Auf der Höhe der Zeit?
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Kritische Anmerkungen zum Kunstbetrieb
von Klaus Baum
“[P]roperty ha[s] become a fine art that [is] an end in itself.” (Ross Macdonald)
1.
In dem 1989 erschienen Band Ressource Kunst heißt es: „Kounellis >füllte< 1969 einen unterirdischen Saal der Galerie l‘Attico in Rom mit dem Atem, der Wärme, dem Geruch und dem Vibrieren von zwölf echten Pferden […] Der gesamte Galerieraum schien mit […] kraftvollen Energieträgern gefüllt. […] Der Archetyp Pferd könnte dem Betrachter helfen, seine eigene Identität wiederzufinden.“
Im Jahrbuch 1997 der Hamburger Kunsthalle kann man über die von Richard Serra direkt auf den Boden – in einem der neuen weißen Ungers-Räume – gegossenen Bleiskulpturen lesen: „Am Ende … wird der Betrachter vor den bleiernen Formationen auf sich selbst zurückgeworfen wie auf die Schwere der […] Existenz.“
Die Kunstinterpreten und Ausstellungsmacher wollen den Betrachter in der Regel vom Erkenntnisgehalt und von der Bedeutungsschwere eines jeden Werkes, das uns präsentiert wird, überzeugen. Es ist – über die letzten Jahrzehnte hinweg – immer wieder das gleiche. Im voraus wird für den Rezipienten festgelegt, was ihm ein Werk vermittelt: Es erweitert seine Wahrnehmung, verfremdet das Vertraute, stellt seine Sehgewohnheiten in Frage und eröffnet – wie die Raiffeisen- und Volksbanken – neue Horizonte. Es stiftet Identität und nimmt sie wieder. Das Blei von Serra ist das Gift, die Pferde von Kounellis sind das Gegengift. Die Museen für Gegenwartskunst gleichen Apotheken. In ihnen werden die Werke wie Medikamente verabreicht, die nach dem Prinzip der Kausalität wirken. Das Psychopharmakon hellt die Stimmung auf, das Blei von Serra wirft das Subjekt auf sich selbst zurück. So einfach ist das. Wir kommen gar nicht erst in die Verlegenheit, entscheiden zu müssen, ob wir uns finden oder auf uns zurückgeworfen werden wollen. Wenn uns aber ein Werk – entgegen seines ihm angeblich innewohnenden Wirkstoffes – völlig unberührt läßt, dann sind wir Repräsentanten des >gesunden Volksempfindens<.
Der Glaube an eine universelle Gültigkeit des Kausalitätsdenkens ist aber längst erschüttert. Wer also davon ausgeht, daß das, was er – als Autoritätsperson des Kunstbetriebs – in ein Werk hineinprojiziert, sich exakt so beim Betrachter als Wirkung einstellt, ist schon lange nicht mehr auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe einer einst geschichtsnotwendigen Illusion.
2.
Mit den meisten Journalisten und mit den meisten all derjenigen, die in irgendeiner Form Bildung über sich haben ergehen lassen müssen, um die nötigen Voraussetzungen zur Ausübung eines fachspezifischen Berufes zu erwerben, verhält es sich ähnlich wie mit jenen Männern, die sich Mühe geben, eine Frau für sich zu gewinnen, und die, haben sie diese erst einmal sicher, als erstes aufhören, sich regelmäßig zu duschen. Hat sich die Anstrengung gelohnt, kann man sich getrost gehen lassen.
Der Journalist hält sich zwar auf dem laufenden, aber man merkt seinen Kommentaren in der Regel an, daß er vor Jahrzehnten aufgehört hat, sich weiterzubilden. Seine Berufskrankheit besteht darin, daß er von der Fülle der Ereignisse überfordert ist; das Aktuelle erzwingt in derart starkem Maße seine Aufmerksamkeit, daß er gar keine Zeit mehr findet, seinen einst erworbenen Wissensstand, der ihm als Grundlage seiner Urteile dient, zu erweitern. Ständig greift er auf seine Ansichten von gestern zurück, um das Heute zu kommentieren. Was nicht seiner Erfahrung entspricht, was keine Ähnlichkeit mit seinen Vorurteilen hat, nimmt er entweder gar nicht erst wahr oder hält es für unbedeutend. Und wo es ihm gar zu ungewohnt erscheint, wehrt er es ab, rationalisiert er seine Ratlosigkeit durch Verdammung.
Die meisten Menschen sind dem Suchtkranken gleich: sie sind Wiederholungstäter. So wie Jan Fabre die Gegenstände dieser Welt mit blauem Kugelschreiber überzieht, Günther Uecker immer wieder nagelt oder Baselitz die Dinge auf den Kopf stellt, so ziehen die Kritiker die immer gleichen Register. Die Energie jedoch, die sie aufwenden, um nichts an sich heranzulassen, das ihre Defizite verringern könnte, würde ausreichen, sie abzubauen. Die Anstrengung, die für die tägliche Arbeit aufgewendet wird, dient nicht nur dazu, die einmal erworbenen Standards zu reproduzieren, sondern auch dazu, nicht an sich selbst arbeiten zu müssen. Die Kunstkritik, kaum Kritik, ignoriert, was über ihr Gebiet hinausgeht, und sie ignoriert die Kunstrichtungen, die Ismen, die ihr nicht passen. Der Kunstjournalismus hierzulande definiert sich selbst als Diktatur der positiven Berichterstattung. Wer DIE ZEIT liest, dem wird auffallen, daß es in ihr eine Theaterkritik gibt, eine Literatur-, eine Filmkritik, aber in nur eingeschränktem Umfange eine Kunstkritik.
Als 1993 Jurassic Park in die Kinos kam, berichtete H.-Ch. Blumenberg in der ZEIT (Nr. 36, 1993, S.49) über die Hintergründe: Ein Großkonzern benötigte dringend Kapital, machte sich auf die Suche nach einem Stoff und einem Regisseur; ein Drittel des Artikels handelte von diesem Konzern und davon, daß er Steven Spielberg erkor, weil dieser das Geschick besitzt, Filme zu produzieren, die hohe Gewinne einspielen. Vergleichbare Verflechtungen im Kunstbetrieb hingegen bleiben in der ZEIT unaufgehellt.
3.
Demjenigen, der das jeweils Aktuelle fetischisiert, mag es umständlich erscheinen, an etwas erinnert zu werden, von dem er zwar gehört, aber es nur flüchtig registiert hat, weil es ihm als vergangen und damit als bedeutungslos erscheint. Vielleicht ist es gerade diese Geringschätzung der Geschichte, die es erforderlich macht, daran zu erinnern, daß sich mit der Emanzipation des Einzelnen von der Bevormundung kirchlicher und weltlicher Macht das Hinsehen, der Augenschein, untrennbar verbindet. Galilei hat durch seine Beobachtung der Himmelskörper das alte Weltbild erschüttert: die Erde drehte sich doch. Luther als ein Repräsentant der Reformation hat gegenüber der Obrigkeit darauf bestanden, die Bibel mit eigenen Augen zu lesen und aufgrund dessen, was er da las, eigene Schlußfolgerungen zu ziehen. Hegel als ein Vertreter neuzeitlichen Philosophierens schreibt zirka dreihundert Jahre nach Luther, daß das Prinzip moderner Staaten darin bestehe, die Subjektivität sich bis zum Extrem entfalten zu lassen, bevor das Subjekt beginnt, im Sinne eines allgemeinen Wohles zu handeln, und er sagt in der Vorrede zur Rechtsphilosophie: „Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Protestantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.“ Man kann es auch anders sagen, daß nämlich in der Moderne – und dieser Begriff erhält dadurch einen antiautoritären Zug – Wahrheit nicht ohne die Beteiligung des Subjekts existiert: nichts als wahr anzuerkennen, was man nicht auch als wahr einsieht. Der hier ins Spiel kommende Begriff der Einsicht, das Verstehen einer Sache, enthält wie der des Begreifens noch das Moment sinnlicher Wahrnehmung: das Auge, das den Gegenstand sieht, die Hand, die ihn ergreift usw. Es soll Kinder geben, die noch lange nach dem Durchlaufen der ersten Klasse beim Rechnen ihre Finger zu Hilfe nehmen, weil dadurch die abstrakte Zahl tastbare Wirklichkeit erlangt.
Kant, der große Philosoph der Aufklärung, formuliert >Modernität< unter anderem so: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. [Die] Religion [- ich füge hinzu: die Kunstkritik – möchte; K.B.] durch ihre Heiligkeit […] und Gesetzgebung, [sie möchte] durch ihre Majestät […] sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erreg[t] sie gerechten Verdacht wider sich[,] und [sie kann] auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, [eine Achtung,] die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ Und an anderer Stelle heißt es bei Kant, daß wir unsere Wahrnehmungen und Urteile mit der Wahrnehmung und den Urteilen anderer vergleichen müssen, um sicher zu sein, daß wir nicht einer Einbildung zum Opfer fallen.
Was Kant im Sinne hat, wenn er andere zur Überprüfung eines Urteils hinzuziehen möchte, ist der Gedanke der Öffentlichkeit: daß wir unseren Verstand „auch an den Verstand anderer halten“, anstatt „uns mit dem unsrigen [zu] isolieren“. Diese Überprüfung dessen, was wir wahrzunehmen glauben und was uns als Grundlage unserer Schlüsse dient, bedeutet für Kant, daß wir „mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam öffentlich urteilen“. Das „größte und brauchbarste Mittel, unsere eigenen Gedanken zu berichtigen“, besteht darin, daß wir sie „öffentlich aufstellen, um zu sehen, ob sie auch mit“ dem Verstande – und man muß ergänzen: mit der sinnlichen Wahrnehmung – anderer „zusammenpassen[,] weil sonst etwas bloß Subjektives (z.B. Gewohnheit oder Neigung) leichtlich für objektiv würde gehalten werden“.
4.
Bemerkenswert an den Überlegungen Kants, zieht man sie zur Charakterisierung der Kunstberichtserstattung heran, ist, daß diese, obzwar sie öffentlich stattfindet, doch überwiegend nichts anderes ist, als Ausdruck einer sich selbst verbergenden Neigung zur Oberflächlichkeit, die derart mächtig ist, daß sie als nicht mehr hinterfragbare Objektivität erscheint. Nicht daß einer Neigungen hat, ist zu kritisieren, ebensowenig, daß ihm das Privileg zuteil geworden ist, seine Ansichten zu veröffentlichen, sondern daß sein Privileg so stark geworden ist, daß durch seine Macht andere zum Schweigen verurteilt werden und ihnen Öffentlichkeit vorenthalten wird. Jürgen Weber, ein figürlich arbeitender Bildhauer, verdeutlicht in seinem Buch Die Entmündigung der Künstler, daß innerhalb der Trias „Kunsthandel-Museen-Kunstkritik“, die die öffentliche Meinung in den Jahrzehnten nach 1945 dahingehend bestimmte, was als Kunst der Moderne anzusehen sei, konträre Standpunkte massiv unterdrückt worden sind. Will Grohmann, Werner Haftmann, um nur zwei zu nennen, haben sich derart intolerant für die abstrakte Kunst eingesetzt, daß sie dem, was Hegel und Kant unter Moderne verstanden, eklatant widersprachen, das heißt, diese und andere Kunstkritiker haben zwar ihre Vorliebe für ungegenständliche Kunst öffentlich gemacht, dabei aber einen derartigen Druck ausgeübt, daß andere Positionen in der Gegenwartskunst ignoriert oder, wo sie doch eine Öffentlichkeit erreichten, diskreditiert wurden. Die perfideste Form der Abwehr von Kritik an den herrschenden Kunstauffassungen bestand und besteht nach wie vor im Faschismusvorwurf. Das Schema ist simpel: Die Kunst der Nazis war gegenständlich, also ist alle gegenständliche Kunst Nazikunst. Ein anderes Argument ergab sich aus der Identifikation der westlichen Alliierten, insonderheit der Amerikaner, mit dem Begriff der Freiheit. Westkunst nach 1945 ist freie Kunst, auch in Abgrenzung gegen den sozialistischen Realismus, und da diese Kunst (z. B. Pollock, Newman, Rothko) abstrakt ist, kann Freiheit nur abstrakt sein. Ausdruck solchen Glaubens ist die bis heute (so noch im KUNSTFORUM über Radikale Malerei von 1987) virulente Ansicht, daß das Fehlen eines Gegenstandes in der Kunst die Freiheit vom Gegenstand bedeutet. Diese Auffassung ist jedoch eher ein Indiz für die Freiheit vom Denken, denn alles Begehren ist ein bestimmtes Begehren. Freiheit ist sinnvoll nur als Freiheit – oft genug im Sinne spannungsvoller Selbstbeherrschung – gegenüber den einzelnen Objekten der Begierde, aber nicht als Freiheit von allen Objekten schlechthin. Die Gleichsetzung von monochromer Malerei mit Freiheit an sich zeugt von obstinater Hirnlosigkeit oder von der hartnäckigen Weigerung, elementare Lebenserfahrungen ins eigene Denken einfließen zu lassen. Allein die Erfahrung, die sich aus der frühkindlichen Entwicklung ergibt, müßte einem jeden deutlich machen, daß wir ohne Gegenstände gar keine differenzierte Entfaltung durchlaufen würden; wir würden seelisch und geistig verkrüppeln. Ein Baby im Krabbelalter würde in einem völlig leeren Raum apathisch verharren, während ein einziger Gegenstand schon derart stark stimuliert, daß das Baby sich auf ihn hin bewegt, um ihn zu ergreifen. Wir bedürfen der Vielfalt der Gegenstände und der mit ihnen sich verbindenden sinnlichen Qualitäten – wie zum Beispiel der Farbe, Formen, Gerüche und Töne, der Veränderungen des Lichts -, um überhaupt leben zu können.
5.
Die Erfinder und Nachsprecher unreflektierter Behauptungen finden sich in allen Lagern. (Die Kunst>kritik< kann in dieser Hinsicht als Avantgarde der Journaille gelten. Diese ist zum gemeinschädlichen Nachplapperverein der von Politik und Wirtschaft in die Welt entlassenen Phrasen verkommen.) Ist bei den Anhängern abstrakter Kunst der Gedanke einer Freiheit vom Objekt gedankenlos reproduziert worden, so bei Beuys-Schülern die Ansicht vom Denken als etwas Cerebralem. Denken soll im Vergleich zum Fluß alles Lebendigen Fixierung bedeuten: Das Cerebrale als das aus dem Gehirn Kommende ist sogleich und immer nur das Verknöcherte und somit dem Lebendigen entgegengesetzt. Zwar trifft diese Auffassung das dem Denken inhärente Moment der Vergegenständlichung, sie übersieht aber, daß Denken vor allem dazu dienen kann, der Erstarrung entgegenzuarbeiten – durch Selbstreflexion. Indem ich zum Beispiel Fixierungen an mir selbst beobachte, durch die kritische Wahrnehmung des eigenen Inneren Unbeweglichkeit, Trägheit, Verkrampfungen erkenne und sie mit Hilfe des Denkens versuche zu verflüssigen, kann ich nicht mehr davon reden, daß Denken lebensfeindlich wäre. Der „höhere Schwachsinn“, den Ulrich Greiner (DIE ZEIT, Nr. 14, 1988, S.55) in der Sprache der Beuys-Interpreten diagnostizierte, ist Ausdruck der Unfähigkeit, sich der Sprache so zu bedienen, daß sie durch eigene Wahrnehmungen mit Authentizität erfüllt wird. Das Denken tastet sich nicht mehr an dem, was der Körper empfindet, was in ihm an seelischen Prozessen vorgeht, entlang. Sprache und Wirklichkeit fallen auseinander. In der unreflektierten Rede vom Abtötenden des Denkens wird, weil man nicht differenziert, wann das Denken fixiert, wann es Fixierungen durchschaut und löst, gerade das Cerebrale reproduziert.
6.
Doch zurück zum Niveau einer Kunstkritik, die primär das Abstrakte als Kunst tolerierte. Grohmann und Haftmann – als Vertreter ihrer Profession – haben Abstraktion und Moderne identifiziert, und sie haben diese Identifizierung verabsolutiert, was gleichzeitig bedeutete, sie haben die gegenständliche Kunst als ein für alle mal überholt erklärt. So wie Hegel um 1800 das Ende der Kunst verkündete, so galt alles Figurative nach dem Zweiten Weltkrieg als historisch veraltet, als endgültig vergangen. Dieser Haltung wohnt die Vorstellung inne, daß die sogenannte fortgeschrittene Reflexion das Maß aller Dinge sei. Es mag ja sein, daß das Denken des einen historisch angemessener ist als das eines anderen, aber das kann doch nicht heißen, daß dieser eine sich damit das Recht erwirbt, andere zu dominieren. Wahrheit und Wahrhaftigkeit stehen im Gegensatz zur Unduldsamkeit gegenüber allem, was nicht dem eigenen Entwicklungsstand entspricht. Geschichte ist kein lineares Fortschreiten, in der nur die Avantgarde auf das Territorium der Wahrheit vorgedrungen wäre, eine Avantgarde, der alle anderen folgen müßten; Geschichte ist vielmehr die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das Tolerieren solcher Ungleichzeitigkeiten und Differenzen hat u. a. zu tun mit der Fähigkeit, sich an der eigenen Geschichte rückwärts zu tasten, sich in sich selbst hineinzuversetzen und zu erinnern, wie man sich fühlte, als man eine Veränderung noch vor sich hatte. Die Selbstreflexion sollte auch dazu dienen, den anderen wahrzunehmen, anstatt die eigenen Erfahrungen dem anderen als die einzig richtigen aufzudrängen.
7.
Was die herrschende Kunstkritik (vgl. Jürgen Weber, Die Entmündigung der Künstler, Köln 1987, S. 227-253) getan hat, ist nichts anderes, als die eigenen Vorlieben für die historisch angemessenen zu setzen und durchzusetzen, und zwar mit einem gehörigen Maß an Ausblendung, das bereits bei Mondrian zu finden ist. Die Mondriansche Religion, der (neu-)platonische Ekel vor der Vergänglichkeit alles Körperlichen, hat nach 1945 im >Territorium Artis< der westlichen Welt Oberwasser gewonnen. Doch wie alle Herrschaft, die einst als Freiheitsbewegung begann, hat sie im Prozeß ihrer Etablierung ein unduldsames Element angenommen, ein Element, das man in der Zwischenzeit oft auch als die Arroganz der Macht bezeichnet hat. Wer einmal etabliert ist, wer sich durch seine Teilhabe an den meinungsbestimmenden Medien um sein Auskommen keine Gedanken mehr machen muß, verliert sehr leicht die Wahrnehmung von unten, die Froschperspektive. Solche Arroganz geht dann zumeist einher mit Realitätsverlust. Man hat es nicht mehr nötig, sich zu legitimieren, und ist der Mühe enthoben, eben auch dort genau hinzusehen, wo Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken nicht durch Autoritäten, vor denen man einen Kotau zu machen gewohnt ist, gedeckt sind.
8.
Die hierarchische Fixierung im Journalismus gipfelt u. a. in Formulierungen, wie denen von Gunter Hofmann, daß nur noch das Denken von Grass und Habermas um Auschwitz kreise (DIE ZEIT, Nr. 35, 1995, S. 1). In welch starkem Maße muß ein führender Journalist die Vielfalt der Realität aus dem Auge verloren haben, wenn er nur noch Grass und Habermas sieht, nur noch das Prominenteste wahrnimmt. Grass war im Sommer des Jahres 1995 allerorten im Gespräch, da auf höchst widerwärtige Weise Marcel Reich-Ranicki über die neueste Publikation von Grass, den Roman Ein weites Feld, herfiel, sie buchstäblich zerriß. Daß Hofmann darauf hinweist, daß im Denken von Grass und Habermas die Erfahrung von Auschwitz eine Rolle spielt, ist ihm unbenommen, aber die Formulierung „nur noch Grass und Habermas“ ist Ausdruck einer Mißachtung all derjenigen, die sich ernsthaft darum bemühen, sei es in ihrem Handeln oder in ihrem Denken oder in der Verbindung von beidem, daß Auschwitz sich nicht wiederhole. Hofmann hat als Journalist gar keine Zeit mehr, sich um weniger prominente Menschen und deren Äußerungen zu kümmern, also konzentriert er sich auf die, die im Hellen sind, und verwechselt seine reduzierte Sicht mit dem Zustand der Gegenwart. Nicht anders ist es mit der Wahrnehmung Alfred Nemeczeks bestellt, der mit leicht gesenktem Kopf und ein wenig schüchtern den Leser seiner Kolumne anlächelt, und zwar so, als wolle er sich dafür entschuldigen, daß er seine Urteile schon lange nicht mehr begründet. Dieser sympathisch wirkende Mann behauptet generös: Viele Künstler heute „malen impressionistisch, expressionistisch oder post festum abstrakt, und das verschafft ihnen Freude, Einkommen, Zufriedenheit. Nur eine Minderheit leidet darunter, daß sie beim Diskurs durchs Sieb fällt, und wittert eine Verschwörung“. (ART, Nr.2/97, S. 57) Wenn einer nur Umgang pflegt mit etablierten Künstlern, dann kann er wohl der Meinung sein, die Mannigfaltigkeit künstlerischer Betätigung werde heute mit Einkommen und Zufriedenheit belohnt. Jeder werde gleichermaßen wahrgenommen, geliebt, gepflegt, gefördert. Die meisten Künstler hingegen, die ich kenne, können sich in dieser Sicht von Nemeczek nicht wiederfinden. Die führenden Journalisten leiden massiv an Realitätsverlust. Was der Privilegierte nicht wahrnimmt, existiert nicht. Wenige Seiten vorher heißt es in derselben ART über die Malerin Jeanne Mammen, die in den zwanziger Jahren in Berlin ihr Talent der Presse anbot: „Von dem Schock, von den Erniedrigungen, wenn sie mit ihrer Zeichenmappe in den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften erschien und immer wieder abgewiesen wurde, hatte sie eine lebenslange Bitterkeit zurückbehalten.“ (S. 50) Diese Zeilen stammen nicht von Alfred Nemeczek, und sie beziehen sich auf die Vergangenheit, auf eine Vergangenheit aber, die für viele immer wieder zu einer aktuellen Erfahrung wird. Das verschafft den Abgewiesenen – oft werden ihre Arbeiten noch nicht einmal zur Kenntnis genommen, so daß ein Urteil über Qualität oder Nicht-Qualität gar nicht möglich ist – keineswegs Einkommen und Zufriedenheit. Was an Nemeczeks Kolumnen auffällt, ist, daß er seine Sticheleien, so z. B. gegen Enzensberger, nicht begründet. Der Mangel an den Tugenden des Argumentierens, Tugenden, die man im Deutschunterricht schon erworben haben sollte, macht sich darin bemerkbar, daß die Begründung des Gegners nicht aufgegriffen wird. Nemeczek mokiert sich über Enzensberger Kritik am Avantegardeanspruch der monochromen Malerei, des Tachismus und des action painting; greift aber den Gehalt dieser Kritik nicht auf, nämlich den Gedanken, daß künstlerische Form einen Prozeß der Vermittlung durchlaufen müßte. Vermittlung meint, die Bedingungen des Materials zu studieren, das Auge und die Hand zu schulen, die künstlerischen Techniken zu beherrschen, anstatt zu glauben, man könnte ohne Übung und ohne jegliche Anstrengung, spontan, aus dem Stand heraus, mit rascher, unduldsamer Geste >drauflos künstlern<. Die Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung im künstlerischen Schaffensprozeß wäre es doch immerhin wert, auf die verschiedenen Aspekte ihrer Berechtigung hin durchleuchtet zu werden. Aber die Vorstellung Enzensbergers wird nicht auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit hin befragt, sondern Enzensberger wird prinzipiell abgetan, weil er Avantgarde kritisiert. Nemeczek erspart sich dabei jegliche Differenzierung des Avantgardebegriffs. Diese Art von Kunstkritik repräsentiert das Ende der Reflexion.
9.
Karriere und Aufstieg unterliegen einer fatalen Dialektik: Je mehr man sich die Hinwendung zum nicht Etablierten, zum Ungedeckten leisten könnte, desto weniger hat man sie nötig. Und das führt auf den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: Warum haben so viele Kunstkritiker, die seit Jahrzehnten in den Chefpositionen der namhaften Blätter sitzen, es nicht der Mühe wert befunden, sich dem Studium der ästhetischen Theorie zu unterziehen, die wachsende Fähigkeit begrifflichen Denkens mit der eigenen Erfahrungsfähigkeit zu vermitteln, das eigene Wahrnehmen und Urteilen differenzierter und komplexer werden zu lassen. Warum hat dies nicht stattgefunden? Eben, weil man es nicht mehr nötig hat. Zwar darf der Kunsthistoriker Walter Grasskamp in der ZEIT (Nr. 48, 1996) behaupten, „man sieht nur, was man liest“, aber dennoch liest man die philosophische Ästhetik nicht, wohl weil sie zu schwierig ist. Die Ästhetische Theorie Adornos ist 1970 erschienen, jetzt, siebenundzwanzig Jahre später, ist von dem, was Adorno geleistet hat, um Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden, so gut wie nichts zu bemerken. Das einzige, was als Klischee in der Kritik herumgeistert, ist die Auffassung, man sei darüber hinaus, Bestimmtes gehe nicht mehr. Es ist ein Avantegardeverständnis, mit dessen Hilfe man seine subjektiven Vorlieben generalisiert.
Zwischen dem sogenannten fortgeschrittensten Denken der Gegenwart und der gewöhnlichen Realität besteht eine gewaltige Kluft. In der Literatur, der Philosophie, der Kunst, des Films ist ungewöhnlich viel klar und deutlich ausgesprochen worden, doch im täglichen Leben der Menschen ist davon wenig aufzufinden. Proust charakterisierte einmal die Erfahrung des Schreibens mit den Worten: „Wir benennen in der einen Welt und leben in einer anderen. Zwischen diesen beiden Welten gibt es keine wirkliche Verbindung.“ Extrem spürbar ist der Gehalt dieses Satzes gerade in der Welt der bildenden Kunst, und zwar deshalb, weil von ihr ein Anspruch auf Wahrhaftigkeit ausgeht. Wegen dieses Anspruches wird das Verkrüppelte der Menschen, die Kunst verwalten, organisieren, präsentieren, vermarkten und vermitteln, besonders schmerzhaft spürbar. Die Diskrepanz zwischen dem menschlichen Vermögen eines Künstlers und seinem Werk ist schon groß, aber noch viel gravierender ist sie zwischen der Kunst und den Ausstellungsmachern, den Katalogredakteuren, den Kunstvereinsleitern und der Kulturdezernentin. Neid, Intrigen, Selbstüberschätzung, Eitelkeit, Dominanzgebaren und eine Fülle weiterer infantiler Eigenschaften sind an der Tagesordnung. Nirgendwo sonst gönnt man dem anderen so wenig das Brot unter der Butter wie im Kunstbetrieb.
10.
Der bereits erwähnte Aufsatz von Walter Grasskamp Man sieht nur, was man liest verstand sich als „Ehrenrettung des Kunstkommentars“. Grasskamp zufolge erkennen wir nur das als Kunst, was ausdrücklich durch Sprache als Kunst bezeichnet wird. Ich hatte beklagt, daß ich bei den allermeisten Kunstjournalisten etwas vermisse, nämlich die ernsthafte Auseinandersetzung mit philosophischer Ästhetik. Es gibt nun ein Kunstjournal, das für sein philosophisch orientiertes Vokabular eher berüchtigt als berühmt ist: das Kunstforum. In ihm hat sich die Sprache, ich zögere von Philosophie zu reden, verselbständigt. Es handelt sich um eine Form abstrakter Begrifflichkeit, die Ausdruck von Halbverdautem ist und die sich wie ein Gitter über die Realität legt. Sprache zeigt hier ihren zutiefst zweideutigen Charakter: Sie dient nicht nur der Klärung von Realität, sondern ebenso der Vernebelung. K. M. Michel hat im Kursbuch 99 (Kunst – Betrieb, 1989) über diese Art von Sprache geschrieben: „Nicht die Reflexion hat die heutige Kunst überflügelt, sondern ein finsterer Spiritualismus.“ Es ist aber auch die Gestalt von Sprache, die DIE ZEIT, wenn ich mich recht erinnere, zu Beginn der achtziger Jahre, als >Lacancan und Derridada< charakterisierte. Der Name von Dietmar Kamper tauchte im Zusammenhang des Derridadaismus ebenso auf wie im Zusammenhang der Kritik der Kunstkritik von Michel. Lyotard, Baudrillard, Bürger, Jappe, Schmidt-Wulffen, Zweite, Szeemann, Brüderlin erweisen sich als die sprachlichen Aufmotzer vom Dienst: Unverstandene philosophische Begrifflichkeit wirkt wie eine Art Kunstdünger, mit dessen Hilfe das Banale aufgeblasen wird, in der Hoffnung, die Größe täusche über den Mangel an Gehalt hinweg.
11.
Was ich mit dem Zusammenhang von Sprache und Erfahrung meine, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Harald Szeemann schreibt in seinem Buch Zeitlos auf Zeit. Das Museum der Obsessionen über Niele Toroni, einen Maler, der nichts anderes tut, als in regelmäßigen Abständen kleine Farbquadrate (mit ausgefranster Pinselstruktur) auf weiße Wände zu setzen: „Wer kennt nicht das Gedicht von Getrude Stein, in dem durch Wiederholung das ursprünglich durch das Wort evozierte Bild der Rose in ein Sprachbild überführt und dadurch duftende Poesie wird. Niele Toroni wiederholt seinen Abdruck eines Pinsels seit 1967 in der Zeit und im Raum. Und nie ist er dasselbe, weil dasselbe ist dasselbe ist dasselbe weit vom Dasselbe sich löst. Der Pleonasmus wird zur Batterie. Die Energie in der Wiederholung zur offenen Struktur.“ (S. 347)
Als erstes wäre zu fragen, wo in der angedeuteten Endlosigkeit des Satzes „a rose is a rose is a rose“ die duftende Poesie zu finden ist, und zweitens, wieso die immergleiche Tätigkeit Energie produziert. Die Erfahrung zeigt doch eher das Gegenteil: Wiederholung verzehrt Energie. Die Wiederholung des Immergleichen wirkt entleerend, verbindet sich mit dem Gefühl von Ödnis und Langeweile. Karl Philipp Moritz z. B. hat in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser diese Erfahrung bereits vor über zweihundert Jahren beschrieben. Ein solcher Roman kann in viel stärkerem Maße >avantgardistisch< sein als die zur Avantgarde erklärte inhaltsleer-schöne Gegenwartskunst. Moritz verdeutlicht, wie bedrückend die Monotonie der Arbeitswelt ist, aus der sich Anton während seiner Hutmacherlehre in Braunschweig hinausträumt, um die leere Gegenwart besser durchhalten zu können. Damit bestärkt er den Leser, sofern dieser Ähnliches durchlaufen hat, in seinen Gefühlen und Empfindungen. Er sagt: Wenn man die ewigen Wiederholungen als seelisch belastend empfindet, ist das nicht Ausdruck von Schwäche, sondern es ist ein Symptom für berechtigte Lebensenergie, für einen Hunger nach Erfahrung, nach Vielfalt, nach Erkenntnis, nach Eigenständigkeit. Die Begrifflichkeit, mit der Harald Szeemann hingegen die freiwillige Selbstversklavung Toronis an die immer gleiche Einfaltspinsligkeit überhöht, hat ausgrenzende Wirkung, es bedeutet dem Leser, wenn du nicht verstehst, was ich hier in abstrakt-metaphysischer Sprache sage, dann hast du keinen Zugang zur Kunst. Die Sprache, die Szeemann für die Arbeit Toronis findet, ist schlicht aufgeblasen. Was inhaltlich nicht vorhanden ist, muß sprachlich beschworen werden. Der Leerform der Malerei entsprechen die Leerformeln des Textes. Man könnte es auch noch krasser sagen: Seit der Verlag Lindinger + Schmid in den neunziger Jahren damit begonnen hat, die Texte der Ausstellungsmacher zu veröffentlichen, wird endlich nachvollziehbar, warum in den Jahrzehnten davor so viel Leer-Kunst in den Museen zu sehen war. Eine der Ursachen dafür ist eine Form des Denkens, in der sich die Abspaltung des Inneren der Ausstellungsmacher von ihren Äußerungen manifestiert. Die Sprache, die sie sprechen, hat keinen Bezug mehr zu dem, was sie fühlen, empfinden, erleiden. Und wenn man nur das sieht, was man sprachlich artikulieren kann, dann müßte man auf eine ungeheuere Leere bei diesen Menschen stoßen. Die Eintönigkeit der Malerei Toronis hat mit dem Bedürfnis des Menschen nach Vielfalt, nach Abwechslung, nach Entfaltung all seiner Kräfte, nach Erfahrung, Erfüllung des Lebens, sie hat mit komplexer Gestaltung einer komplexen Realität nichts zu tun. Wenn Szeemann also sagt, der Pleonasmus werde zur Batterie, dann ist das eine bloße Setzung, der keine Realität entspricht; und so ist der Kunstcharakter, der den jahrzehntelangen Wiederholungen Toronis innewohnen soll, bloß behauptet. Und das führt auf die fatalen Implikationen des schon erwähnten Aufsatzes von Walter Grasskamp, der hinter der Formulierung, man sehe nur, was man zuvor an sprachlichen Identifikationsmustern erworben hat, verbirgt, daß Kunst im wesentlichen dadurch entsteht, daß man etwas als Kunst bezeichnet. Er schreibt: Kunst ist „immer unsichtbar gewesen und ist es auch heute noch, denn man erkennt sie nicht, ohne daß sie einem als solche vorgestellt wird. Da nicken die Gegner der modernen Kunst ganz fleißig, denn es gehört zu ihren Lieblingsthesen, daß die zeitgenössischen Machwerke nur über das komplizenhafte Geraune angeblicher Eingeweihter zur Kunst gemacht werden. Die gebildeteren unter ihnen berufen sich auf Arnold Gehlen, der schon vor dreißig Jahren der abstrakten Kunst vorhielt, wie kommentarbedürftig sie doch sei. Seine These lebt bis heute selbst in Tagesdebatten nach und ist damit eine der erfolgreichsten der modernen Ästhetik. Tatsächlich hat Gehlen immer noch recht, nicht nur, was die abstrakte, sondern auch, was die moderne Kunst insgesamt angeht: Einen schlichten Plattenweg des amerikanischen Bildhauers Carl Andre muß auch der nicht auf Anhieb als Kunst identifizieren, der sich in der aktuellen Szene ansonsten gut auskennt, zumal wenn die Platten – wie am Münsteraner Aasee – ganz beiläufig in einer Wiese plaziert sind.
Trotzdem ist Gehlens These falsch, weil sie nur gegen die moderne Kunst ins Feld geführt wird; sie trifft – anders als ihr Urheber es erkannt hat – auf die gesamte Kunstgeschichte zu. Kunst ist nämlich ohne Erläuterungen immer unsichtbar gewesen, und erst die Kommentare haben sie zu dem gemacht, als was wir sie heute ansehen.“
Gehlens These, liest man sie richtig, ist trotzdem nicht falsch, denn was Gehlen meinte, hat nichts damit zu tun, daß man die tautologische Reproduktion (dies ist selbst ein Pleonasmus) einer gewöhnlichen Alltagshandlung zur Kunst erklärt. Verlegt ein Gärtner Platten, so ist das handwerkliche Arbeit; verlegt Carl Andre Platten, ganz genauso wie ein Gärtner (vielleicht hat er zum Überfluß dies auch noch von einer Gartenbaufirma ausführen lassen), nennt man das Kunst. Was die regelmäßig im Laufe der letzten Jahrzehnte wiederkehrenden Witze über Gegenwartskunst satirisch aufspießen – so die tiefsinnige Interpretation einer Leiter, die einen Schatten auf die weiße Wand wirft, und so anregt, über das Wesen des Lichts zu philosophieren (und dann stellt sich heraus, die Leiter ist von den Malern vergessen worden) -, was solch ein Witz aufspießt, ist eben der mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennbare Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst.
Was Gehlen aber meinte, hat zu tun mit dem, was Goethe unter dem Begriff des Symbols verstand: Das Symbol unterscheidet sich deutlich von einer Alltagshandlung, von einem Gebrauchsgegenstand, und es repräsentiert seinen Gehalt, weist nicht bloß auf ihn hin, das heißt, in traditioneller Kunst ist ein Element enthalten, daß auch ohne Erklärungen anzeigt, hier handelt es sich um ein Kunstwerk. Es ist das Element der Form: in der Dichtung gewöhnlich die Versmaße, der Reim. Meisterhaft gesprochen, wird Poesie hörbar, ihr Rhythmus, ihr Klang, ihre Musikalität sprechen im Hörer etwas an, das vorsprachlich ist und vermutlich die Sehnsucht nach Erfüllung, nach Intensität und Wahrheit im Menschen evoziert.
Die ästhetische Theorie um 1800 hat zwischen Allegorie und Symbol unterschieden. Demzufolge ist die Allegorie die Darstellung eines Begriffs: Der Mann mit dem Totenkopf und der Sense verkörpert den Tod, die Bedeutung ist klar, einfach, nicht rätselhaft; das Symbol hingegen besitzt eine unendliche Fülle an Bedeutungsnuancen, eine Fülle, die durch keinen Begriff gänzlich zu erfassen ist. Wenn Grasskamp behauptet, in früheren Jahrhunderten sei ein Kunstwerk erst durch Erklärungen als Kunstwerk erkennbar gewesen – und er führt dafür Beispiele an -, dann ist dagegenzusetzen: Was die Werke der Vergangenheit zu Kunstwerken machte, war die Meisterschaft ihrer Urheber. So wie es Bernini gelang, der Schwere des Steins Flügel zu verleihen, so gelang es Shakespeare, die Komplexität des Menschen in Versen so zur Darstellung zu bringen, daß man spürt, hier ist etwas gelungen, das Qualität hat, auch wenn man es nicht sogleich versteht; so wie das passive Verstehen einer Fremdsprache das aktive Sprechvermögen weit übersteigen kann, so ist die Ausdruckskraft großer Werke bereits wahrnehmbar, noch ehe man gesagt bekommt, dieses oder jenes sei Kunst. Ein Drama Shakespeares, eine Skulptur Berninis hat seinen, hat ihren Gehalt in sich, die De-Stijl-Bilder Mondrians und der Suprematismus Malewitschs haben den größten Teil ihres Gehalts in eben der Theorie, die die Künstler ihren Werken selbst hinzugefügt haben.
Die Frische der Primärfarben bei Mondrian, die Ausbalanciertheit der Farbflächen ist zwar deutlich spürbar, daß aber diese Bilder Epiphanien der Utopie sein sollen, daß die Harmonie der Komposition Universalharmonie meint, die in Gestalt der Malerei Vorwegnahme eines noch ausstehenden gesellschaftlichen Zustands darstellt, ist den Bildern nicht anzusehen: Das erfährt man erst aus den theoretischen Erläuterungen Mondrians. Nicht anders verhält es sich mit Malewitsch. Das schwarze Quadrat ist nicht Ausdruck malerischen Unvermögens, sondern besagt, daß die durch das Bewußtsein der Menschen in die Schöpfung gekommene Entzweiung die Natur zerstört: Die Natur hat sich ein destruktives Potential dadurch selbst gegeben, daß der Mensch sich denkend ihr entgegensetzen kann, um sie denkend beherrschen zu wollen.
Mondrian ist fortschrittsgläubig: Das naturwissenschaftlich-technische Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts war für ihn die fortgeschrittenste Gestalt menschlichen Bewußtseins, und deshalb malte Mondrian abstrakt – in Parallele zur Mathematisierung der Naturwissenschaften. Malewitsch ist ein großer Skeptiker gegenüber der Geschichte, Fortschritt zu sehen, ist ihm ein Irrglaube. Er möchte zurück in den Stand ungeschiedenen Seins, zurück in jene Nacht, in der, wie Hegel an Schelling kritisierte, alle Kühe schwarz sind. (Das Bild der monochromen Schwärze gibt es als Sprachbild schon bei Hegel; die Kritik am Wahrheitsanspruch dieser Monochromie ebenfalls.) Die bei Mondrian und Malewitsch im Medium des Bildes reflektierten Grundprobleme menschlichen Daseins sind unmittelbar aus den Bildern nicht abzulesen. Die Bilder bedürfen einer sie begleitenden Theorie, aus der ersichtlich ist, was sie bedeuten sollen. Und genau das hat Gehlen gemeint. Grasskamp benutzt die Ausweitung der These Gehlens auf die gesamte Kunstgeschichte, um durch diesen Schlenker behaupten zu können, auch die Nicht-Kunst der Gegenwart sei Kunst, man muß sie nur als solche definieren. Erklärt man das Nüsseknacken zur Kunst (Kafka), dann sieht man in ihm auch Kunst. Genau das stimmt aber nicht.
Um bei den >Klassikern< zu bleiben: Ein grobschlächtiger Mensch mag die Leichtigkeit von Berninis Skulptur Apollo und Daphne nicht erkennen; ein Grundschüler aus einem geistfernen Elternhaus weiß möglicherweise gar nicht, daß es einen Dichter namens Shakespeare gibt, aber er kann durch Weiterbildung dahin gelangen zu erkennen, welch tiefe Einsichten Shakespeare in die Natur des Menschen besaß. In seinen Dramen hat selbst das Böse (Richard III.) Format, nämlich die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Der Tyrann sagt zu sich selber: „Lächeln kann ich, und lächelnd morden […] Ich wate bereits so tief in Sünde, daß Verbrechen weitere Verbrechen nach sich ziehen.“ Woher soll in der bildenden Kunst das Niveau kommen, wenn die, die sie betreiben, noch nicht einmal in der Lage sind, die trüben Instinkte ihrer Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung sich bewußt zu machen. Alle Kunst aber, die heute noch nicht einmal die historisch längst erreichte Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion in sich aufgenommen hat, ist hinter Shakespeare zurück und hat mit Avantgarde nichts zu tun.
12.
Der fortschreitenden Entwicklung eines Menschen, die mit der Zunahme sprachlichen Vermögens einhergeht, wird sich der Kunstcharakter komplexer Werke, die ihren Inhalt in sich tragen, allmählich erschließen; die Leere von Tautologien hingegen bleibt leer, so weit man sich auch entwickeln mag. Was allerdings sichtbar wird, ist die Willkür, mit der in der Gegenwart Banales zur Kunst erklärt wird, die Willkür im Zusammenspiel mit dem Faktor Macht innerhalb des Kunstbetriebes (z. B. das Interesse der betuchten Sammler an der Wertsteigerung der von ihnen eingekauften Werke). Was in dem vorn zitierten Aufsatz von Grasskamp völlig fehlt, ist die Reflexion des Zusammenhangs von Sprache und Macht. Die Macht versucht, die Wahrnehmung der Menschen durch sprachliche Schönfärberei zu manipulieren. DIE ZEIT, um im Genre zu bleiben, veröffentlichte vor über dreißig Jahren die Büchner-Preis-Rede von H. M. Enzensberger „Wirklich, aber gespenstisch“, eine Reflexion auf den zweiten deutschen Staat, der sich, pleonastisch (der Pleonasmus sollte zur Batterie werden: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“), als Volksdemokratie bezeichnete, es aber nicht war. Und Enzensberger rückte die Sprache zurecht, ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Der Arbeiter- und Bauernstaat ist kein Staat von Arbeitern und Bauern, sondern ein Staat über Arbeiter und Bauern.“ Wenn man aus der ZEIT lernen konnte, daß die bloße Benennung einer Sache noch längst nicht der in der Benennung liegenden Qualität zur Wirklichkeit verhilft, ja, daß Worte genau das Gegenteil von dem besagen sollen, was unter ihrer Flagge tatsächlich geschieht, dann fragt man sich, wo angesichts der Thesen von Grasskamp das historische Gedächtnis der ZEIT-Redakteure geblieben ist. Es muß ja nicht bis in die erste Hälfte der sechziger Jahre zurückreichen. Barbara Sichtermann berichtete vor einigen Jahren in einer ihrer Fernsehkritiken in der ZEIT – es ging um das Mitläufertum in der DDR – von einem Experiment: Jemand wird in einen Raum gebeten, in dem eine Gruppe von Menschen um einen Tisch sitzt. Auf dem Tisch liegen unterschiedlich lange Mikadostäbe. Es wird die Aufgabe gestellt, den längsten unter den Stäben zu bestimmen. Der Gast verleugnet unter dem Druck der Gruppe seine Wahrnehmung, er schließt sich dem Urteil der anderen an, die einen kürzeren Stab als den längsten ausgeben. Ein ähnlicher Druck geht von der Autorität dessen aus, was in den etablierten Medien veröffentlicht, was von renommierten Ausstellungsmachern gezeigt, was als „auf der Höhe der Zeit“ (Uwe M. Schneede) befindlich angesehen wird. Was zählt, ist nicht so sehr der Gehalt, sondern die Reputation, deren Zustandekommen sich einer rationalen Analyse oftmals nur schwer erschließt. Wenn man lediglich das sieht, was man zuvor gelesen hat, dann hat Walter Grasskamp noch nichts über das Verhältnis von Herrschaft und Wirklichskeitswahrnehmung gelesen. Ein Beispiel für dieses Verhältnis war der Boxkampf zwischen Botha und Schulz. Die Zuschauer hatten einen anderen Kampf gesehen als die Punktrichter. Daß diese Botha entgegen dem Augenschein zum Sieger erklärten, war vor allem auf die Interessen des mächtigen Promotors Don King zurückzuführen. U. Schröder schrieb dazu in der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung vom 27. Januar 1996: „Man handelt […] je nach Einfluß und Finanzkraft. Geld ist im Spiel, viel Geld. Schließlich steht Botha unter den Fittichen von King. Und der hatte die Karriere seines Schützlings schon gewinnbringend geplant, von einem Fight gegen Mike Tyson geträumt.“
13.
Eine der Parallelen, die sich zum Kunstbetrieb ziehen läßt, liegt in den finanziellen Interessen von einflußreichen Sammlern, die als Leihgeber oder sogar als Museumsstifter fungieren, aber diese Interessen sind nur der besondere Ausdruck für etwas Allgemeineres, nämlich für die Dominanz der Intentionalität der am Kunstbetrieb beteiligten Subjekte. Es ist sicherlich keine Frage, daß große Kunst sich durchsetzt (irgendwann), aber es ist ebenfalls keine Frage, daß nicht alles, was sich derzeit in den Ausstellungen behauptet, wirklich Kunst ist. Es gibt im Kunstbetrieb Karrieren, die sich eher aus dem Zusammenspiel narzißtischer Bedürfnisse von Künstlern, Kunsthochschul-Professoren, Juroren (z.B. des Schmidt-Rottluff Stipendiums), Galeristen, Museumsleitern und denen, die ihre Eitelkeiten auf Vernissagen befriedigen, herleiten, als aus der Substanz der Werke. Das Wechselspiel subjektiver Intentionen, die psychische Energie, die dazu antreibt, nach oben zu kommen, vielleicht auch die Fähigkeit der Glätte im Auftreten, Leichtigkeit im Umgang mit anderen sind ausschlaggebender als der Gehalt. Die Etablierten neigen dazu, den Irrationalismus, der sie unterschwellig zusammenkittet, sich nicht einzugestehen oder ihn gar offen zu reflektieren, sondern sie haben den Hang, sich selbst zu mystifizieren. Wer aufgenommen wird, so lautet der Mythos, ist nur aufgenommen worden, weil er besser ist als die, die nicht aufgenommen worden sind. Es gibt Menschen unter ihnen, die überzeugen durch ihre Eloquenz; wer mit unerschütterlicher Selbstgewißheit Halbwahrheiten äußert, hat mehr Erfolg, als der zurückhaltende und skrupelöse Charakter. Wer es vermeidet, sich aufzudrängen, wird zurückgedrängt.
Die zweite Parallele, die es zwischen dem Boxkampf Schulz-Botha und dem Kunstbetrieb gibt, besteht darin, daß die Besucher von Ausstellungen etwas anderes sehen, als die Ausstellungsleiter, die Punktrichter. Das vielzitierte Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ist keineswegs nur Ausdruck des gesunden Volksempfindens, sondern es ist vor allem Ausdruck dafür, daß sehr oft gebildete Kunstinteressierte in dem, was ein Kunstwerk sein soll, gar keines zu erkennen vermögen. Der Kunstcharakter ist so manchem Werk selbst nicht inhärent, sondern er wird behauptet dadurch, daß das Werk auf der documenta oder in einem der Museen für Gegenwarts-Kunst präsentiert wird.
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Wenn Besucher das Gefühl haben, sie werden mit einem Null-Werk, einem Placebo konfrontiert, und dieses Gefühl wird von denen, die im Kunstbetrieb aktiv sind, verunglimpft, dann entmündigt man die, die sich noch eine klare Wahrnehmung und ein klares Urteil bewahrt haben. Im übrigen ist die Antithese von Ausstellungsmachern und kritischen Besuchern falsch, da die Künstler untereinander sich viel kompromißloser in Frage stellen. Gerhard Merz zum Beispiel hat sich der Gleichsetzung von Geometrie und Ideal verschrieben, sein Maß ist die verchromte Reißschiene; Merz lehnt alle Kunst selbstherrlich ab, die nicht der Darstellung des Ideals dient. Ilya Kabakov ist das Gegenteil von Merz – er arbeitet die schäbige Realität der ehemaligen Sowjetunion auf: Er wies die Studenten an, die ihm beim Aufbau des Toilettenhäuschens auf der DOCUMENTA IX behilflich waren, keine Wasserwaage zu verwenden; entsprechend windschief sah das Häuschen dann aus. Mo Edoga kritisiert das Kunstverständnis von Merz, der nur Ideen liefert und diese von Handwerkern ausführen läßt. Der zentrale Begriff bei Mo Edoga heißt Könnenschaft, in Abgrenzung zur bloßen Wissenschaft. Wissen muß über eine >Übungskultur< in Können übergehen, Utopie ist nur im eigenen Handeln zu verwirklichen. Ebenso ist die Verwendung von verwitterten, krummen Schwemmhölzern bei Mo Edoga der Merzschen Fetischisierung der Geometrie entgegengesetzt. Francis Bacon spricht davon, daß die Malerei in Abgrenzung zur ungegenständlichen Kunst die Grausamkeit der Realität wieder zur Darstellung bringen müsse: „To bring back in painting the shock you get from reality.“ Bacon verwendet sehr oft in seinen Bildern die Komposition von Farbflächen, wie man sie bei abstrakten Malern findet, mit dem Unterschied, daß bei ihm die Farbfelder die Grundlage bilden für die Darstellung des Körpers. Mark Tansey, Teilnehmer der documenta 8, kritisiert die monochrome Malerei als „Victory over Mastery“ (so der Titel eines seiner Bilder, auf dem ein Anstreicher die Malerei Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle mit einer Farbwalze weiß überrollt). Marlene Dumas kritisiert die Flucht aus der Geschichte, die sich im Hang zur reinen Malerei und zur puren Form manifestiert. Via Lewandowski hatte auf dem Dach des Kasseler Staatstheaters 1992 durch ein Rohr alle halbe Stunde eine Rauchwolke verpuffen lassen: Er wollte damit aufmerksam machen auf so manche Nichtigkeit, die in Ausstellungen gezeigt wird. Hans Haacke war auf der Biennale 1993 mit einer Arbeit vertreten, die auf den ersten flüchtigen Blick an G. Merz erinnerte: Haacke hatte im deutschen Pavillon eine rote Fläche mit zwei schwarzen flankiert. In der mittleren Fläche, der roten, befand sich bei Haacke eine Art schwarzes Quadrat, schwarz war aber bloß der Rahmen des Bildes, das u. a. Hitler auf einer Biennale in den dreißiger Jahren zeigte. Die Flächen, zirka vier Meter hoch, schwarz, rot, schwarz, wirkten edel, hätten – anstelle des Fotos nur ein schwarzes Quadrat – eine Arbeit von Merz sein können, hinter der aber, als man um die Ecke bog, sich ein Raum zeigte, dessen Fußbodenplatten herausgerissen und übereinandergetürmt waren wie die Eisschollen auf C. D. Friedrichs Bild Gescheiterte Hoffnung. Die Rückansicht der eleganten Vorderseite betonte das Gerüsthafte, entlarvte die >polierte< Front als propagandistische Täuschung. Die Platten, über die man gehen konnte, krachten unter jedem Schritt, wie poröse Knochen, wenn sie brechen. Ein anderer Künstler äußerte einmal – auf die Feststellung hin, daß ein Maler die Freiheit haben müsse, ein Bild zu malen, auf dem nur drei Striche zu sehen sind – sinngemäß folgendes: „Selbstverständlich hat er diese Freiheit, aber Freiheit besteht auch darin, aus ihr etwas ganz Blödsinniges zu machen. Das muß man akzeptieren. Man wird niemanden vorschreiben können, wie er zu malen hat. Das ist doch seine ganz eigene Verantwortung. Wenn er sich aber bemüßigt fühlt, sich überhaupt nicht zu orientieren über das, was heute in einem substantiellen Sinne Kunst sein kann, wenn er also zufrieden ist, daß er kurzfristig auf dem Kunstmarkt Geschäfte abwickelt, dann wird er nichts hervorbringen, was besonders künstlerisch wäre. Aber er wird vielleicht für kurze Zeit finanziellen Erfolg haben. Wer aber malt, um in erster Linie Erfolg zu haben, widerspricht dem Hauptgesetz der Kunst […] Im Reich der Kunst kann nicht nur Kunst entstehen, sondern es entsteht auch Anstreicherkunst.“ Die Differenzierung, die hier geleistet wird zwischen Freiheit und blödsinnigem Gebrauch der Freiheit, sucht man nahezu vergebens bei Kunstkritikern, Ausstellungsmachern und denen, die vom Verkauf der unter der Flagge künstlerischer Freiheit entstandenen Werken leben. Die in der Tradition der Philosophie Hegels gebräuchliche Gedankenfigur der bestimmten Negation ist im Kunstbetrieb so gut wie nicht zu finden. Kritik am schlecht Gemachten, am Einfall, der rasch verpufft, am Selbstgefälligen, an der bloßen Geste wird stets als Angriff auf die Freiheit der Kunst empfunden. Ich scheue mich zu sagen, daß das obengenannte Zitat von Beuys stammt, denn entscheidend ist ja nicht die >Autorität<, die hinter einem Gedanken steht, sondern entscheidend ist dessen Wahrheit oder Unwahrheit. Es gibt aber in Deutschland eine derart machtvolle Herrschaft geistigen Mittelmaßes, die nur das gelten läßt, was von >Prominenten< stammt. Wer nicht zur Prominenz zählt, hat zwar das Recht, eigene Gedanken zu äußern, aber man geht desinteressiert über sie hinweg, auch dann noch, wenn sie differenzierter, treffender, prägnanter sind. Diese Hierarchiefixierung, hinter der sich die Angst davor verbirgt, sich seines eigenen Verstandes und seiner eigenen Wahrnehmungen zu bedienen, verrät das in Deutschland immer noch latent wirksame Führerprinzip. Der zu jung verstorbene Wolfgang Max Faust schrieb 1992 über die >erschreckend normierten und angepaßten Personen<, die sich mit Hilfe unverdauter, aber >dekorativ< vorgetragener (Kunst-)Theorien als Intellektuelle tarnen, „daß sie das Wort >Ich< meiden wie der Teufel das Weihwasser“. (ART, Nr. 4, 1993, S. 48f.) Oder umgekehrt: Sie meiden es so, als wäre das Ich an sich kriminell, schmutzig, unrein, und deshalb darf es – wie eine Verschwörung der Mafia – nicht ans Licht kommen. Man lebt nach der Devise: Wo Es ist, soll es bleiben.
Eine der großen Ausnahmen unter den Kunstkritikern ist Robert Hughes (USA). Er sieht zum Beispiel in den Arbeiten von Baselitz „manierierte Mittelmäßigkeit“ und in den Bildern von Rainer Fetting nur „Schrott“. (In Deutschland würde man vor den Konsequenzen solcher Äußerungen zittern – und lieber den Mund halten.) Die gesammelten Kritiken von Hughes sind unter dem Titel Denn ich bin nichts, wenn ich nicht lästern darf (München 1993) erschienen. Sie sind außerordentlich lesenswert, denn Hughes besitzt jene geistige Souveränität (die Fähigkeit, genau hinzusehen, und die, das Gesehene eigenständig zu reflektieren), die fast allen deutschen Kritikern im Bereich der bildenden Kunst abgeht. Die Bedeutung einiger Künstler, vor denen man hierzulande eine Verbeugung macht (Warhol zum Beispiel), wird bei Hughes erheblich relativiert. Hughes arbeitet Hintergründe heraus, unterscheidet zwischen wichtigtuerischer Gestik und wirklichem Gehalt eines Werks; er analysiert die verquaste Sprache seiner Kollegen (zum Beispiel das mystische Geraune im Zusammenhang der Bilder von Rothko) und die Irrationalität im Kunstbetrieb. Hughes leistet über die Kritik der Werke hinaus eine sehr präzise Analyse der Sprache Baudrillards, der als ein Spezialist plakativer Generalisierungen die Wirklichkeit in seinen Schriften immer wieder zum Verschwinden bringt. Bei Nemeczek, und das ist ein fast unfairer Vergleich mit Hughes, findet man lediglich eine mokante Bemerkung über den französischen Soziologen: Nemeczek greift in seiner Kolumne (ART 2/97) die Verwendung von Modeworten in der Kunstkritik auf, so den Begriff des >Diskurses<. Dieser, sagt Nemeczek, wird „gewöhnlich geliefert in schwarzen Luftballons á la Baudrillard oder als weiße Salbe á la Groys“. Damit, so lehnt sich der Leser zufrieden zurück, hat er doch alles über Baudrillard erfahren. Und gleich noch etwas über Groys. In einem einzigen Satz. Sollte Alfred Nemeczeks heimliche Liebe dem Minimalismus gelten? Jan Hoet hat übrigens auf der DOCUMENTA IX Donald Judd nicht ausgestellt, und zwar mit der Begründung, dessen Werke seien ihm zu eindimensional.
15.
Im übrigen sollte man unterscheiden lernen zwischen den Aggressionen von Kleinbürgern gegenüber der Kunst, weil sie dem Bedürfnis nach Anschauung des Vertrauten widerspricht, und solchen Aggressionen, die durch die Arroganz der Macht hervorgerufen werden, einer Macht, die auch Nicht-Kunst als Kunst definiert und damit – den Begriff der Avantgarde mißbrauchend – über die Wahrnehmung mündiger Museumsbesucher hinweggeht und sie – weil sie anderer Meinung sind – als Kunstbanausen diffamiert. Im Boxkampf Botha-Schulz wurde das Publikum aggressiv – es warf mit Champagnerflaschen -, weil Botha von den Punktrichtern als Sieger ausgegeben wurde, obwohl er offensichtlich keiner war. Es ist dann nicht die Sache selbst, die aggressiv macht, sondern es ist die Zumutung, etwas als berechtigt anerkennen zu sollen, dessen Wahrheit partout nicht einsehbar ist.
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Am 23. 2. 1997 brachte kulturreport (ARD) einen Bericht über den Russen Brener. Er steht in Amsterdam vor Gericht, denn er hat ein Attentat begangen; er hat unwiderruflich die Authentizität einer der Ikonen der Moderne beschädigt: Malewitschs weißes Kreuz auf hellgrauem Grund. Brener hatte auf das Bild – großflächig – ein grünes Dollarzeichen geschmiert. Markus Lüpertz, der Malerfürst, so kulturreport, wurde zu diesem ungeheuerlichen Frevel befragt. Ohne auf die spezifischen Motive, die Brener angab, einzugehen, äußerte sich Lüpertz wie einst die CSU-CDU gegenüber dem Terrorismus. Diese hatte die linke (Gesellschafts-)Kritik verantwortlich gemacht, nicht die Terroristen selbst. Es ist nun erstaunlich, wie konservativ ein Künstler argumentieren kann, wenn dasjenige angegriffen wird, was er selbst repräsentiert. Man muß die Tat Breners nicht gutheißen, aber ebensowenig kann man die Kritik an bestimmten Zumutungen des Kunstbetriebs dafür verantwortlich machen. Im übrigen bestehen berechtigte Zweifel daran, ob Brener die Auseinandersetzungen in Westeuropa über Kunst und Nicht-Kunst kennt. Breners Argument war, die Kunst sei nur noch Ausdruck materieller Werte, was zählt, sei ihr Preis, aber nicht ihr Gehalt. Wenn er wirklich schöpferisch gewesen wäre, hätte er selbst ein Bild im Stile Malewitschs angefertigt und es dann mit dem Dollar-Zeichen versehen. Es fragt sich aber, ob man Brener so wahrgenommen, ob Frau David zum Beispiel ein solches Bild auf der documenta X gezeigt hätte. Wahrscheinlich nicht. Und damit ergibt sich eine Parallele zu dem, was Enzensberger in seinem Buch Aussichten auf den Bürgerkrieg sinngemäß schreibt: Ein Rechtsradikaler, der ein Ausländerwohnheim anzündet, hat es leichter, in die Medien zu kommen, als einer, der Jahrzehnte daran gearbeitet hat, subtiler, sensibler, differenzierter zu werden. Das Spektakuläre (die rücksichtslose Gewalt) erhöht die Wahrscheinlichkeit, wahrgenommen zu werden, denn es garantiert Einschaltquoten und Auflagenhöhen. Oliver Stone hat das auf fragwürdige Weise in seinem Film Natural Born Killers deutlich gemacht. Stones Film-Statement und Enzensbergers Buch treffen sich in diesem Punkt. Wenn es darum geht, einen Sündenbock für die Tat Breners zu finden, dann ist nicht die Kritik an schlechter Kunst dafür veranwortlich zu machen, sondern eher die hermetische Abschottung der Etablierten gegenüber denen, die im Dunkeln sind.
Es mag all denen, die aufgrund guter Einkommen vom Kampf um Anerkennung befreit scheinen, entgangen sein, daß sich ein immer stärkeres Haßpotential aufbaut (in ihren Rachephantasien stapeln die Ausgeschlossenen schon die Bomben) und eine Wut auf alle Priveligierten, einschließlich der Politiker, die sich am Staat mit ihren Diäten, Übergangsgeldern, Umzugshilfen und Pensionen bereichern und gleichzeitig die Kulturetats kürzen, Theater und Bibliotheken schließen und den Sozialstaatsgedanken diskreditieren. Es soll Verlage geben, die die Erlöse aus dem Verkauf ihrer Zeitschriften, Aufsatzbände und Bücher einstreichen und das Autoren-Honorar vom Sozialamt bezahlen lassen. Kunst, die auf der Höhe der Zeit sein will, muß ein Gespür für die Zuspitzung des gesellschaftlichen Konfliktpotentials haben. In der Literatur über Kunst ist davon noch nichts zu spüren. Noch feiern wir die Kunst und uns selbst – in der einen Hand das Champagnerglas und in der anderen das Messer.
(Dieser Aufsatz ist veröffentlicht in: Materialien zur documenta X, herausgegeben von Werner Stehr und Johannes Kirschenmann, Ostfildern-Ruit 1997, S. 211ff.)
Über den Stand der Kunstdinge im Jahre 2016
Die Ära der Siegerkünstler
21.05.2016 | 18:19 | von Sabine B. Vogel (Die Presse)
Radikalität war gestern: Kunst sei wieder eine Sache der Reichen geworden, analysiert Wolfgang Ullrich in seinem aufsehenerregenden Buch.
Es begann damit, dass sich in der Kunst seit der Jahrtausendwende keinerlei vorherrschender Stil abzeichnete. Dann wurde unübersehbar, dass nicht nur die Entwicklung klarer Tendenzen, sondern auch die lang gültigen Kriterien für Kunst verschwanden: Statt formaler Strenge kamen Gold und Glitter, spiegelnde Oberflächen ersetzten inhaltliche Tiefe, Innovation wich der Freude am ewigen Variieren: Je leichter ein Künstler wiedererkannt wird, desto besser verkauft sich die Ware.
Dazu kamen die Medien, die immer weniger über die Werke, stattdessen über Preisrekorde berichteten. Wie kann man diese neue Situation begrifflich fassen? Naheliegend schien eine Unterteilung wie in der Musik in U und E, Jeff Koons und Kollegen als Unterhaltung für jene, die auf schnellen Konsum und Besitztum setzen, Ernsthaftes für jene, die eine intellektuelle Herausforderung suchen. Manche Werke wie die Fotografien von Andreas Gursky legten den Begriff Herrschaftskunst nahe: Der Blick von oben auf Menschen und Maschinen als Wimmelbild entspricht der Perspektive in den Vorstandsetagen. Aber all das fasste die Situation nicht. Jetzt hat der deutsche Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich einen Begriff vorgeschlagen, der den aktuellen Kunstmarkt perfekt trifft: Siegerkunst.
In seinem gleichnamigen Buch analysiert Ullrich auf 144Seiten brillant, dass alle diese Irritationen seit der Jahrtausendwende auf eine zentrale Beobachtung hinauslaufen: Kunst ist wieder eine Sache der Reichen geworden. Nicht Kennerschaft zählt, sondern das Bankkonto. Der Wert der Kunst misst sich nicht am Diskurs, sondern am Besitz – eine radikale Veränderung gegenüber der Moderne.
Bis zum späten 18. Jahrhundert waren Bürger „allenfalls Zaungäste der Kunst“, wie es der 1967 geborene Publizist nennt. Kunst war damals kaum öffentlich zu sehen. Ausstellungen, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Erst in der Moderne entsteht eine „geistige Inbesitznahme“, also die Möglichkeit, Kunst zu interpretieren. Ullrich bezeichnet es als „die bildungsbürgerliche Kompensation mangelnder Zugangsberechtigung zur Kunst“. Ein relevantes Kunsturteil kann in der Moderne nicht mehr von Eigentümern oder Händlern kommen – sie sind dazu viel zu befangen und können nur einen Marktwert abschätzen. Stattdessen werden professionelle Betrachter und Kunstkritiker zu den Torhütern für Qualität. Die „Idealisierung des Rezipienten“ findet in den Museen als Ort verstaatlichter Kunst statt. Es ist ein revolutionärer Akt, ein Klassenkampf, in dem eines der letzten Privilegien der Aristokratie in die Zuständigkeit des Bildungsbürgertums übergeht.
Das ist heute vorbei. Auf die früheren Hof-, dann Ausstellungskünstler sind die Siegerkünstler gefolgt. Dafür sind Radikalität, Andersheit, Autonomie Kriterien von gestern. Wahrnehmungsveränderung, Verunsicherung, Läuterung oder gar Weltverbesserung durch Kunst ist nicht mehr intendiert, der Diskurs unwichtig. Und der Zielort solcher Kunst ist nicht mehr das Museum, sondern der Kunstmarkt.
Bewusste Geldverschwendung. Darum spricht Ullrich auch von Siegerkunst, die sowohl Künstler als auch Käufer bezeichnet: „Siegerkunst ist Kunst von Siegern für Sieger“ – ein noch kleiner Bereich, der in den Medien aber eine große Aufmerksamkeit erhält. Kunst ist wieder Luxus, und nicht die Werke irritieren, sondern deren Kauf. Ullrichs These dabei: Höchstpreisig seien meist Werke, die den Geschmack verletzen, also besonders kitschig sind, wie Jeff Koons Objekte, im Motiv banal, wie Damien Hirsts Punkt-Bilder, obszön oder aus billigen Materialien – wie die zurzeit beliebten Pappkartons, auf die gern Formen mit Blattgold aufgeklebt werden. Die Preise dafür beginnen meist im sechsstelligen Bereich, ohne Limit nach oben. Denn Siegerkunst sei eine bewusste Geldverschwendung, schreibt Ullrich: Sie demonstriere einen „gesellschaftlichen Ausnahmestatus“ und sei ein „daseinssteigerndes Besitzerlebnis“.
Das wirkt sich natürlich auch auf die Kunst selbst aus: vom Programm der Museen, die Rekordpreiskünstler als Quotenhit ausstellen, bis zum akademischen Diskurs. Immer häufiger verweigern Künstler die Abdruckgenehmigung ihrer Werke – weswegen es in Ullrichs Buch lauter leere, graue Flächen gibt. Und es endet bei der Ästhetik: Über den Umweg der Preise wird die bildungsbürgerliche Kontrolle über die Kanonisierung aufgehoben – nicht mehr die Diskurswächter, sondern die Besitzer bestimmen über Qualität. Warum sonst, fragt Ullrich, sollten Katharina Grosses und Gerhard Richters „Rakelbilder“, Liam Gillicks Designware oder Josephine Mecksepers pseudokritische Kunst erfolgreich sein? Vieles davon nennt er sogar „streberhaft“, weil es „möglichst überall erfolgreich“ sein will, „im akademischen Kunstdiskurs nicht minder als bei Sammlern“.
Zudem entwickeln sich Künstler zu Unternehmen, die immer größere Studios finanzieren müssen. Noch bauen sie auf den Versatzstücken der Moderne auf, aber irgendwann, so Ullrich, sei Kunst nur mehr Luxus – ohne jegliche Differenz zu Möbeln.
Wolfgang Ullrich: „Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust“. Wagenbach-Verlag, Berlin, 2016, 160 Seiten, 16,90 Euro.
© DiePresse.com
Schon in den 60ger Jahren mußte man sich für realistisches Arbeiten praktisch entschuldigen oder sie zumindestens erklären, indem man ihre „gesellschaftliche Relevanz“ nachwies (HfbK Hamburg). Dieser Beitrag ist Balsam. Er enthält die Argumente, die uns damals leider fehlten und noch viel mehr. Danke dafür.
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