektiv des amerikanischen Schriftstellers Ross Macdonald, der sich in der Malerei der Moderne gut auskennt und bei dem sich Beschreibungen der Bilder von Monet und anderer Impressionisten ebenso finden wie von Klee und Picasso, Lew Archer sagt über die informelle Malerei: sie erinnere ihn an die Kleckse der Rohrschach-Tests, und er wisse nicht, ob sie äußerst fortgeschritten oder sehr zurückgeblieben sei.
Die Fortschrittlichkeit, die Archer als Möglichkeit einräumt, könnte darin bestehen, daß ein Maler wie Pollock das traditionelle Repertoire seines Metiers beherrscht und aus dem Können heraus die Regeln naturalistischer Abbildung etwa so außer Kraft setzte wie Buster Keaton das Selbstverständliche: nur ein Meister der Körperbeherrschung kann überzeugend vortäuschen, ein Tolpatsch zu sein, der über seine eigenen Beine stolpert – und trotzdem nicht fällt.
Wenn Archer sagt, er könne nicht entscheiden, ob die informelle Malerei fortgeschritten oder zurückgeblieben sei, so meint er damit, daß man einer Fülle von Werken, die im Stile Pollocks gemalt sind, eben nicht mehr ansieht, ob hier das Beherrschen der Regeln umgeworfen wurde oder ob hier nur deshalb gekleckst wird, weil man gar nicht mehr in der Lage ist, das Handwerk zu erlernen.
Es ist aber nicht das Handwerkliche allein, das nicht mehr erkennbar wird, sondern es ist im Grunde genommen das, was das Wesen des Menschen ausmacht: der Mensch ist, wie Nietzsche es nannte, das nicht festgestellte Tier, er ist nicht durch Instinkte vollständig determiniert, sondern muß erst lernen, sich in der Welt zu bewegen. Jeder Mensch eignet sich im Laufe seines Lebens Erfahrungen an, er muß diese Erfahrungen reflektieren und verarbeiten. Kunst ist eine solche Möglichkeit der Verarbeitung. Und je mehr Reife, Tiefe, Lebensklugheit jemand erwirbt, desto komplexer, differenzierter wird seine Kunst. Wenn man also meint, das könnte mein Kind, das könnte ein Affe auch, sieht man den Werken nicht mehr an, ob sie aus der Erfahrung eines im Leben gereiften Menschen entspringen.
Die Verunsicherung aber, ob etwas Kunst sei oder nicht, hat eine objektive Komponente; sie ist Ausdruck dafür, daß das Festhalten am Formenkanon der Tradition, an den Versmaßen und Symmetrien, am wenigsten noch Substanz garantiert. Der Zerfall der Form ist in der Literatur oft genug beschrieben worden, so unter anderem im Chandos-Brief Hugo von Hoffmansthals – und die Literaten haben im Einklang mit den Kunsttheoretikern seit der Romantik das Fragment zur maßgeblichen Form der Moderne erklärt.
Reflektiert aber der Künstler sein Tun im Vergleich zu den Standards, die einst als verbindlich angesehen wurden, dann ist ihm immerhin noch bewußt, was einmal war und jetzt so – um der Authentizität willen – nicht mehr geht.

Vorbildlich für eine solche Reflexion ist die Flamenco-Version der Carmen-Oper Bizets von Carlos Saura und Antonio Gades. Schauplatz der Handlung ist das Tanzstudio von Gades, weggelassen wird der ganze Pomp traditioneller Opern-Ausstattung, Bizets Musik wird für den Tanz rhythmisch umgearbeitet, getanzt wird überwiegend in Alltagskleidung und auf leerer Studiobühne. Nach der ersten Liebesnacht zwischen dem Regisseur Gades und der Carmen-Darstellerin Laura del Sol steht Gades allein in seinem Studio, allein vor einem riesigen Spiegel, und er überlegt, ob er die Carmen traditionell ausstatten sollte: mit Fächer, Kamm, Blume und Mantilla, und während er überlegt, erscheint – als Fiktion – Laura del Sol im schwarzen Gewand, mit schwarzem Fächer und schwarzer Mantilla. Nachdem Gades sich die überlieferte Kostümierung der Carmen vor Augen geführt hat, verwirft er sie. Die Intensität des Films, der die ‚Carmen‘ als work in progress zeigt, lebt vom tänzerischen Können der Gades-Truppe und von der filmischen Virtuosität eines Carlos Saura. Die allen Schmucks und Zierats entkleideten Szenen erhalten ihre Ausdruckskraft durch Reduktion und Verdichtung. Eine Reihe von Stühlen, eine Lampe, die punktuelle Beleuchtung, die den Rest der Bühne in Dunkelheit versinken läßt, stellen die Wohnung einer Kupplerin dar; Frauen, die an Tischen sitzen und mit den Händen rhythmisch-monoton auf die Tischplatten schlagen, imaginieren eine Tabakwarenfabrik und den Rhythmus der Maschinen, dem die Arbeiterinnen sich unterwerfen müssen. Die historisierende, naturalistische Aufführungspraxis wird abgelöst von einer Darstellung, deren Salz die Meisterschaft des Tanzes und der Kameraführung ist. Tradition wird nicht überwunden durch dilettantische Verleugnung, sondern durch eine andere Form des Könnens.
Es gehört zu den Erfahrungen der Moderne, daß künstlerische Darstellung vielfach an Ausdruckskraft gewonnen hat durch Reduktion. In der bildenden Kunst jedoch führte die Reduktion – als endlos wiederholte – zur Entleerung. Die Form wurde wie bei Donald Judd zur tautologischen Darstellung ihrer selbst. Steht ein durchschnittlicher Museumsbesucher zum Beispiel vor einem Tryptichon aus drei monochromen Bildern in Weiß und wundert sich darüber, daß Inhaltloses Kunst sein soll, dann wird sein Unverständnis in der Regel von Museumsleitern und Ausstellungsmachern als Ausdruck von Kunstfremdheit oder gar als Ausdruck rechts-extremer Feindlichkeit gegenüber der künstleri-schen Avantgarde abgetan. Unter den Regenten des Kunstbetriebs herrscht eine Art von Fraktionszwang. Obwohl sie Konkurrenten sind, halten sie doch nach außen hin, dem Publikum gegenüber, zusammen. So hat sich Jan Hoet, der Leiter der documenta 9, intern zwar über einzelne Künstler kritisch geäußert, hat sie der Öffentlichkeit gegenüber aber verteidigt, nach dem zirkulären Motto: Ein in die documenta aufgenommener Künstler muß gut sein, sonst würde er nicht aufgenommen. Es ist, als ob das Wort documenta eine Schwelle bezeichnete, die nur der überschreiten darf, dessen Künstlerschaft bereits feststeht. Zweifel an dieser Künstlerschaft bedeu-ten dann Zweifel an der Fähigkeit des Ausstellungsleiters. Aber selbst ein designierter documenta-Leiter ist nicht unfehlbar. Anstatt zu meinen, man müßte sein Gesicht wahren, indem man selbst Kritik an schwachen Werken abwehrt, wäre eine Einstellung angemessener, die konträre Positionen und Auffassungen zur Diskussion stellt, also die Frage nach dem Kunstcharakter erörterbar macht. Diese Demokrati-sierung muß nicht gleichbedeutend sein mit Qualitätsverlust, denn die Polarität, die die Ausstellungsmacher zwischen der Kunst und dem Publikum aufbauen, existiert in Wirklichkeit gar nicht. Die Künstler selbst sind die heftigsten Kriti-ker der Kunst anderer. Ihre Kritik entspringt keineswegs bloß dem Neid auf den Erfolg des anderen, sondern sie hat oft genug objektive Berechtigung.

Der kalifornische Maler Mark Tansey zum Beispiel bedient sich in seinen gegenständlichen Bildern der Tradition des Surrealismus, um auf Problematisches in der Kunst der Moderne hinzuweisen. Eines seiner Bilder zeigt einen Maler, der aussieht wie ein Anstreicher: Dieser Anstreicher steht auf einer Leiter, die an die Wand gelehnt ist, und mit einer Farbwalze überrollt er monochrom weiß Michelangelos Gemälde in der Sixtinischen Kapelle. Und während die differenzierte Malerei Michelangelos unter dem Weiß verschwin-det, tilgt der sich zum Anstreicher degradierende Gegenwartskünstler auch den Schatten, den er und die Leiter auf die Wand werfen. Dieses Verschwinden des Schattens deute ich als Metapher für Realitätsverlust. Tansey betitelte das Bild ‚Victory over Mastery‘, Sieg über die Meisterschaft. Meisterschaft bedeutet, daß der Künstler im traditionellen Verständnis die Gesetze, denen das Leben unterliegt, studiert, Gesetze im Sinne notwendiger Bedingungen: Licht wirft, wenn es auf einen Gegenstand trifft, Schatten. Jeder wirft einen Schatten, über den er nicht springen kann. Das Leben unterliegt der Schwerkraft – nicht nur im physikalischen Sinne. Keiner kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, ein jeder benötigt einen Halt außerhalb seiner selbst und außerhalb des Sumpfes. Das Ich benötigt ein anderes Ich, um sich selbst zu erkennen. Alle müssen sich ernähren, kleiden, müssen schlafen, um sich zu regenerieren; alle sehnen sich nach Zärtlichkeit. Und die schlimmste Abhängigkeit von allen: Leben ist endlich, ein jeder ist vergänglich. Für den Menschen heute ist der Gedanke an den Tod mit den gleichen Ängsten verbunden wie für seine Vorfahren – der Tod ist die größte narzißtische Kränkung, besonders für dieje-nigen, die ihr Leben lang das Loslassen nicht geübt haben.
Kunst hatte in der Menschheitsgeschichte mit dem Studium solcher Notwendigkeiten und Unabänderlichkeiten zu tun; große Kunst enthält fast immer den Versuch, die Schwerkraft zu beherrschen – nicht, sie außer Kraft zu setzen oder sie einfach zu ignorieren. Viele Künstler haben sich bemüht, dem Tod mit Ironie zu begegnen, anstatt vor ihm in Selbstmitleid zu winseln. Dem Unabänderlichen, dem alle Menschen einerseits unterworfen sind, dem Unabänderlichen, das aber andererseits einem jeden Sicherheit bietet, diesem Unvermeidbaren wird da, wo der Kunstbetrieb eitel ist und der Künstler bloß nach der raschen und vergänglichen Anerkennung giert, keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet.
War Kant zufolge die Einsicht in die Notwendigkeit die unumgängliche Bedingung für Freiheit, so liegt für viele heute die Freiheit in der Leugnung der Notwendigkeit. Und diese Mißachtung der Notwendigkeit korrespondiert mit der Krise des Handwerklichen. Beiden entspricht die Krise der Sinnlichkeit, und ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, die Krise der Moral und der Politik.
Krise meint hier zunächst das Verschwinden jeglicher Verbindlichkeit für menschliches Denken und Handeln. Die Literatur und die Philosophie des 20. Jahrhunderts verkündeten, daß es nichts mehr gibt, woran man sich zweifelsfrei halten kann. Paul Feyerabend erklärte: „anything goes“, alles ist möglich. Habermas konstatierte vor einigen Jahren die ‚Neue Unübersichtlichkeit‘. Und Kunsthochschulen, die als Ausbildungsstätten für Künstler gewöhnlicherweise Seismographen ihrer Epoche waren, wurden zu Orten, an denen Ratlosigkeit, Maßstabslosigkeit, Beliebigkeit an der Tagesordnung sind. Oder reagierten sie damit bereits seismographisch?
Der Prozeß der Auflösung verbindlicher Wahrheit beginnt in einem gewissen Sinn mit der Reformation. Die Praxis der Papstkirche zu Beginn des 16.Jahrhunderts, die Ungereimtheiten und Widersprüche der damaligen Religionsausübung wurden durch Luther in Frage gestellt, und zwar so, daß er sich auf die Bibel als Offenbarung Gottes berief. Luther konstatierte – wie andere vor ihm -, die Praxis der Papstkirche weiche erheblich vom Sinn und Gehalt der Bibel ab. Luther repräsentiert eine Haltung, die besagt: Ich übernehme nicht die Meinung von Autoritäten, sondern schaue selber hin, lese mit meinen eigenen Augen die Heilige Schrift, interpretiere sie gemäß meiner Einsicht und gemäß meinem Gewissen. Das individuelle Einsichtsvermögen orientierte sich an der Bibel als Maßstab der Wahrheit. Die Aufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts wie Lessing, Kant, Hegel – um nur einige zu nennen – lösten die Wahrheit dann von der biblischen Offenbarung ab, erklärten sie zur Sache der Autonomie des Verstandes: der Mensch fühlt sich in der Lage, Wahrheit im Medium des Begriffs selbst zu denken, sie in Form großer Systeme, die Ordnungssysteme sind, zu entwerfen. Ein Jahrhundert später ist diese Art der Wahrheit dem Positivismus zu spekulativ, zu metaphysisch. Er hält sich lieber an die Fakten, an das sinnlich Wahrnehmbare. Das Faktische aber, das durch kein System mehr geordnet wird, tendiert in seiner Vielfalt und Vereinzelung zur Beliebigkeit. Die Kirche als die Große Mutter trichterte den Gläubigen Sonntag für Sonntag Glaubenslehre und Bibel ein. Sie, die Bibel, war das eine Buch, von dem alle wußten. Die Kenntnis dieses Buches war Allgemeingut. Wenn einer vom Erzengel Gabriel sprach, wußte jeder, wovon die Rede ist. Heute ist das, woran der Geist sich bildet, sofern er sich überhaupt noch bildet, völlig beliebig. Zitiert man einen Schriftsteller oder Philosophen, ruft man oft im anderen Ängste hervor, die Angst nämlich, sich zu blamieren, weil der andere den Autor nicht kennt.
Nichts ist mehr Pflicht. Nicht einmal das Hinsehen, die präzise Wahrnehmung, wie sie die Positivisten forderten, ist mehr gefordert. Das 20. Jahrhundert, so scheint es, ist das Zeitalter der Entpflichtung. Jeder kann so dumm bleiben, wie er gerade ist. Jeder kann seine Vorurteile pflegen und sich gegen Kritik immunisieren, so gut er kann. Und erhält er eine Machtposition, kann er sein zufälliges Sosein zum Maßstab für andere setzen. Statt das genaue Hinsehen zu lernen, übt man sich in der Manipulation der Fakten.
Die Beobachtung, daß handwerkliche Fähigkeiten als Ausdruck einer Beziehung zur Eigengesetzlichkeit des Materials noch kein authentisches Kunstwerk ergeben, hat vielfach dazu verleitet, auf das Können ganz zu verzichten. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet. Und genauso verhält es sich mit der Krise der Sinnlichkeit: Sie ist allerdings eher eine Krise der Denkfähigkeit. Günter Eich hat in seinem 1979 erschienenen Text ‚Der Schriftsteller vor der Realität‘ verdeutlicht, daß er seinen Sinnen nicht trauen kann, weil „es Farben gibt, die wir nicht sehen“, weil „es Töne gibt, die wir nicht hören“. Eich war ein Schriftsteller mit ausgeprägtem Wahrnehmungsvermögen, einer, der sich nicht zu schade war, auch scheinbar Banales zu registrieren und es in Gedichtform mitzuteilen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob man durch Übung und Ausübung, durch täglichen Gebrauch und durch Anstrengung bis an die Grenzen der Wahrnehmung und des Sagbaren geht, ob man schreibend gegen den Klischeecharakter der Sprache sich zur Wehr setzt oder ob man bereits vor allem Gebrauch seiner Fähigkeiten resigniert, im Stande des Dilettanten verharrt und aus Bequemlichkeit behauptet, alles sei erlaubt, eben auch das Dilettieren.
Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob man durch Können an die Grenzen seiner Ausdrucksmittel stößt oder ob man seine Trägheit dadurch rationalisiert, daß man behauptet, Training, Übung garantierten keine Kunst, also könne man auf jegliche Anstrengung verzichten.
Die gegenwärtige Kunstszene bewegt sich in diesem Spannungsfeld aus Dilettantismus und Können. Dabei nutzen die Dilettanten und Blender die zentrale Aporie der Kunst instinktiv für sich aus. Sie werden dabei unterstützt von jenen, die vom Verkauf solcher Kunst leben.
Die zentrale Aporie der Kunst, die zur Unsicherheit darüber führt, ob etwas überhaupt Kunst ist oder nicht, besteht eben darin, daß es für die Kunst kein Regelwerk gibt, dessen Anwendung und gleichsam mechanische Umsetzung den Kunstcharakter eines Werks garantieren würde. Der Vorsatz, Kunst zu schaffen, indem man aus anerkannten Werken Gesetzmäßigkeiten extrahiert, diese aufschreibt, sie anderen zur Kenntnis gibt, dieser Vorsatz mißlingt allzu oft, führt zu unzeitgemäßen Ergebnissen. Formen, die nicht durch die Erfahrung des Künstlers erfüllt werden, klappern, wirken hölzern, sind unlebendig. Und Erfahrung ist stets an die Zeit gebunden, in der der Einzelne lebt. Die besonderen historischen Bedingungen seiner Individuation können nicht übersprungen werden. Umgekehrt aber fehlt den Werken Tiefe, wenn der Künstler sich bei seiner eigenen Erfahrung bescheidet und Tradition überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt.
Große Kunst thematisiert das in ihr Abwesende. Mondrian malte zuerst gegen-ständlich und rechtfertigte seine Abkehr von figürlicher Malerei durch umfang-reiche theoretische Schriften. Ebenso Malewitsch. Was an Differenziertheit in der monochromen Malerei Malewitschs verlorengeht, wird durch die philoso-phische Reflexion des Künstlers kompensiert. Das ‚Weiße Quadrat auf Weiß‘ und das noch berühmtere ‚Schwarze Quadrat‘, so erläutert Malewitsch in seinem Buch ‚Suprematismus‘, bringen zum Ausdruck, daß der Mensch an der Natur schuldig geworden ist, weil er denken kann, weil er sich durch sein Sprachvermögen von der Natur abgespalten hat und weil er mit Hilfe der Erkenntnis einen Fortschritt betreibt, der die Natur ruiniert. Malewitsch beklagt sich über den Sündenfall. Seine Monochromie und Fast-Monochromie zeigen Gott, wie er bei seiner Schöpfung hätte verfahren sollen: Er hätte nur den Baum der Erkenntnis aus dem Paradies wegzulassen brauchen.
Malewitsch artikuliert mit seiner Monochromie eine Kritik am Schöpfungsplan. Seine Malerei und die von ihm entwickelte Theorie bilden eine Einheit. Was im Bild nicht mehr sichtbar ist, wird in der dazugehörigen Theorie artikuliert. Die Theorie ist der entfaltete Inhalt des Kunstwerkes. Will man also das Werk verstehen, muß man nicht nur das Bild betrachten, sondern sich auch der Mühe unterziehen, die Schriften der Künstler zu studieren.
Mondrian ist ein Antipode zu Malewitsch.
Mondrians Bilder: das sind primärfarbene Flächen, Rot, Gelb, Blau, das ist Weiß, immer wieder Weiß, und das sind schwarze, breitere Streifen, die das Bild gliedern, die Flächen umrahmen, stets im rechten Winkel, stets streng waage- und senkrecht. Vollständig eingerahmt sind die farbigen und weißen Flächen nur im Inneren der Bilder, wie Fenster; Begrenzungen durch die schwarzen Streifen gibt es nur zum Inneren des Bildes, zum Rand hin niemals. Die Komposition ist geoemtrisch, einfach, klar, die Farbflächen sind perfekt ausbalanciert, mitunter befindet sich an einer der Teilseiten nur ein sehr schmaler Streifen Farbe – eine Reduktion fast bis zum Verschwinden. Keines der Bilder hat eine symmetrische Anordnung. Mondrian verfügte über ein sehr gutes Gefühl für Proportionen. Seine Bildsprache ist unverkennbar. Aber das Gelb ist bei Mondrian nicht nur ein schönes Gelb, eine Fläche ist nicht nur eine Farbfläche, die schwarzen, mitunter sich kreuzenden Balken gliedern nicht nur die Fläche, die Komposition ist nicht nur als harmonische Gliederung einer Fläche anzusehen. Mondrians Werke meinen mehr, sie meinen das Ganze, sie sind Darstellungen des Absoluten, sie sind Epiphanien einer zur Universalität gelangten Menschheit, sie sind antizipierte Utopie, gereinigt von aller trübenden Zutat – dem Leben selber.
Die Mannigfaltigkeit der Natur und des menschlichen Lebens ist das Gegenständliche, das Einzelne, Besondere, das in seiner konkreten Gestalt Ausgeformte und Sichtbare. Das Verschwinden dieser Mannigfaltigkeit wird zum Programm des Mondrianschen Kunstverständnisses – dieses Programm wird De Stijl genannt. Der Geometrismus von „De Stijl ist die Darstellung des Abstrakten“; dieses ist gleichbedeutend mit dem „Mathematischen“ – und das „Mathematische“ ist in den Augen Mondrians das „Innere“ der Dinge, es ist „das exakte Wesen“ dieser Dinge. Die äußere, natürliche Gestalt ist lediglich das „Zufällige, Willkürliche, Launische“. Mondrians Farbflächen, seine horizontalen und vertikalen schwarzen Balken sind Ausdruck dafür, daß der moderne Maler gelernt hat, wie Mondrian schreibt, „dasjenige exakt zu gestalten, was in der Natur nur durchschimmert“. Aufgabe der ‚Neuen Gestaltung‘ – so der Titel von Mondrians Bauhausbuch aus dem Jahre 1925 – Aufgabe der ‚Neuen Gestaltung‘ ist es, dasjenige „reduzierend zu vernichten, was konkret in Erscheinung tritt“.
Der Anspruch, den Mondrian an die Kunst stellt, ist hoch, wenn er dort formuliert:
„Die Kunst bietet uns in der (…)“ abstrakt-geometrischen „Darstellung“ das Universale. Sie ist die „Darstellung von Gleichgewichtsbeziehungen“, und sie ist somit „eine Erscheinung, die nicht körperlich existiert.“ Als solche ist sie „frei vom Zeitlichen (…), das das Dauernde trübt… Die Kunst kann also von den Beiläufigkeiten der Substanz absehen“. Diese Beiläufigkeiten „müssen in der Gestaltung unberücksichtigt bleiben, wenn es um die reine Darstellung des Universalen, d.h. der Substanz selbst geht“.
Diese Sätze – und es finden sich eine Fülle ähnlicher bei Mondrian – sind für die Kunst des 20. Jahrhunderts folgenschwer, begründen sie doch die Verdrängung und Mißachtung figürlicher, gegenständlicher, von erzählerischen Momenten bestimmter Kunst. Bei Mondrian läßt sich ein eklatanter Widerspruch aufzeigen: Es ist der Widerspruch jenen Denkens, das im Verlauf der Menschheitsgeschichte glaubte, durch Flucht in ein essentielles Jenseits dem Verstrickungs- und Schuldzusammenhang der Menschheit entgehen zu können. Mondrian beschwört das körperlos Substantielle und Reine. Und diese Beschwörung gliedert sich ein in die Geschichte der Verdrängung der Bitternis des Lebens, einer Bitternis, die nicht erst das Ergebnis menschlicher Lieblosigkeiten ist, sondern die bereits in der Vergänglichkeit des Irdischen selbst liegt. Zahlreiche Wahrheits- und Gottsucher, von Xenophanes und Parmenides, über Platon und Plotin, über Kants abstrakten kategorischen Imperativ bis hin zum Offenbarungspositivismus von Karl Barth, all diese Wahrheitssucher haben – genau wie Mondrian – die Essenz, die Substanz, also die Wahrheit selbst, dem Leben entgegensetzt. Sie sind Ausschließer, Ausgrenzer, Distanzierer. Das Menschliche mit seinen Paradoxien und Widersprüchen steht auf der einen Seite, und der Universalismus, der doch dem Leben gilt, steht für das Leben unerreichbar auf der anderen Seite.
Der entscheidende Einwand gegen die Verdrängung des Figurativen aus der Kunst liegt darin begründet, daß der abstrakte Geometrismus von Mondrian den Anspruch erhebt, die Utopie der Menschheit zu verkörpern. Dies ist kein Einwand gegen die abstrakte Kunst als solche, sondern ein Einwand gegen den Anspruch, den diese abstrakte Kunst erhebt. Utopie kann nicht im geringsten realisiert werden, wenn man glaubt, auf die Darstellung des Einzelnen und Besonderen verzichten zu können. Wahrheit kann es nur geben, kann nur verwirklicht werden, wenn die Menschen ihr Verhalten und ihre Instinktreaktionen, wenn sie die Indienstnahme des Denkens durch die Instinkte je im einzelnen reflektieren. Wahrheit ereignet sich nicht außerhalb von Lebenssituationen, sondern nur in ihnen. Allein Differenziertheit im Denken und Fühlen, die Bereitschaft, dem Anderen – und damit sich selbst – gerecht zu werden, machen die Wirklichkeit situativer Flexibilität wahrscheinlich, und die ist vonnöten, wenn das Subjekt allgemeingültig handeln soll.
Mondrian setzte eine der elementarsten Notwendigkeiten menschlicher Existenz außer Kraft: für ihn gab es das Universelle ohne Verarbeitung, Wahrnehmung und Reflexion der einzelnen Lebenssituationen. Ähnliches gilt für Malewitsch: Er verneint die Tatsache, daß Menschen als Menschen nun einmal Bewußtsein haben und daß nur ein Mehr an Reflexion die Wunden heilen kann, die Reflexion als solche anrichtet. Weder die Verleugnung der vergänglichen Körperlichkeit noch der Weg des Menschen zurück in die Tierheit bieten Lösungen, um der Disharmonie, dem Elend und dem Schrecken zu entgehen, den der Mensch produziert.
Daß es nicht die Aufgabe der Kunst sei, das Leiden an der Existenz zu artikulieren, verkündet auch Gerhard Merz, der sich bewußt auf Mondrian und Malewitsch als seine Vorbilder beruft. Gerhard Merz ist der große Ausgrenzer der Gegenwart. Fragt man ihn nach seinem Kunstverständnis, spult er mit dem Charme eines Anrufbeantworters Ad Reinhardts Satz ab: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere.“ So ergeben sich erneut zwei voneinander getrennte Sphären: hier das Leben, dort die Kunst. Für Merz haben Psychoanalyse und Ökologie nichts in der Kunst zu suchen. Die einzige Aufgabe der Kunst besteht für ihn darin, das „absolute Ideal und die absolute Reinheit des Denkens (zu) repräsentier(en) (…). Dadurch“, so folgert er, hätte die Kunst „überhaupt nichts mehr mit dem Leben zu tun, sondern (sie liefere) den Beweis, daß ein Mensch imstande ist, ideale Figurationen zu denken, ohne daß er etwas davon hat“.
Einige Beispiele für die zweckfreie Kunst von Gerhard Merz seien hier genannt:
Das erste Beispiel: Aus einer weißen Wand ragen zwei polierte, quadratische Chromstahlkonsolen. Auf ihnen liegt weißer Marmor. Der Querschnitt der Konsolen und des Marmors ist quadratisch, zehn mal zehn Zentimeter. Weiß präsentiert sich auf Weiß. Veredelt durch Chrom.


Das zweite Beispiel: In einem Raum steht ein nur aus rechten Winkeln bestehender, etwas schwerfällig wirkender, grüner Tisch. Die quadratischen Füße, auf denen die Platte ruht, werden in ihrer Statik verstärkt durch quadratische Querverstrebungen im unteren Drittel der Fußhöhe. Diese Querverstrebungen bilden parallel zur Tischplatte weitere Rechtecke. Auf dem Tisch liegt eine verchromte Reißschiene, die das Licht im Raum fotogen reflektiert. Mit ihrem kurzen Querstück greift die Reißschiene in enger Berührung mit der Tischkante über diese hinaus. An der Wand hängt ein olivgrün-monochromes Bild. Diese Rauminszenierung ist eine Hommage an den Rationalismus in der Formensprache von Mies van der Rohe, und damit an den Rationalismus der Moderne.
Im nächsten Raum schmückt ein Zitat aus dem ‚Eupalinos‘ von Paul Valéry die Wand. Ein Architekt, so wird erklärt, gibt nur Zahlen und Befehle. Er läßt seine Ideen von Handwerkern und Arbeitern ausführen. Merz liebt diesen Gedanken von Valéry, er identifiziert sich mit ihm, rechtfertigt damit sein Kunstverständnis. Gleichzeitig aber wird dadurch offenbar, daß ein Künstler, der von anderen seine Konzeptionen umsetzen läßt, die Tuchfühlung zu den Materialien, zu den Arbeitsvorgängen verliert. Der Künstler ist der Herr, der Handwerker der Knecht – und selbstbewußt leugnet Merz jegliche Herr-Knecht-Dialektik.


Das dritte Beispiel: Auf der documenta 9 war Merz 1992 mit einem Quader von zirka 4 mal 4 mal 8 Metern vertreten – der Quader bestand aus Travertinplatten, täuschte aber massives Gestein vor. Für Merz fand sich damals nur ein Bundesgenosse, aber dafür mehrere Kontrahenten: Francis Bacon, Louise Bourgeois, Marlene Dumas, Mo Edoga, Ilya Kabakov, Bruce Nauman, um nur einige zu nennen. Der Mitstreiter von Gerhard Merz hieß und heißt James Lee Byars – ein amerikanischer Künstler, der für seine ätherischen Räume und für die Verwendung edler und ehemals sakraler Materialien wie Gold bekanntgeworden ist. Byars hatte einen Raum völlig in weiße Farbe getaucht, ein Weiß, dem ein Hauch Grün beigemischt zu sein schien, so daß das Weiß das Auge regelrecht blendete. Inmitten dieser Monochromie aus Reinheit lag ein weißer Marmorlaib. Ein Seil, zwischen die Türpfosten gespannt, verwehrte den Zutritt und somit die Verschmutzung des weißen Bodens durch Fußabdrücke. Die räumliche Inszenierung, das heißt, die Verwandlung von Malewitschs ‚Weißem Quadrat auf Weiß‘ in die Dreidimensionalität des Raums, die Utopie der Unberührtheit wies einen Makel auf: das der Tür gegenüberliegende Fenster gab den Blick frei auf das Regierungspräsidium in Kassel, auf ein langgestrecktes Gebäude der fünfziger Jahre im Bauhausstil: Symbol der ‚Zweiten Zerstörung‘ Kassels durch den Wiederaufbau nach 1945.


Den Konstrukteuren der Utopie ist dagegen Mo Edoga zuzurechnen, obwohl er die Vorherrschaft des rechten Winkels und die strenge Geradlinigkeit vehement kritisiert. Mo Edoga, ein farbiger Künstler, hat in Deutschland Medizin studiert – und Philosophie. Seine Kunst besteht in der Verknüpfung unregelmäßiger Hölzer, krummer, schiefer, alter Schwemmhölzer, vom Wetter gebleicht und von den Jahren angegraut, die er zur Verblüffung gelernter Statiker zu Türmen verbaut, die äußerst stabil sind. Mo Edoga versteht sein organisches Gerank als Kontrapunkt zu einem von Euklid bestimmten Weltbild, das sich als Vorherrschaft der Geraden in Architektur und Landschaftsgestaltung austobt – bis hin zur Begradigung von Bächen und Flüssen. Jeder Handgriff, jede Verknüpfung der einzelnen Hölzer wird von Edoga selbst ausgeführt: Das allmählich in die Höhe wachsende Bauwerk folgt keinem vorgegebenen Plan, sondern die Hand folgt der Lineatur des Holzes. Auch darin grenzt Mo Edoga sich deutlich vom Kunstverständnis eines Gerhard Merz ab. Edoga sagt, der Künstler selbst müsse sein Metier beherrschen, und das bedeutet bei ihm gleichzeitig eine Kritik am abendländischen Begriff der Wissenschaften. Wissen, so Edoga, müsse gelebt werden, Wissenschaft müsse im gleichen Maße „Könnenschaft“ sein. Ein Künstler, der nur die Idee entwickelt, die er von anderen umsetzen läßt, vertieft die Kluft zwischen Erkennen und Handeln. Die Hand, die das Werk realisiert, die dem folgt, wohin das Material von sich aus möchte, läßt den Handelnden Erfahrungen und Erkenntnisse über die Objektivität der Dinge machen. Mit seiner Theorie der „Könnenschaft“ beansprucht Edoga eine utopische Dimension, die ihren Wahrheitsgehalt darin hat, daß ohne Verkörperung Utopie chimärisch bleibt. Die Geometrie des rechten Winkels als Symbol technologischer Weltbeherrschung muß überwunden werden durch eine Technik, die die Natur nicht länger vergewaltigt. Mo Edogas Signal-Turm der Hoffnung ist Ausdruck der Erwartung, daß die körperbezogene Intuition, daß das vorsprachliche Wahrnehmungs-vermögen in viel stärkerem Maße handlungsbestimmend wird als das derzeit der Fall ist. Nicht im Sinne eines Irrationalismuskultes, sondern im Sinne einer gesteigerten geistigen Sensibilität gegenüber den unendlichen Schattierungen das Daseins.
Mo Edoga ist dem Prinzip Hoffnung – im Sinne Blochs – ebenso verpflichtet wie der ästhetischen Theorie Adornos, derzufolge Kunst mehr sein muß als nur die Bebilderung einer Idee. Kunst besteht – für Adorno – gerade nicht in der Realisierung subjektiver Intentionen, sondern Kunst hat ihre Substanz in der Transzendierung der Intention. Das heißt: In allem, was Menschen willentlich tun, steckt mehr als das, was sie beabsichtigt haben. Der Handelnde möchte das Gute, bewirkt aber oft nur das Gegenteil. Oedipus wollte Unheil vermeiden und hat es gerade dadurch herbeigeführt. Naturwissenschaft und Technik wollen den Menschen aus seiner Abhängigkeit von der Natur befreien und verstärken dadurch gerade diese Abhängigkeit. Von allem menschlichen Handeln soll das Kunstschaffen eine Ausnahme bilden; es soll Modell gelingenden Handelns sein, und zwar dadurch, daß dem Künstler das Absichtslose zu Hilfe kommt. Durch Können, Adorno sagt, durch äußerste Materialbeherrschung, wird das Unwillkürliche herbeigezogen. Im Kunstwerk manifestiert sich ein Mehr an Bedeutungen – über das subjektiv Gemeinte hinaus. Wo immer gewaltsam etwas durchgesetzt wird, wo pure Selbstbehauptung im Spiel ist, da wird das Absichtslose, wird der Kairos – im Sinne eines geglückten Augenblicks – vertrieben und die Wahrheit verfehlt. Und das trifft auch auf Kunstwerke zu, die lediglich eine Absichtserklärung ihres Urhebers sind. Und eine solche Absichtserklärung stellt die Gleichsetzung von Geometrie und idealer Ordnung bei Gerhard Merz dar.
Quadrate und Rechtecke sind zu Kennzeichen einer durchrationalisierten Welt geworden. Monochromie in der Malerei, die reduzierten geometrischen Körper – endlos wiederholt – sind Kennzeichen verdrängter Inhalte und damit Ausdruck von geistiger und emotionaler Verflachung; sie sind Indiz des mangelnden Bedürfnisses, das Leiden an der Realität gestalten und verarbeiten zu wollen. Francis Bacon, der Beckett der Malerei, hat auf die Frage, warum er zerstörte Menschen male, Menschen ohne Kopf und ohne Gliedmaßen oder Menschen mit fratzenhaften, verzerrten Gesichtern (im Englischen spricht man von ‚twisted and distorted faces‘), Bacon hat auf die Frage, warum er so male, geantwortet: „To bring back in painting the shock, the shock you get from reality.“ – Schockiert sein durch die Wirklichkeit! – Zu den bekanntesten Gestalten des Malers Francis Bacon gehört der schreiende Papst und zu den Motiven, die ihn am stärksten beeindruckt haben, die alte Frau auf der Treppe von Odessa in Eisensteins Film ‚Panzerkreuzer Potemkin‘: Die Frau schreit lautlos, ihre Brille ist verrutscht, das rechte Brillenglas zerschmettert, und aus ihrem rechten Auge läuft Blut über ihr Gesicht. Die Bilderwelt von Francis Bacon gleicht einer Folterkammer der Gegenwart, in der das Grauen, die Kälte und die Einsamkeit alltäglich sind.
In die Malerei den Schock der Realität zurückzubringen, besagt im Umkehrschluß, daß die Realität zuvor aus der Kunst verdrängt worden sein muß. Bacon benutzt Elemente abstrakter Malerei. Er verwendet ihre Art, Farbflächen zu komponieren. Ein Beispiel dafür ist eine seiner letzten großen Arbeiten, das Triptychon von 1991.
Ein konstruktiver Maler hätte sich damit zufriedengegeben, ein kleineres schwarzes Rechteck in einer größeren olivfarbenen Fläche zu präsentieren. Bacon nicht: er füllt die schwarze Fläche, die fast quadratisch erscheint und die den oberen Bildrand berührt, mit einem menschlichen Körper. Das linke Bild zeigt im linken Teil der schwarzen Fläche einen männlichen Torso. Die Arme und der Hals fehlen. Der Oberkörper ist stark verkürzt dargestellt. Direkt über dem Torso befindet sich ein gemaltes Foto, das das Porträt von Bacons Freund zeigt. Der fragmentierte Körper scheint aus der schwarzen Fläche herauszusteigen, ein Bein ragt in die olivgrüne Fläche hinein, schwebt über ihr. Der Fuß des anderen Beines – so ergänzt unwillkürlich der Betrachter – verschwindet hinter der olivgrünen Wand im Schwarz. Das rechte Bild zeigt über dem Torso das ‚Foto‘ von Bacon, also ein Selbstporträt. Der Torso hat wie der linke ein männliches Geschlecht, aber im Unterschied zu ihm eine weibliche Brust. Der Körper, den Bacon sich selbst zuordnet, ist hermaphroditisch, zwitterhaft. Der über dem Olivgrün sichtbare Fuß ist von der Seite zu sehen, und der Torso steigt in die schwarze Fläche hinein. Im mittleren Bild schließlich scheinen die beiden kopflosen Torsi miteinander zu ringen oder zu kopulieren. Ein gebogener Pfeil, der nach unten weist, unterstreicht die Bewegungsdynamik. Der untere Torso wirft einen ovalen, schwarzen Schatten auf das Olivgrün.
Dieses Tryptichon von Francis Bacon ist die Darstellung einer homosexuellen Beziehung. Beziehungen und die mit ihnen verbundenen Probleme sind zentral für die menschliche Existenz. Die idealistische Vorstellung von der Ganzheit des Menschen hat nur den Einzelnen in Relation zum Ideal gesehen. Das einzelne Subjekt kann aber für sich selbst, isoliert im leeren Raum, Wahrheit und Ganzheit nicht realisieren. Zur Idee eines Ganzen gehört notwendigerweise die Geschlechterbeziehung, und eine solche Beziehung schließt Spannungen, Ambivalenzen und Konflikte ein.
Wer es ernst damit meint, daß menschliches Leben sich an Idealen orientieren sollte, muß die Möglichkeit zulassen, daß einzelne Situationen, daß bestimmte Spannungen und Konflikte in der Kunst durch Darstellung bearbeitet werden.
Das Triptychon von 1991 hat zwar nichts Schockhaftes, aber es zeigt, daß Bacon die formalen Gestaltungsprinzipien konstruktiver beziehungsweise abstrakter Malerei aufgreift, sie in seine Bilder integriert und sie als Grundlage für seine figürliche Darstellung nutzt. Das Konstruktive ist nicht Selbstzweck, sondern einer der Pole menschlichen Lebens. Heißt das Schlüsselwort für Künstler wie Mondrian und Merz Ausgrenzung, so lautet es für Bacon Integration. Und Integration ist das Gegenteil von Verdrängung. Dem Dogmatismus von Gerhard Merz zufolge wäre die Malerei eines Francis Bacon gar keine Kunst; denn er thematisiert eine Geschlechterbeziehung, stellt also keine reine und absolute Figuration dar.
Bacon kann im Unterschied zu Merz das ihm Konträre aufnehmen und es als Teil seiner selbst akzeptieren. Auf diese Weise beantwortet er Verdrängung nicht durch erneute Verdrängung. Bacon folgt nicht den Strukturen der Macht, die das ihr Gegensätzliche stets ausmerzt, die nicht eher ruht, bis sie vernichtet hat, was ihr nicht gleicht.
Bezieht man diese unterschiedlichen Kunstauffassungen auf die documenta 9, dann erweist sich, daß der Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, Jean-Christophe Ammann, Unrecht hatte: Er behauptete, diese Kunstpräsentation habe keine inhaltliche Struktur besessen. Denn wie keine andere war die neunte documenta bestimmt von der Auseinandersetzung zwischen idealistischem Geometrismus und der Wiederkehr der Inhalte. Während Gerhard Merz die verchromte Reißschiene als Wahrzeichen seiner Kunst für sich in Anspruch nimmt und einen scheinbar hermetisch geschlossenen Quader präsentierte, baute dort Ilya Kabakov ein Toilettenhäuschen auf; er schärfte den Kunststudenten, die ihm beim Aufbau behilflich waren, ein, beim Mauern auf keinen Fall eine Wasserwaage zu verwenden. Entsprechend dieser Anweisung sah man dem Toilettenhäuschen die Spuren der Hand deutlich an; es wirkte improvisiert, wie von Menschen gebaut, deren Werkzeug unvollständig war. Dabei ließ sich nicht eindeutig sagen, ob der Charakter des Improvisierten darauf zurückzuführen war, daß die Arbeiter, die ursprünglich eine solche Toilette erbauten, im Grunde genommen keine Lust zum Arbeiten gehabt hatten, keinerlei handwerklichen Ehrgeiz verspürten, weil sie seelisch zutiefst müde waren, weil der Staat, für den sie bauten, ebenso trostlos war, wie die Kräfte, die ihn trugen.
Der windschiefe Bau besaß aber etwas Allgemeineres, etwas, das über die Assoziation ‚desolater Sozialismus‘ hinausging. Der Bau hätte auch eine Hütte aus einem der Armenviertel Afrikas oder Lateinamerikas sein können.
Das Toilettenhäuschen war ein ehemaliges Plumpsklo, bestehend aus zwei miteinander verbundenen Räumen. So konnte man in das Männerklo hineingehen und aus dem Frauenklo wieder hinaus – oder umgekehrt. In jeden der beiden Räume befanden sich drei Toilettensitze sowie eine sperrmüllartige Möblierung: links waren Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer in einem Raum, rechts das Schlafzimmer für die ganze Familie.
Das Ganze vermittelte den Eindruck, daß die armen Leute, die hier wohnten, froh zu sein schienen, überhaupt ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben.
Die Wände waren zum Teil weiß gekalkt, zum Teil sah man den rohen Putz. Kabakov hatte die Mauern zwischen den Toilettensitzen nachträglich noch höher gezogen; ihre ursprüngliche Höhe, und das ist das scheinbar Paradoxe an seinen Inszenierungen, hatte nicht seinem Gefühl für Proportionen entsprochen. Eine Ästhetik des Schäbigen muß eben nicht heißen, daß der Künstler sämtliche Gestaltungsregeln über Bord wirft – im Gegenteil: er muß sie beherrschen und so gezielt einsetzen, daß sein Werk Kraft und Wirkung erreicht. Das Vorkünstlerische dagegen wirkt banal und leer.
Die Gegenstände im Inneren der Toilette, die Möbel und Bücher, das Spielzeug oder die leeren Weinflaschen stammten aus aller Herren Länder. Das war ein Indiz dafür, daß es Kabakov nicht nur um die Darstellung der Kehrseite sozialistischer Jubelideologie ging, um das Schäbige, Verwahrloste einer Diktatur gnadenlosen Kleinbürgertums, sondern daß er ebenso die Armut in der Welt ansprach, die in erster Linie ein Produkt des Kapitalismus ist.
An der Polarität der Kunstauffassungen von Kabakov und Merz wird deutlich, wie zweifelhaft der Begriff der Avantgarde in der Kunst sein kann. Häufig wird er von Menschen benutzt, die das Heute nur mit dem Gestern vergleichen und dabei feststellen, gestern war etwas anderes an der Tagesordnung, also ist das, was heute geschieht, das Neue – und das Gestrige ist schon veraltet. Da man sich aber nicht an das erinnert, was vorgestern war, bemerkt man nicht, daß das vermeintlich Neue die Wiederkehr von etwas längst Dagewesenem ist. Wenn man in die Vergangenheit zurückblickt, wird erkennbar, daß der Gegensatz zwischen Merz und Kabakov eine historische Variante darstellt, eine Variante der alten Polarität von Essenz und Existenz, von Himmel und Welt, von höchstem Sein und dem Geringsten. Georg Büchner kritisiert 1835 in seiner Erzählung ‚Lenz‘ den Vorrang des Idealischen im Kunstschaffen um 1800. In einem Gespräch über die Kunst wirft Lenz der idealistischen Epoche vor, daß sie keine wirklichen Menschen darstelle, sondern nur Holzpuppen. Der am Idealismus orientierte Künstler sei nicht in der Lage, sich der Realität, wie sie ist, zuzuwenden, die zeitgenössischen Maler seien unfähig, eine Hundehütte zu zeichnen.
„Dieser Idealismus“, so Lenz, „ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.“
Büchner läßt seinen Lenz vorschlagen, man solle die Welt so akzeptieren, wie Gott sie gemacht hat, und sich in das Leben des Geringsten versenken. Der Idealismus hingegen wolle Gottes Schöpfung verbessern.
Und eben genau das gilt für den Konstruktivismus dieses Jarhunderts. Die Konstrukteure der Utopie, Mondrian oder der Wiener Architekt Adolf Loos sind von jenem Weltverbesserungsstreben geprägt, von dem ein Lenz sich abwendet. Oskar Kokoschka hat einmal stellvertretend an Loos ironisiert, was für die Konstruktivisten insgesamt zutrifft: „Das war dumm -, daß Gott Loos am 6. Tag nicht um Rat gefragt hat.“ Loos hätte Gott – so Kokoschka – „mit tödlichem Ernst auf alle Konstruktionsfehler aufmerksam gemacht“.
Es gibt darüber hinaus eine merkwürdige Parallele im Denken der Konstruktivisten zur Gen-Technologie der Gegenwart: es ist der Gedanke, Natur auf ihre elementaren Bausteine zu reduzieren, und diese Bausteine nach menschlichem Harmonieermessen neu zusammenzufügen.
Sagt Lenz, daß der Idealismus die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur sei, so findet man auch im Konstruktivismus und im gentechnischen Denken eine Unduldsamkeit gegenüber dem, was einst die Theodizee zu erklären versuchte, weil es die Menschen hinnehmen mußten: Nämlich die Existenz von Krankheiten, die Erfahrung des Leids, des Elends und der Bitternis – abstrakter gesprochen: die Erfahrung des Unverfügbaren, das für viele Menschen eine narzißtische Kränkung darstellt.
Krankheiten und Leiden gewinnen ihren Sinn – so argumentierte die Theodizee – in der Vertiefung des menschlichen Charakters. Wo man das Negative überhaupt zu vermeiden trachtet, wo man es eliminiert, tritt eine Verflachung ein. Das Subjekt verarmt geistig und seelisch. Die Intensität seiner Empfindungen lassen nach, an die Stelle der Leidensfähigkeit tritt Indifferenz, seelisches Erleben reduziert sich auf das Streben nach Macht und Reichtum.
Der Idealismus wollte das Schöne, und er identifizierte Schönheit mit Wahrheit. Der Idealismus verachtete die Häßlichkeit der Welt aber nicht nur im moralisch-ethischen Sinne, so als ob das Böse zugleich das Häßliche wäre. Er belegte zudem das Häßliche und die Darstellung des Häßlichen mit einem Bann. Schiller zuckte zurück beim Anblick eines Säufers, Hegel bezeichnete die Menschendarstellung eines E.T.A. Hoffmann als fratzenhaft und sah in Goethes Werther einen krankhaften Charakter. Die Sehnsucht nach unbedingter Schönheit verliert leicht aus dem Blick, was diesen trüben könnte; solche Verdrängung aber ist potentiell dem Terror verschwistert, der Intoleranz, dem Ingredienz von Säuberungsaktionen.
Im erbarmungslosen Streben nach Schönheit steckt latent die Ausrottungsideologie des Faschismus, die Vorstellung vom unwerten Leben. Alles Verkrüppelte, alles Krumme und Behinderte, alle zu Dünnen und alle zu Dicken, alle Abweichungen von der Ideal-Norm beleidigen das ideologisch verblendete Auge und müssen deshalb aus dem Blickfeld verschwinden.
Die Polarität, die der Kunstbegriff von Gerhard Merz repräsentiert, demzufolge die entleerte, veredelte, geometrische Form Kunst und alles andere keine Kunst ist, diese Polarität ist grundfalsch. Die Behauptung, von Kunst dürfe man nichts haben, ist anmaßend. Kunst ist zwar in erster Linie kein Mittel zum Zweck, aber sie ist auch nicht völlig zweckfrei: sie ist eine Möglichkeit der Verarbeitung von Realität, sie ist eine Möglichkeit, Spannungen durch Darstellung auszuhalten. Marlene Dumas, die niederländische Malerin, und Louise Bourgeois, die amerikanische Bildhauerin, nutzen ihre Kunst im Sinne einer solchen Daseinsbewältigung, die Merz innerhalb der Kunst strikt ablehnt.
Marlene Dumas etwa sagt von sich selbst: „Tragik, Liebe, Leiden, davon handelt mein Werk.“ Sie protestiert gegen eine Dominanz des Formalismus, gegen die sogenannte reine Kunst.
In ihrem Katalog ‚The Origin of the Species‘ schreibt sie:
„Ich verstehe, warum viele bildende Künstler die Verwendung von Sprache (in ihren Bildern; kb) nicht mögen. Sie befürchten, daß Worte das klare Wasser verunreinigen, das zu nichts anderem da ist, als den Himmel zu spiegeln. Worte stören die Freude am stillen Bild, die Freiheit von Geschichte, die Schönheit der namenlosen Form.
Ich möchte unsere Schmerzen benennen. (…)
Es gibt keine Reinheit, die zu beschützen wäre.“
Marlene Dumas hat die Angewohnheit, ihre Bilder, vor allem ihre Skizzen, mit Kommentaren zu versehen, das Bildhafte durch interpretierende Sätze zu ergänzen. Eine schattenrißhafte Skizze ihrer Tochter trägt den Zusatz: „Don‘t ask me questions, I won‘t tell you lies.“ – „Fragst du nicht, dann lüg ich nicht.“ – Zur documenta 9 kam sie 1992 mit einem Umhängebeutel, aus dem sie scheinbar achtlos eine Reihe von DIN A 5-Blättern hervorzog, die sie selbst als junges Mädchen darstellten. Als Modell dafür hatte sie ihre Tochter ausgewählt. Das Mädchen war Salome, und Salome tanzte mit einem abgeschlagenen Kopf, mit dem Haupt von Johannes dem Täufer. Kommentiert waren diese Skizzen mit dem Satz: „A young girl‘s problems with documenta IX“.

Ergänzt wurden die Schwarz-Weiß-Skizzen um ein gemaltes, farbiges Bild, das ebenfalls ein junges Mädchen zeigte. Der Betrachter sah das Mädchen von der Seite, das irgendwo saß, die Beine angewinkelt und dazwischen – wie von einem, der sich ausruht und sich streicheln läßt – der Kopf von Jan Hoet, dem Ausstellungsleiter. Marlene Dumas versuchte, mit diesen Bildern die erdrückende Dominanz von Jan Hoet zu verarbeiten. Sie hat auf dessen bestimmende Art mit Tötungsphantasien reagiert, mit Phantasien, die sie sichtbar macht, um ihnen die Macht zu nehmen. Malen anstelle von Töten, Kunst als sublimiertes Verbrechen.


Marlene Dumas ist in Südafrika aufgewachsen. Von daher hat ihre Äußerung, „es gibt keine Reinheit, die zu beschützen wäre“, eine zutiefst politische Dimension: Die Weißen haben dort für Jahrhunderte die monochrome Reinheit ihrer Rasse fanatisch vor Vermischungen mit den Schwarzen geschützt. Marlene Dumas aber lehnt die Einteilung der Menschen in Rassen ab. Ob jemand weiß oder schwarz ist, war für sie ohne Belang: denn die „Wunde eines jeden Menschen“, so sagt sie, „ist rosa“. Ihr Universalismus ist – im Gegensatz zu Gerhard Merz – nicht im himmlischen Reich der Ideen angesiedelt, sondern im irdischen der Verwundungen und Verletzungen. Nicht als Vollkommene sind alle Menschen gleich, sondern als Verwundete – und als Verwundbare. Damit wird eine Allgemeinheit hergestellt, die alle einschließt. Die Malerei von Marlene Dumas steht in der Tradition einer Kunst, in der die Woyzecks Menschen sind.
Tod und Tötungsphantasien hat auch Louise Bourgeois mehrfach skulptural bearbeitet. Ihr in dieser Hinsicht bekanntestes Werk trägt den Titel: ‚The Destruction of the Father‘, ‚Die Zerstörung des Vaters‘. Es war im März 1996 in Hamburg zu sehen. Von der Form und Größe her gleicht diese Arbeit einer aufgeklappten Sonnenbank; das Innere ist rund, konkav, und ist unter anderem bestückt mit halbkugelartigen Wucherungen und spitz zulaufenden Penisformen, so als könnte man mit ihnen zustechen und verletzen. Diese Skulptur wurde in einem abgedunkelten Raum präsentiert und mit rotem Scheinwerferlicht – ein wenig melodramatisch – ausgeleuchtet. Louise Bourgeois sagt im Ausstellungs-Katalog: „Das Ziel der ‚Zerstörung des Vaters‘ war es, die Angst zu vertreiben. Als diese Arbeit erst einmal dem Publikum gezeigt worden war, also da habe ich mich anders gefühlt. Ich möchte nicht den Ausdruck therapeutisch verwenden, aber Austreibung ist in der Tat eine therapeutische Maßnahme. Der Grund für dieses Werk war die Katharsis oder Reinigung.“
Die Zeitschrift a r t schrieb 1993 über Louise Bourgeois: „Als Kind litt sie unter den Liebschaften des Vaters und der Duldsamkeit der Mutter. Heute ist sie 81 Jahre alt, aber noch immer ist das schwierige Verhältnis zu den Eltern Thema ihrer spannungsreichen Skulpturen und Installationen.“
Traumatische Erlebnisse in der Kindheit eines Menschen können eben ein Leben lang bestimmend sein, und zwar so intensiv, daß man selbst im hohen Alter – trotz bewußter Verarbeitung – über diese Erlebnisse nicht vollständig hinausgelangt. Louise Bourgeois widerlegt mit ihrer Kunst eine der zentralen Denkfiguren, die in der Tradition der Kritischen Theorie durchs Feuilleton geistert, eine Denkfigur, die besagt, es gäbe so etwas wie ein Darüber-Hinaus-Sein. Versehen mit einem zeitlichen Index soll das besagen: Der moderne Mensch ist über emotionale Verstrickungen hinaus, er kennt keine Leidenschaft mehr, er löst alle Probleme im rational geführten Diskurs, er spricht nicht mehr mit Emphase, sondern gleichförmig und monoton. Aber Katharsis bedeutet gerade nicht, daß man sich von Gefühlen oder gar von Traumata gänzlich freimacht. Verletzungen mögen verheilen, die Narben jedoch bleiben.
Wenn Kunst eine kathartische Wirkung in erster Linie auf den Künstler selbst hat, dann unterstreicht das auch einen diametralen Gegensatz: ob nämlich Kunst die Funktion besitzt, Kränkungen, Verletzungen, Gewaltphantasien, Triebkräfte durch die Arbeit des Formens ans Licht zu bringen, dem, was einen im Inneren umtreibt, eine äußere Gestalt zu geben, oder ob Kunst das Reine konstruiert – mit Zirkel, Lineal und Reißschiene. Das Reine ist eine Kopfgeburt, bei der allenfalls das geschulte Gefühl für harmonische Raumaufteilung eine Rolle spielt. Reinigung, also Katharsis, akzeptiert die Existenz des Unreinen; der Hang zur puren Reinheit verleugnet es.
Kunst ist im wesentlichen eine Möglichkeit der Verarbeitung von Realität. Kunst zeigt, daß Wahrheit nicht etwas ist, daß sich konstruieren ließe, unabhängig und fern von all den Menschen, mit denen man unmittelbar oder in einem weitläufigeren Sinne in Beziehung steht. Die Realität bildet oft genug ein machtvolles Potential, um abzuwehren und zu unterdrücken, was weniger grausam, weniger egoistisch, weniger niederträchtig, gehässig und gleichgültig wäre als sie selbst. Es ist eine Aufgabe der Kunst, Machtverhältnisse zu reflektieren, Machtverhältnisse, die als solche immer dazu tendieren, die Spiegelung ihrer eigenen Unwahrheit zu verhindern.

Das Utopische in der Kunst liegt also nicht so sehr in der reinen Form, in der vollendeten Grazie der Linien; das Utopische in der Kunst liegt vielmehr in der Durchbildung komplexer, mitunter auch finsterer und keineswegs harmonischer Zusammenhänge. In solcher Durchbildung liegt ihre Parallelität zum Leben: Wahrheit erlangt Wirklichkeit erst als gelebte Wahrheit, und zwar als eine von Selbstreflexion begleitete Durcharbeitung der eigenen Person. Kunst ermutigt so zur Wahrhaftigkeit, sie ist ein Gegengift zur Macht individueller Lebenslügen und kollektiver Ideologien. Sie ist die anstrengendste Gestalt gewaltlosen Widerstandes. Die Meisterschaft in der Kunst und im Leben besteht in der Fähigkeit, die multipolare Vielfalt des Daseins je neu zu differenzieren.

 

 

Eine Ergänzung über den Stand der Kunstdinge im Jahre 2016

 

Die Ära der Siegerkünstler

21.05.2016 | 18:19 | von Sabine B. Vogel (Die Presse)

Radikalität war gestern: Kunst sei wieder eine Sache der Reichen geworden, analysiert Wolfgang Ullrich in seinem aufsehenerregenden Buch.

Es begann damit, dass sich in der Kunst seit der Jahrtausendwende keinerlei vorherrschender Stil abzeichnete. Dann wurde unübersehbar, dass nicht nur die Entwicklung klarer Tendenzen, sondern auch die lang gültigen Kriterien für Kunst verschwanden: Statt formaler Strenge kamen Gold und Glitter, spiegelnde Oberflächen ersetzten inhaltliche Tiefe, Innovation wich der Freude am ewigen Variieren: Je leichter ein Künstler wiedererkannt wird, desto besser verkauft sich die Ware.

Dazu kamen die Medien, die immer weniger über die Werke, stattdessen über Preisrekorde berichteten. Wie kann man diese neue Situation begrifflich fassen? Naheliegend schien eine Unterteilung wie in der Musik in U und E, Jeff Koons und Kollegen als Unterhaltung für jene, die auf schnellen Konsum und Besitztum setzen, Ernsthaftes für jene, die eine intellektuelle Herausforderung suchen. Manche Werke wie die Fotografien von Andreas Gursky legten den Begriff Herrschaftskunst nahe: Der Blick von oben auf Menschen und Maschinen als Wimmelbild entspricht der Perspektive in den Vorstandsetagen. Aber all das fasste die Situation nicht. Jetzt hat der deutsche Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich einen Begriff vorgeschlagen, der den aktuellen Kunstmarkt perfekt trifft: Siegerkunst.

In seinem gleichnamigen Buch analysiert Ullrich auf 144Seiten brillant, dass alle diese Irritationen seit der Jahrtausendwende auf eine zentrale Beobachtung hinauslaufen: Kunst ist wieder eine Sache der Reichen geworden. Nicht Kennerschaft zählt, sondern das Bankkonto. Der Wert der Kunst misst sich nicht am Diskurs, sondern am Besitz – eine radikale Veränderung gegenüber der Moderne.

Bis zum späten 18. Jahrhundert waren Bürger „allenfalls Zaungäste der Kunst“, wie es der 1967 geborene Publizist nennt. Kunst war damals kaum öffentlich zu sehen. Ausstellungen, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Erst in der Moderne entsteht eine „geistige Inbesitznahme“, also die Möglichkeit, Kunst zu interpretieren. Ullrich bezeichnet es als „die bildungsbürgerliche Kompensation mangelnder Zugangsberechtigung zur Kunst“. Ein relevantes Kunsturteil kann in der Moderne nicht mehr von Eigentümern oder Händlern kommen – sie sind dazu viel zu befangen und können nur einen Marktwert abschätzen. Stattdessen werden professionelle Betrachter und Kunstkritiker zu den Torhütern für Qualität. Die „Idealisierung des Rezipienten“ findet in den Museen als Ort verstaatlichter Kunst statt. Es ist ein revolutionärer Akt, ein Klassenkampf, in dem eines der letzten Privilegien der Aristokratie in die Zuständigkeit des Bildungsbürgertums übergeht.

Das ist heute vorbei. Auf die früheren Hof-, dann Ausstellungskünstler sind die Siegerkünstler gefolgt. Dafür sind Radikalität, Andersheit, Autonomie Kriterien von gestern. Wahrnehmungsveränderung, Verunsicherung, Läuterung oder gar Weltverbesserung durch Kunst ist nicht mehr intendiert, der Diskurs unwichtig. Und der Zielort solcher Kunst ist nicht mehr das Museum, sondern der Kunstmarkt.
Bewusste Geldverschwendung. Darum spricht Ullrich auch von Siegerkunst, die sowohl Künstler als auch Käufer bezeichnet: „Siegerkunst ist Kunst von Siegern für Sieger“ – ein noch kleiner Bereich, der in den Medien aber eine große Aufmerksamkeit erhält. Kunst ist wieder Luxus, und nicht die Werke irritieren, sondern deren Kauf. Ullrichs These dabei: Höchstpreisig seien meist Werke, die den Geschmack verletzen, also besonders kitschig sind, wie Jeff Koons Objekte, im Motiv banal, wie Damien Hirsts Punkt-Bilder, obszön oder aus billigen Materialien – wie die zurzeit beliebten Pappkartons, auf die gern Formen mit Blattgold aufgeklebt werden. Die Preise dafür beginnen meist im sechsstelligen Bereich, ohne Limit nach oben. Denn Siegerkunst sei eine bewusste Geldverschwendung, schreibt Ullrich: Sie demonstriere einen „gesellschaftlichen Ausnahmestatus“ und sei ein „daseinssteigerndes Besitzerlebnis“.

Das wirkt sich natürlich auch auf die Kunst selbst aus: vom Programm der Museen, die Rekordpreiskünstler als Quotenhit ausstellen, bis zum akademischen Diskurs. Immer häufiger verweigern Künstler die Abdruckgenehmigung ihrer Werke – weswegen es in Ullrichs Buch lauter leere, graue Flächen gibt. Und es endet bei der Ästhetik: Über den Umweg der Preise wird die bildungsbürgerliche Kontrolle über die Kanonisierung aufgehoben – nicht mehr die Diskurswächter, sondern die Besitzer bestimmen über Qualität. Warum sonst, fragt Ullrich, sollten Katharina Grosses und Gerhard Richters „Rakelbilder“, Liam Gillicks Designware oder Josephine Mecksepers pseudokritische Kunst erfolgreich sein? Vieles davon nennt er sogar „streberhaft“, weil es „möglichst überall erfolgreich“ sein will, „im akademischen Kunstdiskurs nicht minder als bei Sammlern“.

Zudem entwickeln sich Künstler zu Unternehmen, die immer größere Studios finanzieren müssen. Noch bauen sie auf den Versatzstücken der Moderne auf, aber irgendwann, so Ullrich, sei Kunst nur mehr Luxus – ohne jegliche Differenz zu Möbeln.
Wolfgang Ullrich: „Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust“. Wagenbach-Verlag, Berlin, 2016, 160 Seiten, 16,90 Euro.

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