Joseph Kosuth’s Passagen-Werk auf der DOCUMENTA IX nebst einigen Bemerkungen zur Konzept-Kunst (conceptual art)

>>I see a red door and I want it painted black / No colors anymore I want them to turn black.<< (Rolling Stones)

Im Jahre 1967 erschien in der amerikanischen Zeitschrift ARTFORUM ein Statement von Sol LeWitt mit dem Titel: Paragraphs on Conceptual Art. Dort heißt es unter anderem: >>I will refer to the kind of art in which I am involved as conceptual art. In conceptual art the idea or concept is the most important aspect of the work. When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a perfunctory affair.<<

Wenn man alt geworden ist, sagt man sich manchmal, ach hätte ich das damals doch gewußt. Damals, 1968, fotografierte ich für Christo auf der documenta IV den Aufbau des >5600 cubicmeter package<. Zugleich bewarb ich mich an der Kunsthochschule in Hamburg. Eine Aufgabe während der Aufnahmeprüfung bestand darin, geometrische, weiße Skulpturen zu zeichnen. Da ich nicht zeichnen konnte und „ohnehin nur“ Fotografie studieren wollte, durfte ich die Objekte schließlich mit der Kamera abbilden, das heißt, wer gegen Ende der sechziger Jahre Künstler werden wollte, der musste schon zu Beginn des Studiums das traditionelle handwerkliche Repertoire „drauf haben“ beziehungsweise eine Begabung dafür vorweisen. Auch hatte mir damals noch keiner etwas über die Theorie der >conceptual art< erzählt, andernfalls hätte ich Christos documenta-Arbeit als Konzept-Kunst identifizieren können, denn – wie der Fotoband zu dieser Arbeit belegt – gingen ihr ein ganzes Konvolut von Plänen voran, technische Zeichnungen, Entwürfe, Modelle. Ohne Handwerksbetriebe, ohne Studenten, ohne einen Ingenieur, der Christo ständig begleitete, ohne professionelle Statik-Berechnung wäre die documenta-Arbeit nie zustande gekommen.

Nach einigen Semestern an der HfbK wußte ich noch immer nicht, daß Ideen Kunst sind; entnervt vom begriffslosen bildnerischen Machen, wechselte ich zur Uni, um dort Philosophie zu studieren. Konzepte im Sinne Sol LeWitts, ohne ihn zu kennen, hätte ich genug gehabt: z.B. ein weißer Raum, in dem weiße Platten von der Decke hingen, ein Raum mit nur einer Fensterseite, so daß die Platten in die Tiefe des Raumes hinein immer dunkler wirkten. Mir fehlte aber nicht nur die Kenntnis der Theorie zur Rechtfertigung meiner Ideen als Kunst, sondern auch das Geld, diese realisieren zu lassen. Im übrigen ist Konzept-Kunst erheblich vielgestaltiger als das, was aus der Definition von Sol LeWitt hervorgeht.

Marzonas Buch >conceptual art< gibt einen Eindruck von dieser Vielfalt, aus der ich Joseph Kosuth herausgreifen möchte, genauer gesagt, seine Arbeit auf der DOCUMENTA IX, das auf Walter Benjamin bezogene Passagenwerk. Kosuth hatte zwei übereinander liegende Gänge in der Neuen Galerie mit den Fenstern zur Parkseite gewählt, und er hatte den oberen Raum weiß und den unteren völlig schwarz streichen lassen. Die formale Grundidee der Inszenierung war, die in der Neuen Galerie außerhalb der documenta-Zeit präsentierten Bilder, Skulpturen und Vitrinen zu belassen, so daß Kosuth die vorhandenen Werke schwarz beziehungsweise weiß verhängen lassen musste. Unterhalb der Decke verlief über die ganze Länge des Raumes ein Spruch->Band<, und auf den Tüchern waren Zitate angebracht, weiss auf schwarz beziehungsweise schwarz auf weiss. Jedes der Zitate wurde in deutsch und englisch präsentiert. So Kafka: >>Wir graben den Schacht zu Babel.<< >>We are digging the pit of Babel.<<

Konzept-Kunst im Sinne Kosuths – im Unterschied zu Sol LeWitt – heißt: Schrift. Schrift als Bedeutung, als Mitteilung von Bedeutung. Kosuth hat sich mit seiner Konzentration auf Sprache schon als Student (in den sechziger Jahren) gegen die Malerei abgegrenzt. Aber die bloße Antithese von Schrift und Bild ist nicht zu halten. Ein Beispiel: Marlene Dumas bezieht als Malerin die Schrift mit ein: >>I can see why many visual artists dislike words in artworks. They feel that words (…) disturb the pleasure of the silent image, the freedom from history, the beauty of the nameless forms. I want to name our pains.<<

Im Unterschied zu Kosuth jedoch artikuliert Sprache bei Dumas ihre eigenen Erfahrungen, z. B. wenn sie Skizzen präsentiert, die ein junges Mädchen zeigen, das mit dem abgeschlagenen Kopf von Jan Hoet Salome spielt, und Dumas kommentiert: >>A young girl’s problem with DOCUMENTA IX.<<

Im Vergleich dazu ist Kosuth der Philosoph des Allgemeinen, der dem Betrachter Zitate aus Literatur, Philosophie, Politik usw. präsentiert und dazu sagt, er möchte nicht, daß sich der Ausstellungsbesucher an die sinnlichen Reize von Bildern delektiert, sondern dieser solle denken und nachdenken, das Gelesene verarbeiten, durchreflektieren. Das klingt nach völliger Entsinnlichung, dem ist aber nur partiell so: Als sich kurz vor Beginn der DOCUMENTA IX die geheimnisvoll verschlossenen Türen der Kosuthschen Passagen (auch Documenta-Flânerie genannt) der Museumspädagogik öffneten, rief eine ältere Mitarbeiterin aus: >>Das ist ja bloß was für den Intellekt!<< Sie sagte nichts anderes als Virgil Hammock (art critic, Canada): >>the installation totally lacks any visual value.<< Und Hammock beschuldigt Kosuth, er sei mit verantwortlich >>for the near absence of craft in contemporary art<<. Beides bezweifle ich. Mich hat der schwarze Raum, als die Türen erstmals geöffnet wurden, überwältigt; mir stockte der Atem, noch bevor ich ein einziges Zitat lesen konnte. Die Vitrinen, Skulpturen und Gemälde waren durch die Verhängung anonymisiert, sie wirkten so düster wie eine Versammlung des Ku-Klux-Klan. Der langgestreckte Gang in Schwarz hatte sich in ein dreidimensionales Ad-Reinhardt-Bild verwandelt.

Das Passagen-Werk Benjamins ist, in Analogie zu Kunstformen der zwanziger Jahre, eine Montage aus Zitaten, die Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts in ihrem Wesen wiedergeben sollen (Stahlkonstruktion, Glasarchitektur, Métro usw.). Die Passagen von Haussmann, Vorläufer der heutigen Shopping-Malls, repräsentieren eine komplexes Ineinander aus Architektur, Waren, Käufern – und dem Flaneur als reflektierendem Beobachter. Die entscheidende Parallele zu Kosuth liegt in der Zusammenstellung von Zitaten und dem flanierendem Studium dieser Zitate durch den documenta-Besucher. Entscheidend ist nun – im Sinne Benjamins – in dem einen oder anderen Zitat eigene Erfahrungen wiederzuerkennen, etwas, das die eigene Gegenwart betrifft. So wäre beispielsweise ein Zitat von Dickens, in dem er die sozialen Mißstände des 19. Jahrhunderts beschreibt, aktuell für die gegenwärtige Verelendungpolitik durch die Agenda 2010. Benjamin, so Buck-Morss, sei es darum gegangen, und man kann das auch für Kosuth sagen, wenn man seine Texte liest, >>to awaken political consciousness among present-day readers.<<

PS.: Im Jahr nach der documenta 9, also in 1993, war Kosuth auf der Biennale in Venedig vertreten, und wenn ich mich recht erinnere, im ungarischen Pavillon. Jedenfalls gab es dort sehr viel Licht durch raumhohe Glasfenster. Die Wände gegenüber den Fenstern waren grau grundiert und darauf die Zitate angebracht. An eines erinnere ich mich, es hat sich mir tief eingeprägt, weil es mit meiner Erfahrung zu tun hat, der Erfahrung, dass Menschen in Gemeinschaft, als Gruppe in Arbeitszusammenhängen oder nur im privaten Bereich selten miteinander offen reden (können).

Das Zitat stammte von Platon und war auf Englisch direkt auf die Wand geschrieben:

We easily can forgive a child who is afraid of the dark; the real tragedy of life is when adults are afraid of the light.