(Text wird noch einmal durchgesehen, korrigiert und um Anmerkungen ergänzt)

Klaus Baum

Darstellung als Verdrängung

Anmerkungen zu Judd, Mondrian,
Malewitsch und Beuys

“Le néo-plasticisme en effet s’épanouit mieux dans le Metro
que dans Notre-Dame et ii préfère Ia Tour Eiffel au Mont Blanc.”

Mondrian

“Das war dumm-, daß Gott Loos am 6. Tag nicht um Rat gefragt hat.
Er hätte ihn mit tödlichem Ernst auf alle Konstruktionsfehler aufmerksam gemacht.”

Kokoschka über Adolf Loos

Angenommen, es gäbe an einer der bestehenden Kunsthochschulen einen Professor, der philosophisch gebildet und – Hegel relativierend – der Auffassung wäre, Kunst sei ihre Zeit in Bildern erfaßt, und der über seine philosophische Bildung hinaus ein undogmatischer Lehrer wäre, so würde er zulassen, daß folgende Aufgabe von seinen Studenten sowohl bildnerisch-plastisch als auch literarisch gelöst werden könnte: Stellen Sie dar, wie das gesamte gesellschaftliche Leben ziellos nur noch sich selber reproduziert, wie es zur Tautologie seiner selbst wird.

Die skulpturale Lösung dieser Aufgabe in jener imaginären Klasse wird von Donald Judd eingereicht‘: Holzkisten, die, an der Wand hängend, zum Betrachter hin offen sind. Ihr Nicht-Inhalt variiert leicht: Eine Kiste ist nichts als eine Kiste, die zweite enthält eine diagonal von vorn nach hinten verlaufende Holzfläche, die dritte eine Kiste in der Kiste – Variationen zum Thema Kiste, weiter nichts.

Die literarische Lösung stammt von Franz Kafka. Der kleine Text ist überschrieben mit dem Titel “Kuriere”:

“Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.”

Dem Betrachter, der beim Anblick der Holzkisten Langeweile empfindet und der sich fragt, was diese Leere soll, wird von professionellen Kunstdeutern zumeist die Auskunft erteilt, nicht der Künstler sei für die Leere seines Werks verantwortlich, sondern die Gesellschaft, denn diese sei selbst inhaltsloser Betrieb und darauf weise der Künstler bloß hin, er gebe einen Denkanstoß. Gesetzt, dem wäre so, dann spricht die bloße Reproduktion des nur noch sich reproduzierenden Lebens allenfalls die Reflexion an, das, was Roland Barthes “studium”(3) nennt, ein Zur-Kenntnis-Nehmen aus wohlwollendem Interesse. Ist aber dieses nicht vorhanden, erwartet der Betrachter ein Ausdrucksmoment im Werk, das ihn unwillkürlich gefangennimmt(4), geht er an den Kisten nach einem flüchtigen Blick vorbei. Die Darstellung von Leere durch Leere läuft leer. Die totale Entauratisierung des Werkes macht es so banal wie die Banalitäten der Alltags-, der Zweck- und Nutzenwelt.

Kafkas kleiner Text hingegen geht unter die Haut, er wirkt, bevor man sich bewußt wird, warum. Er trifft vermöge seines sprachlichen Ausdrucks den Leser ins Innere, so daß die Deutung dieses Textes eben nicht nur die Deutung von etwas ist, das sich außer mir befindet, sondern auch die Deutung meiner Betroffenheit. Die Wirkung geht der Reflexion voran.

Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Jene Rührung, die sich kindlichem Spiel gegenüber bei Erwachsenen einstellt, wird sofort zurückgenommen durch die Vorstellung des sinnlos gewordenen Rufens, eines Lebens ohne Ziel, ohne erfüllenden Inhalt. Leben, das sich zum Gefängnis wird, dem die Kraft zur Befreiung abhanden gekommen ist, weil man sich gebunden, wie Beamte einen Diensteid geleistet hat, der einen an die Monotonie vergilbter Ewigkeit kettet.

Kafkas Text deutet die Möglichkeit des Andersseins noch an durch die Erwähnung der Wahlmöglichkeit, durch die Erwähnung der Könige, die vor aller inhaltlichen Ausdeutung eine Metaebene repräsentieren, ein Transitives oder Transzendierendes, eine sinnstiftende Dimension; negativ wird die Idee des Andersseins durch bewertende Adjektive wie sinnlos und elend ausgedrückt. Ein »elendes Leben«, das man am liebsten beenden würde.

Kafkas Text geht unter die Haut, weil seine Darstellung eines in sich leerlaufenden Lebens -im Gegensatz zu Donald Judd – noch eine Spannung enthält, nämlich die zwischen Idee und Realität, eine Spannung, die sich im Werk selbst zuträgt, eine zwischen dem So-ist-es und dem möglichen Anderssein. Die Negativität des Soseins wird bei Kafka, und hier sei der Schluß auf sein Gesamtwerk erlaubt, niemals als das Selbstverständliche gefeiert. Für seine Art der Darstellung gilt, was Stanislaw Jerzy Lec zu einem Aphorismus kondensierte: »Sesam öffne dich – ich möchte hinaus! «5

Donald Judd versteht seine minimalistischen Arbeiten keineswegs in dem hier vorgestellten Sinne. Sie verweisen – seinem eigenen Verständnis nach – auf nichts anderes als auf sich selbst:

»Ich wollte Arbeiten schaffen, in denen keine weithergeholten Aussagen über Gott und die Welt steckten. Ich wollte gar nicht versuchen, mir über die Ordnung des Universums oder das Wesen der amerikanischen Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. Ich wollte keine Arbeit machen, die allgemein oder universell im üblichen Sinn war. Ich wollte nicht, daß sie zuviel behaupte.

Eine oder vier Kisten, die eine Reihe bilden, jedes Ding oder Reihe, bildet eine lokale Ordnung, (…) aber ganz bestimmt nicht irgendeine größere Ordnung. Es geht hier gar nicht um Ordnung oder Unordnung im allgemeinen Sinn. »6

Es geht ihm also nicht um die Darstellung von Ideen (universellen Wahrheiten), und es geht ihm noch nicht einmal um die Darstellung der Absenz von Ideen im gesellschaftlichen Leben, um den Leerlauf der Geschichte. In der Welt des Donald Judd wirft die platonische Sonne keine Schatten mehr, denn sie ist erloschen. Nichs weiter soll sein Werk sein als Darstellung der Darstellungsmittel, Struktur dieser Mittel, Höhe, Länge, Breite, Proportion.

»1 didn’t want it to claim too much.« Erfrischend ist dieser Bedeutungsagnostizismus insofern, als er gegen einen Kunstbetrieb gerichtet zu sein scheint, der es sich angewöhnt hat – der Schwerkraft seines eigenen Machtgefälles folgend – optisch Leeres und geistig Armes mit gesellschaftlicher Relevanz und metaphysischer Bedeutsamkeit derart aufzuladen, daß statt der Inhalte im Werk ein neuer Jargon der Eigentlichkeit autoritär die Kunstszene beherrscht. 7 Aber Agnostizismus und der Rückzug auf die Sicherheit des bloß Faktischen sind keine Lösung der Interpretationsbedürftigkeit unseres Lebens, geschweige denn der Nötigung, Sinn zu stiften, so fragwürdig dies auch geworden sein mag.

Wenn Judd sagt, daß die Binnenordnung seiner Gegenstände, sei es ein einzelner oder eine Reihe, nicht über sich hinaus auf eine allgemeinere Ordnung verweist, so trifft er damit allerdings den wunden Punkt der bildenden Kunst der Moderne: ihren Fetischcharakter oder ihren Rest an Religiosität. Er kritisiert den Glauben vieler Künstler, durch Farben und deren Anordnung, durch Materialien, durch einen Setzungsakt qua minimalisieçter Darstellung Sinn und Bedeutung inmitten einer säkularen, auf Quantitäten reduzierten Welt stiften zu können. Wenn ich oben gesagt habe, daß wir genötigt sind, Sinn zu stiften, so ist das kein Widerspruch zu dem, was ich hier konstatiere: Sinn, was immer das sein mag, läßt sich nicht willkürlich, läßt sich nicht durch bloße Setzung, durch das Hineinhexen in kaum durchgestaltete Materialien, durch die Behauptung, da wäre er, herstellen.

Was Jesaja in alttestamentarischer Zeit erkannte, daß nämlich von Menschenhand gestaltetes Material keine übersinnlichen, göttlichen Eigenschaften besitzen könne, hat angesichts der Geistlosigkeit des Kunstbetriebes nichts von seiner Aktualität verloren. Wenn, Adorno zufolge, Kunst die gesellschaftliche Antithese zur Gesellschaft ist, so trifft dies zumindest in einem Punkt für die bildende Kunst nicht zu: Kritiklos überläßt man sich sowohl in der Sphäre gesellschaftlicher als auch in der künstlerischer Produktion der narzißtischen Adoration des Selbstgemachten, dem Götzendienst. Sinn läßt sich, wenn überhaupt, nicht durch entleerte, entsubjektivierte Formen – weil diese angeblich objektiv sind -, sondern nur durch radikale Subjektivierung und Individuierung hervorbringen.

Judd vertritt mit seinem Bedeutungsagnostizismus eine Antithese innerhalb des Formalismus der Moderne, der zu ihrem Beginn in Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch einen Höhepunkt erreichte. Was charakteristisch ist für viele Werke der bildenden Kunst der Gegenwart, beginnt gleichsam mit diesen beiden Malern: Mit dem Verschwinden des Gegenstandes aus den Bildern wächst der Umfang der erklärenden Theorie.‘ Man könnte darin die um hundert Jahre verspätete Einlösung der Hegelschen These von der Vergeistigung der Kunst sehen, vorausgesetzt, man hält eklektizistische, unsystematische, von Utopiesehnsüchten bestimmte Einseitigkeiten und Totalitarismen für Geist.

Die Bilder Piet Mondrians, die ihn als einen der Begründer der Moderne berühmt gemacht haben, das sind primärfarbige Flächen, Rot, Gelb, Blau, das ist Weiß, immer wieder Weiß, und das sind schwarze, breitere Streifen, die das Bild gliedern, die Flächen umrahmen, stets im rechten Winkel, stets streng waage- und senkrecht. Vollständig eingerahmt sind die farbigen und weißen Flächen nur im Inneren der Bilder, wie Fenster; Begrenzungen durch die schwarzen Streifen gibt es nur zum Inneren des Bildes, zum Rand hin niemals. Die Komposition ist geometrisch, einfach, klar, die Farbflächen sind perfekt ausbalanciert, mitunter befindet sich an einer Teilseite nur ein sehr schmaler Streifen Farbe – eine Reduktion fast bis zum Verschwinden. Keines der Bilder hat eine symmetrische Anordnung. Mondrian verfügte über ein sehr gutes Gefühl für Proportionen. Seine Bildsprache ist unverkennbar. Der Haken aber am Purismus seines Stils ist, daß Gelb nicht nur Gelb meint, eine Fläche nicht nur eine Farbfläche ist, die schwarzen, mitunter sich kreuzenden Balken nicht nur die Fläche gliedern, die Komposition nicht nur für sich selber als Binnenordnung eines Bildes steht. Mondrians Werke meinen mehr, sie meinen das Ganze, sie sind Darstellungen des Absoluten, Epiphanien9 einer zur Universalität gelangten Menschheit, antizipierte Utopie, gereinigt von aller trübenden Zutat.

Den in seinen Bildern dargestellten Gehalt entfaltet Mondrian in seinen theoretischen Schriften. Diese sind im wesentlichen ein Gemisch aus (neu-)platonischer Verachtung des Körpers, der natürlichen Dinge, des Endlichen, Vergänglichen und dem Versuch, das als unvergänglich gedachte Sein, die als der Zeit enthoben vorgestellte Wahrheit, das Universelle, zu vermitteln mit der Individualität des Menschen. Dem Verzicht auf Darstellung sichtbarer Natur in seinen geometrischen Bildern entspricht seine Auffassung, diese sei die störende, launische, willkürliche Hülle des Universellen.10 Deshalb habe der Künstler einen Blick zu entwikkeln, der durch das Äußere hindurchsieht°, um so der absoluten Wahrheit unverhüllt innezuwerden. Ein vergleichbarer Drang, dem Göttlichen die Maske der Endlichkeit herunterzureißen, findet sich bei Hegel in der Wissenschaft der Logik. Diese ist für ihn »das Reich des reinen Gedankens… Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle… ist. Man kann sich deswegen [so, K. B.] ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.«(12)

Hegel denkt die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt, also offenbarungspositivistisch(13), weil er der Überzeugung ist, daß der reine Gedanke, einmal erfaßt, dazu verhilft, das einzelne Seiende besser begreifen zu können. Die Wahrheit unverhüllt zu denken, ist nicht das Ziel des Erkennens, sondern ein Ziel, das zugleich Beginn ist, Beginn im Sinne des wirklichen Begreifens der Mannigfaltigkeit der Welt, der »Mächte des geistigen Lebens« und dessen, »was… in der menschlichen Leidenschaft und Empfindung auf und nieder wogt«; es ist das Begreifen »menschlicher Taten, Handlungen, Schicksale«.14 Solches Begreifen dient dem Menschen dazu, den Mächten, Leidenschaften und Triebkräften nicht mehr unterworfen zu sein, sondern sie zu meistern. Hegels Philosophie ist von ihrem Anspruch her auch reiner Gedanke, aber überwiegend doch eher sachhaltig, erfahrungsgesättigt, ein Reflektieren aus dem Einzelnen und Besonderen heraus, nicht über es hinweg. Mondrian, obwohl sich bei ihm Topoi Hegelscher Philosophie wiederfinden wie die Überzeugung, Geschichte sei eine fortschreitende Bewußtwerdung des Menschen und zunehmende Verwirklichung des Gute&5, ist Hegel darin entgegengesetzt, daß er das vielfältig Situative des Lebens und das Mannigfaltige in der Welt der Erscheinungen für die künstlerische Darstellung unwürdig erklärt. Das Reine zu erblicken und zu erkennen, es rein darzustellen und es im Leben rein zu verwirklichen, wird ihm zum Endziel der Geschichte. Zentrales Stichwort dieses Programms ist der Begriff der Denaturalisierung:

»Denaturalisierung, einer der wesentlichen Aspekte des menschlichen Fortschritts … Denaturalisieren heißt abstrahieren … Denaturalisieren heißt vertiefen … « (16)

Denaturalisieren heißt auch Entkörperlichen, Vertiefen heißt, unverhüllt sehen zu können: »Das reine bildnerische Sehen führt zum Verständnis der Konstruktion, die dem Seienden zugrunde liegt. «(17) Und das, was das göttlich gewordene Auge des Künstlers erblickt, stellt er dar, macht er sichtbar für alle, die noch nicht soweit in ihrer Entwicklung fortgeschritten sind wie er. Mondrian nennt dieses Auge »bewußte Anschauung«(18), die das »Universale mit größerer Bestimmtheit« sieht(19), als das frühere Zeiten taten, die die Wahrheit noch nicht so zu sehen vermochten, wie sie gesehen werden muß, nämlich abstrakt. »Abstrakt« bezieht sich hier auf die Erkenntnis des Schöpfungs- bzw. Konstruktionsplanes, der sich erst dem Blick der Moderne wirklich enthüllt, weil diese in der Kenntnis der Mathematik und der mathematischen Beschreib- barkeit (Darstellbarkeit) von Naturvorgängen endlich den Stand erreicht hat, der zum wahren Inneren der Dinge vordringt. Und die bewußte Anschauung ist eben das, was Mondrians Bilder dem Auge darbieten: ein Geometrismus, der gereinigt ist von natürlicher Gegenständlichkeit und – nach des Malers Selbstverständnis – gereinigt sein muß, denn was er uns zeigt, ist die Substanz, das Wesen oder das Innere des Seienden. So reduziert sich Gegenstand der Darstellung auf »das Abstrakte als das Universale«. Das Abstrakte definiert Mondrian näher noch als das Mathematische«, das »sich durch alle Dinge und in allen Dingen tatsächlich selber darstellt«. De Stijl als die »neue Malerei kam durch sich selbst zu der bestimmten Darstellung des Universalen, das sich verschleiert und verborgen in der natürlichen Erscheinung der Dinge offenbart«.(20) Der moderne Maler »lernte es, dasjenige exakt zu gestalten, was in der Natur nur durchschimmert, reduzierend zu vernichten, was konkret in Erscheinung tritt «.(21)
Da für Mondrian Inhalt und Form der Darstellung völlig identisch(22) und da der Inhalt das Universale ist, müssen seine Bilder more geometrico die Erscheinung des Universalen sein. Sie sagen uns: So ausgewogen, so klar in der Komposition und in den Farben, so einfach und reduziert, so schön sieht es aus.
Die eine, universale Harmonie zeigt sich in der Vielheit, allerdings nicht in der Mannigfaltigkeit der Welt (dort stets nur getrübt), sondern stellvertretend in der Vielheit ihrer Bilder. Sind diese aber, so wäre zu fragen, als Verkörperungen des Universalen anzusehen? Mondrian:

«Die Kunst bietet uns in der direkten Darstellung dieses Universalen (der Darstellung von Gleichgewichtsbeziehungen) eine Erscheinung körperlich existiert und daher frei vom Zeitlichen ist, das das Dauernde trübt …. Die Kunst kann also von den Beiläufigkeiten der Substanz absehen: sie müssen in der Gestaltung unberücksichtigt bleiben, wenn es um Geist und, abstrakter gesprochen, die gleichgewichtige Beziehung die reine Darstellung des Universalen, d. h. der Substanz selbst, geht.«(23)

Die schon angesprochene Negation von Körperlichkeit wird hier vollends deutlich. Das Körperliche ist das Zeitliche, und das Zeitliche ist Werden und Vergehen. Wird aber das Werden und das Vergehen der Substanz entgegengesetzt, Zeit als ihr Trübendes an-gesehen, dann bewegt Mondrians Denken sich unter anderem im Dualismus gnostischer Denkformen.24 Wenn Friedhelm Wilhelm Fischer eine Ehrenrettung Mondrianscher Entkörperlichungs-und Denaturalisierungstendenzen versucht“, bedenkt er eines nicht: Falsches Bewußtsein läßt sich nicht rechtfertigen; es wird schon gar nicht zum richtigen, indem man sich auf höhere Ziele beruft, es irgendeiner Eschatologie oder Utopie unterstellt. Die Befreiung der Malerei vom Gegenstand, die eine symbolische Be-freiung von der Materie meint, wird gerade dann zur Ideologie, wenn sie als repräsentativer Akt einer Befreiung der Menschheit verstanden wird. Eschatologie wird zum Himmelfahrtskom-mando, wenn sie die höchste Daseinsform des Lebens, das an Materie gebunden ist, in der Aufhebung der Materie, also des Le-bens selbst, sieht..

Mondrian glaubt anstreben zu müssen, das Universale direkt und rein darzustellen. Es gibt bei ihm auch eine Reihe relativieren-der Aussagen, in denen er die behauptete Identität von Darstel-lungsmitteln und Darstellungsinhalt, von Geometrie, Primärfarbe und Universalität zurücknimmt, doch trotz solch einschränken-der Zurücknahme bleibt das Ziel, die Utopie, die er anstrebt, deren Abstraktheit und Reduziertheit zu kritisieren. Kernthese meiner Kritik ist die Erfahrung, daß Streben nach Universalität nur durch die Fülle lebbarer Situationen, durch Konflikte, Ambi-valenzen und Polyvalenzen hindurch sich darstellen läßt, niemals durch Reduktion, mit welchem Begriff ich Mondrians Geometrie-harmonismus meine und nicht jene Reduktion, die etwa Beckett in seinen Dramen als Darstellungsprinzip verwendet hat. Becketts Universalismus ist negativ, er impliziert Ambivalenzen, Bedürf-tigkeit, Armseligkeit, Staub, Dreck. Seine Grundfarbe ist Grau, und daß sie grau ist, ist die Folge des Rot-Gelb-Blau-Optimismus der Moderne zu Beginn unseres Jahrhunderts.

Mondrian hat, wie er es sah, mit seinen Bildern die ästhetische Antizipation gesellschaftlicher Utopie dargestellt26, die die Ver-mittlung von Individualität und Universalität, von Gefühl und Geist und, abstrakter gesprochen, die gleichgewichtige Beziehung von Gegensätzen impliziert.27 Solche Vermittlung war das große Thema des deutschen Idealismus, jedoch mit dem Unterschied, daß das Allgemeine als durch die Entfaltung der Subjektivität sich Herstellendes gedacht wurde, also nicht als Anpassung an ein Ab-straktheitsideal. Wenn man das Ziel der Überwindung partikularer Subjektivität, wenn man die Idee eines universal gebildeten Menschen, des homme de lettres, bejaht, kann man mit Mondrians Vorstellung einer Synthese von Individualität und Universalität nicht übereinstimmen, denn seine Universalisierungsbestrebungen gehen zu Lasten des qualitativ-konkreten Subjekts. Das Subjekt wird für ihn nur universal, wenn es sich in ein geometrisches Abstraktum verwandelt, wenn es seine Gefühle beherrscht, die keinen Inhalt mehr haben.(28) Mondrian, der sich auf der Höhe seiner Zeit glaubte und von sich meinte, am fortgeschrittensten Bewußtseinsstand der Geschichte zu partizipieren, bleibt weit hinter der Tradition zurück, hinter dem, was unter anderem Hegel und Schiller gut ein Jahrhundert vor ihm zu diesem Thema zu sagen hatten.(29) In Mondrian bestätigt sich eine Beobachtung Benjamins: daß der Konformismus einer jeweiligen Gegenwart bestimmte Gehalte der Tradition verdrängt oder einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Und Mondrian dachte konform mit den Abstraktionstendenzen der fortschreitenden Naturwissenschaft und Technisierung der Gesellschaft. Die Idee einer Universalisierung des einzelnen Menschen, also die Idee einer Menschheit, die über die Naturwüchsigkeit ihrer Verhältnisse hinaus wäre30, hat nur dann eine Chance, realisiert zu werden, wenn wir unser Verhalten und unsere Instinktreaktionen, die Indienstnahme des Denkens durch die Instinkte zugunsten unserer narzißtischen Regungen je im einzelnen reflektieren. Es ginge darum, ein möglichst transparentes Verhältnis zwischen Gedanken und besonderen Gefühlen zu erarbeite31, inklusive des Bewußtseins der Nichtidentität von Denken und Fühlen, des Bewußtseins eines Dunklen, das sich trotz aller Reflexion oder gerade wegen ihr entzieht. Einzig Differenziertheit im Denken und im Fühlen, die Bereitschaft, dem Nicht-Ich, dem Anderen gerecht zu werden, machen die Wirklichkeit situativer Flexibilität wahrscheinlich, die vonnöten ist, wenn das Subjekt allgemeingültig handeln soll. Dann kann sich Wabrheit ereignen, die »fragile Versöhntheit mit der Objektivität«32, der das Moment von Spontaneität und Unwillkürlichkeit eignet: Das »Universale« stellt sich für einen Augenblick – im Sinne eines Kairos – durch das Subjekt handelnd dar. Und selbst wenn es nicht die Wahrheit ist, die sich darstellt, brauchen wir konkrete Ideen als Regulativ für unser Handeln, um wenigstens der Spannung gewahr zu werden, die zwischen dem, was wir handelnd zustandebringen, und dem, was wir zustandebringen sollten, existiert, denn ohne das Bewußtsein solcher Spannung neigen wir dazu, unser Handeln »as a matter of fact«33 hinzunehmen.

Wenn aber die klare Schönheit und die schöne Klarheit der Bilder Mondrians unangemessene Darstellungen der Idee von Universalität sind, dann bleibt zu fragen, was sie überhaupt darstellen. Eine erste Antwort wäre: eine der vielfältigen Möglichkeiten des Zeitbewußtseins im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. Während es Maler gab (wie etwa Dali), die die Psychoanalyse als Grundlage ihrer gegenständlichen Malerei nutzten, orientierte sich Mondrians Abstraktion an der Mathematisierung des Denkens durch die und in den Naturwissenschaften (der Bezug Mondrians zu Spinoza ist da eher zweitrangig34) und an den sich immer weiter entwickelnden Möglichkeiten der Technik. Galt in früheren Jahrhunderten verschiedenen Philosophen die Mathematik (Geometrie) als Ideal von Klarheit, so wird sie in der Moderne zum Instrument der Herrschaft über die Natur. Der Transzendentalismus Hegels35, Gottes Gedanken vor der Schöpfung denken zu können, wird zum Transzendentalismus der Naturwissenschaften, zur Identifizierung mathematischer Strukturen mit dem Konstruktionsplan, der dem Seienden zugrunde liegt. Natur wird nun nicht mehr nachgeahmt, sie wird umgebaut. Die Interpreten der Natur werden von den Ingenieuren verdrängt. Man dringt ins Innere der Natur ein, zerlegt sie in kleinste Bausteine, glaubt, sie sich so verfügbar zu machen, diffamiert das nicht gänzlich Beherrschbare als launisch und willkürlich und beginnt, die Schöpfung zu vollenden, das heißt aus heutiger Sicht, sie zu zerstören. Die Einsicht in das Prinzip des ökologischen Gleichgewichts liegt noch in ferner Zukunft, statt dessen träumt man von harmonischen Gleichgewichtsbeziehungen nach Art der Geometrie.

Nicht anders stellt es sich bei Mondrian dar.

Seine Vorliebe für die Primärfarben ist eine Liebe zum Unvermischten, zum Reinen, aus dem die Vermischungen von Gut und Böse, aus dem das Ambivalente und Zweideutige entfernt ist; Rot, Gelb, Blau sind die Grundbausteine – in Analogie zur Atomisierung in den Naturwissenschaften und zur Gentechnologie heute, die für ihre Modellzeichnungen Primärfarben bevorzugt-, aus denen sich das Leben, genauer bezogen auf Mondrian: das Vorbild für eine neue Gesellschaft, keimfrei und harmonisch zusammenfügen, komponieren läßt. Das Subjekt begreift sich endlich als ein an der Schöpfung beteiligtes, verkennt dabei aber, daß es nicht ihr Wesen in der »Neuen Gestaltung« darstellt, sondern nur sich selbst, seine möglicherweise geschichtsnotwendigen – Irrtümer. Wenn sich über Mondrian etwas Positives sagen läßt, dann dies: Er hat groß geirrt. Er ist einer der Repräsentanten der bildenden Kunst der Moderne, der maßgeblich in die Dialektik der Aufklärung verstrickt ist. Am deutlichsten wird Mondrians Verstrickung, wo er das reine, abstrakte Denken verläßt und konkret wird. Da zeigt sich bei ihm ein technologischer Totalitarismus, der sich durch keine Berufung auf irgendeine Eschatologie heute mehr rechtfertigen läßt. Für Mondrian manifestiert sich in der Durchtechnisierung der modernen Welt nicht irgendein subjektives Bewußtsein, sondern es ist »das Absolute« selbst.36 Mechanik und Elektrizität befürwortet er, weil sie die »Einmischung des Individuellen« ausschließen.“ Die Maschine und die Fahrzeuge entsprechen dem immer reifer werdenden Individuum mehr als die natürliche Materie.38

»Nur im Zustand vollkommener Reife vermag sich das wahrhaft >menschliche> Wesen des Tieres zu entledigen, und erreicht so schließlich die reine Herausstellung des tiefst inneren >Ich<. Erst in diesem Augenblick wird in der Kunst die Animalität überwunden sein. Dann wird man sich weder der Gestaltungsmittel der Vergangenheit noch des menschlichen Stimmorgans bedienen. Töne und Geräusche, die von nicht animalischer Materie herrühren, werden dann die gemäßen sein. Das Geräusch einer Maschine (als Klangfarbe) wird ihm sympathischer sein als der Gesang von Vögeln und Menschen. Der wird ihn allemal nach der Art des Vortrages bald mehr, bald weniger nur als Individuum berühren, wogegen durch reine Materie maschinenmäßig erzeugter Rhythmus weniger auf die Individualität wirkt. «39

Man beachte die Gleichsetzung von Maschine und reiner Materie, die Monotonie der Maschinengeräusche als Überwindung des Individuums, und man bemerke die virtuelle Abschaffung des Vogelgesangs und der menschlichen Stimme als dem Zustand vollkommener menschlicher Reife unangemessen. Wie rückständig klingt dagegen eine Äußerung von Aldous Huxley aus den sechziger Jahren, nachdem er Rachel Carsons Buch Silent Spring gelesen hatte: »… we are losing half the subject-matter of English poetry«40. Huxley meint mit subject-matter vor allem Flora und Fauna, die durch Herbizide und Pestizide vernichtet werden; der Frühling bleibt gespenstisch still, wenn die Vögel ausgerottet sind. Mondrians Denken gehört in eine Tradition der Naturvernichtungsideologie41, und seine Sozialutopie -beziehungsweise Gesamtkunstwerksvorstellungen sind vom Schlage dessen, was Aldous Huxley als negative Utopie in seiner Schönen Neuen Welt dargestellt hat. Mondrians Umgestaltung der Welt wird zum ästhetisch-schönen Horrortrip, der mit der Heiterkeit der Kinderfarben Rot, Gelb, Blau beginnt, aber im Grau einer durch Technik zerstörten Welt endet. Die Totale, die Mondrian im Sinn hat, kassiert die Differenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und endet in einer Gleichschaltung:

»Das <home> wird nicht mehr abgedichtet, abgeschlossen, abgetrennt sein können, auch die Straße nicht… Der Begriff <home> – Home sweet home, demeure douce demeure – muß sich übrigens ebenso verlieren wie der Begriff >Straße<. Man muß das <home> und die »Straße> als »city< betrachten, die eine Einheit ist, aus Planen komponiert in einer neutralisierenden Gegenüberstellung, die alle Ausschließlichkeit zunichte macht. Das gleiche Prinzip muß das Interieur im <home> bestimmen. Es kann nicht mehr ein Haufen von Zimmern sein, die aus vier Mauern bestehen, mit Tür- und Fensterlöchern, sondern eine Konstruktion aus unendlich vielen Plänen, in Farben und Nichtfarben, die zu den Möbeln und Objekten stimmen, welche in sich selber nichts sind, aber als Konstruktionselemente des Ganzen spielen. – Und der Mensch? Nichts in sich selbst, wird er nur ein Teil des Ganzen sein, und dann, indem er die Eitelkeit seiner kleinen und bösartigen Individualität verloren haben wird, wird er glücklich sein in diesem Eden, das er geschaffen haben wird. «12

Der Garten Eden, das ist die Weltstadt mit Eiffelturm und Untergrundbahn, mit Wolkenkratzern und endlosem Autoverkehr, der anstelle der Vögel seinen nimmermüden Rhythmus lärmt. Mondrian:

»Der wirklich moderne Künstler sieht die Weltstadt als geformtes abstraktes Leben: sie steht ihm näher als die Natur, sie wird sein Schönheitsempfinden stärker ansprechen. Denn in der Weltstadt ist die Natur schon entwirrt, durch den menschlichen Geist geordnet.»

Brecht, so wäre hier anzumerken, nennt eines seiner Stücke Im Dickicht der Städte. Die Stadt wiederholt mit ihren von Menschen geschaffenen Ordnungsstrukturen die Prinzipien der Wildnis, also der Naturwüchsigkeit. Mondrians Identifizierung seiner geometrischen Vorstellungen mit Universalität macht ihn blind und läßt ihn, wo immer er geometrische Strukturen in der gesellschaft-lichen Realität wiederfindet, schon an die Wirklichkeit seiner Utopie glauben. Er fährt fort:

»Die Beziehungen und der Rhythmus von Fläche und Linie in der Architektur werden ihm [dem modernen Künstler, K. B.J mehr bedeuten als das Launenhafte der Natur. In der Weltstadt drückt sich das Schöne mathematischer aus; daher ist sie der Ort, von dem aus sich das künftige, mathematisch künstlerische Temperament entwickelt – der Ort, aus dem der Neue Stil hervorgehen muß.«

Die Überzeugung, eine more geometrico gegliederte Architektur (ohne Ornamente, streng rechtwinklig) und eine ebenso geradlinige und rechtwinklige Straßenführung (wie etwa in New York) beinhalte eine derart klare Rationalität, daß diese sich automatisch auf ihre Einwohner überträgt, verweist auf die Schwäche einer Kunst, die den Fetischcharakter ihrer Darstellung verkennt; die meint, ein paar Farbflächen, im rechten Winkel gegliedert, hätten das Universale in sich und im Umgang mit ihnen gehe der entsprechende Geist auf die Subjekte über. Die Weltstadt (als Realisierung der Kunst) wird zur Hostie, die allerdings den Menschen und die Natur verschlingt. 1903 schrieb Rilke im Stunden-Buch:

»Die Städte aber wollen nur das Ihre / und reißen alles mit in ihren Lauf. / Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere / und brauchen viele Völker brennend auf. / Und ihre Menschen dienen in Kulturen/und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, / und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren / und fahren rascher, wo sie langsam fuhren, / und fühlen sich und funkeln wie die Huren / und lärmen lauter mit Metall und Glas.»

Rilke sieht aus dieser kritischen Perspektive klarer als Mondrian.

Er ist nah an dem, was Hans Jonas 1979 in seinem Prinzip Verant-wortung über die Stadt schreibt, die als »universale Stadt«45 immer weiter sich ausdehnt, immer mehr Raum einnimmt, so die Natur verdrängt und zum Inbegriff ihrer Zerstörung geworden ist. Mondrians Vergötzung der Abstraktion ist identisch mit der Favorisierung einer Darstellungsform in der Kunst, die auf Verdrängung basiert. Eliminiert werden Komplexität, Vieldeutigkeit; das Negative der Realität wird umgangen, indem es für überwunden erklärt wird; das dialektische Ineinander von Gegensätzen ist aufgelöst in dualistische Harmonie. Verabschiedet wird die Erkenntnis, daß wir das Üble, das Menschen in der Geschichte einander angetan haben, um so sicherer reproduzieren, je mehr wir glauben, durch neue (Lebens-)Formen, die wir für die fortgeschrittensten halten, darüber hinaus zu sein. Statt Verstrickungen im einzelnen zu klä-ren und zu begreifen, wird Klarheit an sich, ohne besonderen Inhalt, zum Statthalter eines Unbedingten ernannt und das Ende von Tragik verkündet. Darstellung der Utopie, sei es antizipatorisch im Kunstwerk, sei es durch Architektur, sei es durch den Menschen selber, muß, wenn sie mehr sein will als die unbeabsichtigte Darstellung ihrer eigenen Unmöglichkeit und ihres Scheiterns, ein Sensorium und ein Bewußtsein für die Strukturen des Gewesenen entwickeln, denn erst wo dies geschieht, ist die Möglichkeit gegeben, Geschichte in ihrer Negativität nicht immer nur zu wiederholen. Die puristische Absetzung vom Alten, seine simple Antithese, ist eben nicht das Neue, ist keine wirklich »neue« Gestaltung, sondern die unbewußte Reproduktion der alten Fehler im neuen Gewand. Es gibt keine Transzendierung des Gewesenen ohne Geschichtsbewußtsein. Dieses aber wird annihiliert in der Annihilation von Gegenständlichkeit. Ohne Erinnerung gibt es kein Neues in der Kunst, ihr Novum regrediert auf das Niveau von Patentamtsanmeldungen. Und wo für die Reduktion von Darstellung auf simple Geometrie auch noch der Begriff der Freiheit in Anspruch genommen wird, ist diese um die Geschichte unbekümmerte Freiheit vom Gegenstand46 ein eitles Spiel mit leeren Formen, das sich in der Kunst der Gegenwart auf keine Geschichtsnotwendigkeit mehr berufen kann wie noch Mondrian oder Malewitsch.

III

Kasimir Malewitsch kann als Antipode Mondrians betrachtet werden, und zwar insofern, als er den Glauben an einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit aufs heftigste kritisiert. Das gilt sowohl hinsichtlich der russischen Revolution als auch hinsichtlich der vermeintlichen Verbesserung des Lebens durch Naturwissenschaft und Technik. In seinem Buch Suprematismus. Die gegenstandslose Welt, geschrieben 1922, im Klimakterium der Revolution, stellt er fest: »Man kann… zwei Arten von >Leben< unterscheiden: Das gegenständliche Leben, zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse[,] und das gegenstandslose, eine Leere, in der es kein Streben nach Befriedigung gibt. «47 Eine Form des Strebens ist die Wissenschaft: »… alle praktisch-wissenschaftlichen Errungenschaften« sind »nur Scheinerrungenschaften«48,
sind Täuschungen. Der Glaube von gestern, die Natur endgültig überwinden, unterwerfen und beherrschen zu können49, erweist sich im Heute als nichtig, denn das Erreichte »offenbart« neue Unvollkommenheiten, erweist sich wieder nur als relativ – und die rastlose Anstrengung, in der vom Nützlichkeitsdenken geprägten gegenständlichen Welt das »letzte Heil«50 zu etablieren, nimmt kein Ende. Preist Mondrian die Kultur als fortschreitende Erkenntnis der abstrakten Gesetze der Natur, als wachsende Herrschaft über ihr Wesen, so charakterisiert Malewitsch die Kultur als »Irrenhaus«“, denn die Verwirklichung dessen, was sie will, das »letzte Heil«, schiebt sie dadurch, daß sie auf Naturwissenschaft und ihr analytisches Verfahren vertraut, immer weiter hinaus. Das Naturganze (das Gegenstandslose) zu zerlegen, ist für ihn identisch damit, Natur zu vergegenständlichen, um sie so in den Griff zu bekommen, aber der Gegenstand ist »ewig entgleitend, niemals greifbar, niemals physisch beherrschbar«.52 Für ihn gibt es nur eine Möglichkeit, dem Perpetuum mobile der Illusionen sich zu entziehen: der Naturbeherrschung und ihrem Instrument, der Technik, zu entsagen. Doch nicht erst das Bewußtsein des Ingenieurs“ ist ihm das Übel, sondern Bewußtsein überhaupt. Gegenstände schaffen, Vergegenständlichen, heißt für ihn, Begriffe bilden.54 Demnach wäre die von ihm angestrebte Gegenstandslosigkeit Begriffslosigkeit, die Annihilation des Bewußtseins selber. Anders gesagt, Malewitsch möchte, daß die Menschheit ihr verlorenes Paradies wiederfindet, daß sie den mit der Erkenntnis von Gut und Böse vergifteten Apfel ausspuckt und in den Stand der Unschuld zurückkehrt. Mondrian möchte Geschichte dadurch vollenden, daß der Mensch nach einem langen Prozeß der Entschleierung des Wesens das Absolute endlich hüllenlos erkennt. Malewitsch dagegen möchte aus der Geschichte hinaustreten: Der Mensch soll seine Hüllen ablegen und mit der Natur in ein Verhältnis des reinen Pulsierens, der reinen undifferenzierten Erregung treten. 55

Werner Haftmann schreibt über den suprematistischen Maler:

Er »eliminierte… alle gegenständlichen Elemente, wie alle von den gegenständlichen Erlebnissen ausgelösten Empfindungen und Psychologismen, die die reine Erscheinung der Gegenstandslosigkeit hätten trüben können… So kam er in seinem >verzweifelten Bemühen, die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt zu befreien<, zu einem scheinbar ganz desparaten Schluß. Durch die totale Entfernung aller Trübungsquellen führte er die formalen Elemente der Malerei auf ihren Nullpunkt zurück. Übrig blieb die reine Fläche und als letzte Form das Quadrat. Im Viereck auf der reinen Fläche kam jede visuelle oder empfindungsmäßige Assoziation zur gegenständlich empfundenen Welt zum Schweigen. «16

Auch wenn Malewitsch im Gegensatz zu Mondrian Geschichte und Fortschritt negiert, berührt er sich mit ihm in der Sehnsucht, des Unbedingten ungetrübt und rein innezuwerden.57 Solcher Ungetrübtheitsphantasie entspricht die Elimination des Besonderen als des Gegenständlichen (z. B. einzelner Gedanken, distinkter Anschauungen und Empfindungen). Von außen beurteilt heißt das: Malewitsch sucht sein Heil in der Umgehung eines fundamentalen Widerspruchs menschlicher Existenz, der darin besteht, daß wir durch Besonderung, Vereinzelung und Vergegenständlichung hindurch müssen, um der Idee von Ganzheit, der Einheit des Menschen mit der Natur, gerecht werden zu können, und zwar auch noch dann, wenn das Erreichen solcher Einheit eher als unwahrscheinlich anzusehen ist. Ent-Trübung ist nicht zu erreichen in der Vermeidung des Widerspruchs, sondern nur in der Reflexion der einzelnen Widersprüche, in die sich der geschichtlich handelnde Mensch verstrickt. Niemals kann es absolute Reinheit geben, sondern nur Klärung, und diese ist allein möglich in der gedanklichen Durchdringung besonderer Empfindungen und Gefühle. Der weiße Suprematismus führt nicht ins Paradies zurück, sondern in die Eiswüste unendlicher, leerer Abstraktion.

Differenzierung, die Tatsache, daß überhaupt unterschieden und geschieden wird, ist für Malewitsch der Sündenfall schlechthin; Subjektivität an sich wird zur Schuld“: »Es ist möglich, daß Subjektivität… schuld« ist »an der Differenzierung der als Einheit erkannten Natur… Mit der Differenzierung hat sich die Allgemeinheit die Möglichkeit verbaut, die Natur in ihrer Einheit zu erfassen, das heißt als etwas Einheitliches ohne jede Differenzierung zugunsten der Interessen einzelner. « Dem außerordentlich wichtigen Zusammenhang zwischen Differenzierung und der Intentionalität partikularer Interessen, die der Intentionsiosigkeit, dem »schlichten Sein der Dinge«’°, zuwiderlaufen, kann hier nicht nachgegangen werden. Zu verweisen jedoch bleibt darauf im Zusammenhang der Frage der Darstellung -, daß Malewitschs Hang zum reinen Sein selber intentional ist und ihn in Widersprüche verwickelt. Sein 1918/19 entstandenes Bild Suprematist composition: White on White61, ein weißes Quadrat in einem weißen Quadrat, bedarf, um den weißen Suprematismus der Nicht-Differenzierung, der Gegenstandslosigkeit darzustellen, der Differenzierung der Weiß-Töne, denn sonst sähe man nichts als Weiß, aber kein weißes Quadrat auf weißem Grund. Das reine Nichts oder das reine Sein last sich weder unmittelbar noch vermittelt darstellen. Das reine Sein, so hat Hegel deutlich gemacht, ist so leer wie das reine Nichts.62 Beide, das Sein und das Nichts, sind unmittelbar nichts, reine Tautologie, und vermittelt bedürfen sie eines Darstellungsmediums, sind somit stets etwas. Das Etwas aber ist Einschränkung, Besonderung, ist bestimmter Inhalt, wenn auch im Falle Malewitschs – ein äußerst reduzierter, und so steht es im Widerspruch zum Darstellungsgehalt, der intendierten Undifferenziertheit. Nicht diese stellt Malewitsch in ‚Wirklichkeit dar, sondern ungewollt eben jenen Widerspruch. Strebt er jedoch im Gegensatz zur zweckrational geeichten Gesellschaft nicht das illusionäre, sondern das »wahre Heil«63 an, so hätte die Konsequenz nahegelegen, statt des Paradoxons einer vergegenständlichten Gegenstandslosigkeit die Verstrickung der Menschen darzustellen, die sich aus der Nötigung zur Vergegenständlichung ergibt; denn ohne diese gibt es keine Entwicklung, keinen Prozeß, keine Geschichte, kein Humanum, blieben die Subjekte einer keineswegs paradiesischen Natur ausgeliefert. Schuld, die sich für Malewitsch mit Differenzierung als dem Prinzip der Subjektivität verbindet, ist nicht zu umgehen durch Flucht in einen Zustand vorgeburtlicher Subjektlosigkeit64; sie ist allenfalls zu mildern im Begreifen dessen, worin sie im einzelnen besteht. Solchem Begreifen dient die Darstellung und Reflexion der Widersprüche, durch die hindurch Geschichte und Prozeß sich vollziehen.

Es bedarf wohl kaum noch des Hinweises, daß der Widerspruch, der sich im Bild vom weißen Quadrat im weißen Quadrat manifestiert, in Malewitschs Buch über den Suprematismus wiederkehrt: da1 er viele Seiten lang differenzieren muß, um die »Schuldhaftigkeit« des Denkens und Differenzierens aufzuzeigen. Schlägt Denken die Wunde der Entzweiung von Mensch und Natur, so ist sie nur denkend zu heilen. Das ist sein Doppelsinn, seine Zweideutigkeit. Nicht anders verhält es sich mit der Differenzierung. Ihr Unterscheidendes ist zugleich Ideal, nämlich die Fähigkeit, aus der Fülle individueller und geschichtlicher Erfahrung heraus das Ineinander von Wahrheit und Unwahrheit nuanciert wahrzunehmen und zu erkennen.

414
IV

Wird von Mondrian – einem der Begründer der Moderne – der Fortschritt in Gestalt von Mathematik, Naturwissenschaft und Technik als Medium der Erlösung der Menschheit gefeiert, so kann Joseph Beuys als derjenige Künstler nach 1945 gelten, der sich am entschiedensten der Revision der Moderne verschrieben hat. Beuys reflektierte und stellte in seinen Arbeiten Probleme von gesellschaftlicher Arbeit, Politik, Ökonomie und Ökologie dar: Informationsbüro der »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung« (documenta ), Honigpumpe am Arbeitsplatz (documenta 6), Stadtverwaldung – Aktion 7000 Eichen (documenta ), die Rauminstallation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch, ausgeführt von seinem ehemaligen Schüler Heiner Bastian (documenta 8). Teil dieser Installation war eine Skulptur mit dem Namen Boothia Felix. Diese soll einer Analyse unterzogen werden, mit der Absicht, zu zeigen, daß für Beuys dieselbe Frage gilt, wie für Mondrian und Malewitsch: Wird in der Kunst Bedeutung durch das Werk hergestellt; ergibt sie sich qua Durchbildung der Materialien? Oder wird sie bloß gesetzt, das heißt, wird bloß behauptet, daß im Werk ein Gehalt anwesend sei, der aber in Wirklichkeit nur als theoretischer Überbau außerhalb des Werkes existiert?

Beuys historische Differenz zu Mondrian ist die, daß er über die Erfahrung der Umweltzerstörung durch Technik verfügte, aber ähnlich wie Mondrian in dualistischen Strukturen denkt, also eine Verleugnung und Verdrängung von Zweideutigkeit wiederholt, die sich auch als Gestus in seinen Werken niederschlägt: als Demonstrationscharakter seiner Arbeiten, die uns Ideen oder Vorstellungen mitteilen, uns belehren wollen. In einer bislang unveröffentlichten Podiumsdiskussion Über die seltsame Natur des Geldes gerät Beuys mit Klaus Heinrich über den Begriff der Kreativität in Streit.(65) Da Beuys diesen Begriff emotional rein positiv besetzt, unternimmt Heinrich den Versuch der Relativierung dieses Begriffs, wird aber von Beuys aggressiv unterbrochen. Solche positive Besetzung macht aber blind für die Zweideutigkeit von Begriffen. Auch die Erfindungen im Reich der Waffen, auch die technischen Innovationen, deren umweltzerstörendes Potential zunächst nicht gesehen wurde, gehen auf kreative Akte zurück.

Der Setzung von Begriffen, als wären sie das rein Positive, ent-spricht bei Beuys die Setzung von Materialien oder Gegenständen als Bedeutungsträger. In der d-8-Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch, vor allem in der Boothia Felix, ist eine Fetischisierung zu beobachten, die als regressiv zu bezeichnen ist. Darstellung wird zum Meinen. Da Darstellung aber, um ein Hegel-Wort über Sprache zu variieren, allgemein ist, kann ich nicht darstellen, was ich bloß meine. Das Darstellende, das Material als Bedeutungsträger, vermag Bedeutungen zu beinhalten, die vom Bewußtsein des Künstlers her gar nicht intendiert waren.(66)

Boothia Felix erinnert auf den ersten Blick an eine alte, verrottete Plattenkamera auf einem Stativ. Erst durch genaueres Hinsehen und durch zusätzliche Informationen erschließen sich die Materialien: Das Stativ erweist sich als Bildhauermodellierfuß und die verrottete Kamera als ein Gebilde aus Erde (mit Wurzeln durchsetzt) und Tonscherben in Bronze gegossen. Obenauf liegt ein billiger Kompaß, der aussieht, als wäre er einer Wundertüte für 50 Cent entnommen. Der Name der Skulptur hat primär mit dem Kompaß zu tun; der zeigt zwangsläufig zum magnetischen Nordpol. Dieser lag in unmittelbarer Nähe der nördlichsten Halbinsel des amerikanischen Kontinents, und zwar zur Zeit der Entdeckung dieser Insel um 1830 durch John Roß, der sie nach seinem Freund Felix Booth benannte.

Wenzel Beuys, der Sohn des Künstlers, bezieht sich in seinem Büchlein Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch 67 nur auf den magnetischen Charakter der Boothia Felix. Die entscheidende Frage ist aber: Was hat der Kompaß, was haben magnetische Felder mit dem Erdreich dieser Skulptur zu tun? Wenzel Beuys geht nicht auf die Bedeutung der zu Bronze verwandelten Erde ein. Die Erde hat Beuys, zusammen mit einer Rosmarinwurzel, in Manresa 68 (Provinz Barcelona, Spanien) ausgegraben. Dort lebte vorübergehend Ignatius von Loyola. Wer war dieser Ignatius? Ich zitiere der Einfachheit halber aus dem Kompendium der Kirchengeschichte von Karl Heussi:

»Don Inigo de Onaz y de Loyola entstammte dem vornehmen baskischen Adel… An einer schweren Verwundung darniederliegend, die er 1521 bei der kühnen Verteidigung von Pamplona gegen die Franzosen erlitten hat, wurde er durch eifrige Lektüre von Heiligenlegenden in seiner glutvollen, schwärmerisch-ekstatischen Frömmigkeit bestärkt und entschloß sich, seine Kraft in den Dienst der Kirche zu stellen. Er weihte 1522 in der Wallfahrtskapelle Montserrat in Katalonien seine Waffen der Maria, der er fortan als geistlicher Ritter dienen wollte, und er lebte darauf eine Zeitlang in einem Spital zu Manresa seiner Askese und seinen Visionen (Entstehung der Exercitia spiritualia) … 1523 pilgerte er nach Palästina; doch nötigten ihn die Minoriten zur Umkehr. Nach seiner Rückkehr erwarb sich der 33jährige 1524 auf der Schulbank in Barcelona die Vorbildung für ein gründliches Studium und bezog 1526 die Universität Alcald, darauf Salamanca. Der Drang, seine Frömmigkeit auf andere zu übertragen, brachte ihn in gefährliche Berührung mit der Inquisition…” (69)

Die Exercitia spiritualia fordern eine radikale Unterwerfung des Ichs im Sinne einer Imitatio Christi. Asketische Übungen werden verstanden als »lebendige Mitarbeit am Reiche Christi«.(70) Hervorzuheben aus den Exercitia spiritualia wäre noch, daß Ignatius die Verehrung von Reliquien empfiehlt. Es überrascht nicht, zu erfahren, daß die Gesellschaft Jesu vom Missionsgedanken geradezu besessen war, denn wer sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, muß zwangsläufig diese in die Welt hinaustragen, muß Ketzer und Heiden bekehren. Die Jesuiten spielten bekanntlich eine entscheidende Rolle bei der Unterwerfung südamerikanischer Kulturen durch die Spanier.

Einige Interpretationen der Boothia Felix stellen eine Parallele her zwischen der Biographie des Ignatius und der von Beuys und folgen dabei dem üblichen Muster der biographischen Begründung Beuysscher Materialverwendung.(71) Beuys stürzte im Zweiten Weltkrieg als Pilot über der Krim ab. Der kaum noch Lebende wurde von Tataren gesundgepflegt. Die Rolle, die dabei Filz und Fett spielten, dürfte hinreichend bekannt sein. Entscheidend ist nun, daß die Erlebnismomente, die spezifischen Qualitäten der Dinge in diesem Schlüsselereignis in Beuys‘ Leben, fortan als Qualitäten dieser Dinge schlechthin gesehen werden. (Daß sich mit Fett und Filz etwa auch negative Eigenschaften verbinden lassen, kommt nicht in den Blick.) So auch bei der Boothia Felix: Beuys war also Krieger wie einst Ignatius von Loyola, Beuys wurde wie dieser schwer verwundet, beide hatten ein Bekehrungserlebnis – Ignatius bekennt sich radikal zum Christentum, Beuys zum Künstlertum, nach dem nicht-erweiterten Kunstbegriff Adornos eine Lebensweise, die nicht das Subjektiv-Intentionale (die Durchsetzung egozentrischer, partikularer Interessen) in den Vordergrund stellt, sondern die Transzendierung der Intention im Kunstwerk, und zwar dergestalt, daß das Subjekt nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv wirklich zu sich selber käme.

Wenn Beuys aber Erde aus Manresa, über die vielleicht vor 472 Jahren der Fuß des Ignatius geschritten sein mag, ausgräbt, behandelt er diese wie eine Reliquie, das heißt, er verwandelt das Material der Darstellung in einen Fetisch, in dem angeblich schon eine geistige Substanz vorhanden sein soll. Das erinnert an die fatale Reliquienverehrung im Christentum: man bemühte sich, Splitter vom Kreuz Christi zu ergattern, weil man glaubte, mit einem solchen Splitter etwas von der Substanz Christi in Händen zu halten, die damit auf einen selbst übergehe. Material wird, weil es mit dem Göttlichen in Berührung kam, selber zu etwas Göttlichem verklärt. Die Substanz Christi aber steckt wesentlich in der Lebensweise und in der Lehre Jesu, die man – einschließlich der Bedeutung des Kreuzes – nur geistig, im Medium der Reflexion, angemessen begreifen kann, denn allein das Geistige wirkt der Verdinglichung und damit einer Fetischisierung entgegen und erlaubt eine lebendige Umsetzung, eine Repräsentation, eine Darstellung der Substanz durch Handeln.

Nicht aber dem Lebendigen, sondern dem Toten entspricht die Ausstrahlung vieler Beuysscher Skulpturen. Ihr nekrophiler Charakter, salopp gesprochen: ihr »Gammellook«, geht konsequent aus der Behandlung des Materials als Reliquie hervor (vgl. hier auch die aus Holz, das Beuys in Jerusalem aufgesammelt haben soll, Blutflaschen, Draht, Papier bestehende Skulptur Kreuzigung 72 von 1962/63).

Mir drängt sich hier ein Vergleich auf, und zwar zu der Erzählung Das tote Brügge von Georges Rodenbach.(73) Der Protagonist dieser Geschichte konserviert die Haare seiner toten Frau, hebt Gegenstände auf, die sie als Lebende benutzte, und er macht aus ihrem ehemaligen Zimmer einen Andachtsraum seiner Erinnerungen. Derart rückwärtsgewandt, ist er unfähig, eine neue Beziehung einzugehen, sieht er im Neuen nur das Alte, und weil das Neue ihm nie mehr so erscheinen kann, wie es einst das Vertraute tat, muß es abgewertet werden. In der Fetischisierung des Vergangenen fault das Leben dahin. Etwas davon ist bei Beuys wiederzufinden, etwas Morbides, das für mich auf keine neue, noch kommende und so noch nie dagewesene Menschheit hinweist, die er doch im Sinn hatte.(74)

Ich kritisiere nicht nur den Glauben, im Darstellungsmaterial an sich, der bloßen Erde aus Manresa, stecke schon eine geistige Substanz, sondern auch die damit verbundene eingeschränkte Per-spektive auf das Material. Filz kann auch Verfilzung bedeuten, Erde Blut-und-Boden-Mythologie.(75) So steht Ignatius von Loyola nicht nur für eine Bekehrung vom weltlichen Ritter zum Anhänger Christi, sondern er bleibt Kämpfer, indem er seine Waffen der Maria weiht. Es genügt nicht, wenn Beuys(76) sich die Momente herausklaubt, die ihm passen, entscheidend ist alles, was sich aus der schweren Verwundung und Bekehrung des Ignatius ergab: bis hin zum Imperialismus religiöser Intoleranz.

Wie man ein historisches Ereignis als Ursache einer ganzen Kette von Handlungen darstellen und begreifen muß, führt Jorge Luis Borges in seiner Geschichte Der schreckliche Erlöser Lazarus Morel(77) vor:

»Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartholomé de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldbergwerke auf den Antillen abquälen sollten. Dieser wunderlichen Gemütslaune eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari hatte, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Doktor Vincente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fünfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg …<<

Wenzel Beuys interpretiert die Boothia Felix bloß auf die magnetischen Energiefelder hin, die im Kompaß aufgezeigt und symbolisiert werden. Er interpretiert Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch mit einem ganz und gar positiven Vorzeichen, das man »lebensspendende Energie«(78) nennen könnte. Nach dem, was ich bisher ausgeführt habe, kann man jedoch das Moment imperialistischer Welteroberung nicht minder im Kompaß und in der Erde von Manresa dargestellt sehen.

Damit wäre hinreichend herausgearbeitet, was man als Zweideutigkeit (als Ineinander von Wahrheit und Unwahrheit, als das Entgegengesetzte in Einem) bezeichnen kann. Aber genaugenommen haben wir es bei den meisten Lebensphänomenen (einschließlich der Materialien und Begriffe, die solche Phänomene benennen) mit mehr als nur zwei Bedeutungen zu tun. Im Falle des Ignatius sogar mit einer kaum eingrenzbaren Fülle von historischen Ereignissen, die seine Bekehrung zum Christentum mit sich gebracht hat. Und hier stoßen wir auf ein weiteres Problem, das mit der bloßen Setzung von Materialien als Bedeutungsträger in der Kunst sich verknüpft: Letztlich kann die Erde von Manresa alles bedeuten, was sich mit der Restauration des Katholizismus seit der Reformation verbindet, und infolge solcher Vieldeutigkeit wird das Werk, die Boothia Felix, unverbindlich. Alles ist hineininterpretierbar.

Die Darstellung hat das, was sie darstellt, nicht mehr als Substanz in sich, sondern außer sich. Sie schwebt über dem Werk wie einst der Geist über den Wassern. Und hat sie dennoch einen Gehalt in sich, dann, so scheint es, ist es eher dem Zufall zu verdanken. Beuys verarbeitet Geschichte nicht, sondern er verwendet ihre Bruchstücke zu einem mixtum compositum(79), dem der stringente Zusammenhang fehlt. Bedeutung ergibt sich nicht über die Durchgestaltung des Werks, nicht durch Herausarbeitung, sondern durch pure Setzung. Darstellen reduziert sich aufs bloße Hinstellen. Die Frage nach der Wahrheit künstlerischer Darstellung, nach der Möglichkeit und Notwendigkeit der Transzendierung subjektiver Intention im Prozeß des Machens, oder gar der Gedanke, daß Wahrheit der Tod der Intention sei (Benjamin), ist dem gegenwärtigen Kunstbetrieb so fremd wie der in Nützlichkeitserwägungen sich vergessenden Gesellschaft, zu der die Kunst angeblich eine Antithese sein soll. Bei Beuys findet sich sowenig wie bei Mondrian die Erkenntnis, daß Tragik darin besteht, daß man das Unheil in der Geschichte gerade dadurch herbeiführt, indem man es zu vermeiden trachtet, daß also Kunst Reflexion solcher Dialektik im Medium der Darstellung sein sollte und nicht bloß das Vorzeigen wohlmeinender Absichten.

Anmerkungen

1 Siehe hierzu den Katalog zur Ausstellung Schlaf der Vernunft im Museum Fridericianum Kassel vom 21. 2.-23. 5. 1988, Donald judd, Meter-Boxes 5976, Kassel 1988, 5. 29

2 Franz Kafka, Parables and Paradoxes, in German and English, New

York 1976, S. 574 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt/M. 5989, 5. 36

4 Vgl. Barthes, a. a. 0.; der Gegenbegriff zu >studium< ist für ihn »punc-

tum, ein Zufälliges, das besticht, verwundet, trifft.

Stanislaw Jerzy Lec, Unfrisierte Gedanken, München 1965, 5. 7

6 Donald Judd, in: Schlaf der Vernunft, a.a.0., S. 27

7 Vgl. hierzu: Ulrich Greiner, Sänger des höheren Schwachsinns. Joseph

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Beuys und seine Interpreten. Aus Anlaß der Westberliner Beuys-Ausstel-

lung: Eine Kritik der Kunstkritik, in: DIE ZEIT, Nr. i, s. April 1988, S. ; Karl Markus Michel, Heiliger Lukas!, in: Kursbuch, Heft 99, Kunst-Betrieb, Berlin 1990, S. 129-154

8 Vgl. hierzu: Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der Modernen Malerei, Frankfurt/M. 1986; was Gehlen die Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst nennt, hat allerdings eine geschichtsphilosophisch zu deutende Komponente. Gerade die abstrakte Kunst kann sich infolge ihrer Entgegenständlichung auf keine vertrauten Symbole aus der Tradition beziehen, eben auch nicht auf die herkömmlich religiösen (christlichen oder antik-griechischen). Sofern die abstrakte Moderne ihre eigenen Symbole schafft, ist sie als Kind der Aufklärung genötigt, ihre Zeichensprache zu legitimieren, zu erklären. Kommentarbedürftigkeit allein ist noch kein Negativkriterium, entscheidend wäre die Einsichtigkeit des Kommentars.

9 Vgl. Piet Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, in: Hans L. C. Jaffe, Mondrian und De StijI, Köln 1967, S. 40. Mondrian spricht hier einmal von der Kunst als direktem >Ausdruck des Universalen>< und dann davon, daß die Kunst »das Absolute in der Relativität von Zeit und Raum zur Erscheinung» bringe. Das Relative ist aber immer nur das Indirekte, das Vermittelte.

10 Mondrian, a.a.O., Köln 1967, S.41, 42, 43, 47, 61, 62, 63, 67, 71

11 Möglicherweise spielt hierbei die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 eine Rolle, also die Erfahrung, daß der Mensch nun in der Lage ist, durch die »Hülle» der Materie hindurchzudringen, um Inneres sichtbar zumachen.

12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke,
Bd. 5, Frankfurt/M. 1969, S. 4

13 Mit diesem Begriff verbinde ich zweierlei: erstens den Glauben, es gäbe eine göttliche Offenbarung, und zweitens die Anmaßung, gesetzt, es gäbe sie wirklich, die Gedanken Gottes als Mensch denken zu können. Offenbarungspositivismus unter dem Aspekt der Darstellung bedeutet: mit endlichen, bedingten Mitteln das Unendliche, Unbedingte, Absolute ausdrücken zu wollen, und zwar so, daß Identität zwischen Mittel und Inhalt behauptet wird. Ein Begriff, der Hegels Position besser charakterisiert als der des Offenbarungspositivismus, wäre der des Transzendentalismus. »Transzendental« meint bei Kant die Bedingung der Möglichkeit. Gott galt der Philosophie des deutschen Idealismus noch als Urheber der Schöpfung, d. h., man sah in ihm die Bedingung dafür, daß es belebte und unbelebte Materie gibt. Transzendentalistisch denken heißt dann: den Grund des Seins und des Seienden denken.

14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Band 15, Frankfurt/M. 1970, S. 239f.

15 Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Klaus Baum, Die Transzendierung des Mythos. Zur Philosophie und Ästhetik Schellings und Adornos, Würzburg 1988; darin das Kapitel Aspekte zu Adornos Geschichtsbegriff – oder: Gesellschaft als Unwirklichkeit der Versöhnung, S. 108 – 138; die dort geübte Kritik an der Verabsolutierung der Bewußtseinsimmanenz bei Hegel und Marx (S. 120ff.) wäre auch auf Mondrian anzuwenden, auf dessen Überzeugung, Tragik ließe sich im menschlichen Handeln restlos abschaffen. Wer an das Ende jeglicher Tragik glaubt, glaubt auch, daß das gut Gemeinte nicht mehr durch Handeln in sein Gegenteil umschlagen kann. Vgl. Piet Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Musik und die futuristischen italienischen Bruitisten, in: Neue Gestaltung. Neoplastizismus. Nieuwe Bedding, Neue Bauhausbücher, hg. v. Hans M. Wingler, Mainz und Berlin 1974, S. 3f.: «Alle Kunst stellt immer eine Frage an das Schicksal, mit dem Begehren, sich besser zu erkennen… Das bezeichnet vollkommen den alten Geist. Der neue Geist unterscheidet sich im Gegenteil davon durch >die Gewißheit<. Er stellt keine Frage, er gibt >eine Lösung< … Der Tragik Herrschaft ist beendet.«

16 Piet Mondrian, The Process Works, New York i9o, 5. 69 (U. v. Hg.); siehe hierzu auch: Beat Wismer, Mondri4ns ästhetische Utopie, Baden (Schweiz) 1985, S. 66

17 Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, a. a. 0., 5. 77

18 A.a.O., 5.77

19 A.a.O., S.77

20 A.a.O., S. 47

21 A.a.O., 5.47

22 A.a.O., S. 40; vgl. Anm. 13

23 A.a.O., S. 6

24 Der Gnosis gilt der Körper als Gefängnis des himmlischen Lichtfunkens. Tod und Entkörperlichung bedeuten die Rückkehr in die vom Irdischen ungetrübte Lichterwelt.

25 Fischer schreibt: «Das Wort >Denaturalisierung< klingt heute für unsere Ohren zynisch. Aber es besteht kein Zweifel darüber, daß Mondrian damit einen Schritt auf den Weg zur Befreiung der Menschheit meinte, einen evolutionären Schritt im Sinne der okkult-eschatologischen Botschaft von der Überwindung der Materie.« Friedrich Wilhelm Fischer, Geheimlehren und moderne Kunst. Zur hermetischen Kunstauffassung von Baudelaire bis Malewitsch, in: Roger Bauer u. a. (Hg.), Fin de siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, S. 364.

26 Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, a. a. 0., S. 69

27 Vgl. a. a. 0. unter anderem S. 66f.

28 Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, a. a. 0., S.49; lohnend wäre es, den Zusammenhang zwischen Mondrian und Kant zu untersu-chen, und zwar hinsichtlich der Art und Weise, wie Allgemeingültigkeit gedacht wird durch Eliminierung der besonderen Inhalte. Kant denkt die Idee des Schönen, das Geschmacksurteil, als unwillkürliches Zusammenspiel von Einbildungskraft (als dem Vermögen der Vorstellungen überhaupt) und Verstand (als dem Vermögen der Begriffe überhaupt). Das Zusammenspiel bloßer Potentiale ist empirisch nicht existent, allenfalls im Neugeborenen, und da ist es inhaltlich undifferenziert.

29 Schiller hat dies in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen dargestellt. Für ihn wie auch für Hegel ist das Allgemeingültig-Werden des Individuums (das konkrete Allgemeine) nur möglich im Durchleben und Durcherfahren partikularer Daseinsmodi, in der Sukzession der Lebenssituationen, im Reflektieren des Einzelnen. Der Gedanke, daß Subjektivität keine ihrer partikularen Entwicklungsstufen verabsolutieren darf, klingt bei Mondrian allenfalls noch an in seiner Unterscheidung des Individuellen-als-des-Individuellen und des Individuellen-als-des-Universalen, aber das Individuelle-als-dasUniversale bei Mondrian hat mit dem konkreten oder individuellen Allgemeinen des deutschen Idealismus wenig zu tun, weil dem Mondrianschen Individuellen-als-dem-Universalen der Inhalt fehlt; es ist abstrakt Allgemeines.

30 Picasso hat Pierre Bonnard vorgeworfen, dessen Malerei ahme die Natur nach, transzendiere sie nicht. Natur zu transzendieren, kann nur sinnvoll sein als Transzendierung der Naturwüchsigkeit menschlichen Verhaltens. Solche Transzendierung ist aber nur möglich aus der genauen Erkenntnis menschlicher Natur (der Instinktreaktionen) und nicht aus der Hypostasierung eines Abstraktums als Wesen einer Natur, in der die einzelnen naturwüchsigen Regungen keinen Platz mehr haben und daher auch gar nicht mehr reflektiert, geschweige denn transzendiert werden können.

31 Es geht mir nicht darum, abstrakte Darstellung zu verdammen und einzig einer gegenstandsbezogenen Sinn und Wert zuzusprechen, sondern es geht mir um den Anspruch, den z. B. Mondrian mit der Entgegenständlichung in der Kunst verbindet. Wenn ihm zufolge die Neue Gestaltung vollkommene Menschlichkeit darstellen» kann und diese darin besteht, daß ihr der »individuelle Gefühlsausdruck» fehlt, dann muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß es weder eine Vervollkommnung noch Vollkommenheit (der Idee nach) geben kann, ohne Reflexion der besonderen, individuellen Gefühlszustände des Menschen. Ein »Gleichgewicht von Geist und Gefühl», bei dem weder der Geist noch das Gefühl einen besonderen Inhalt hat, ist nicht möglich. Leere Harmonie widerspricht der Idee der Vollkommenheit. Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, a. a. 0., S. 349.

32 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 5970, S. 29,

33 Donald Judd sieht in seinen Arbeiten von ihm geschaffene ‘facts’, die nur auf sich selbst verweisen, reine Selbstbezüglichkeit sind. Nachweis siehe Anm. 6

34 Auf diesen Bezug weist Jaffé hin, in: Hans L. C. Jaffé, Mondrian und De Stijl, Köln 1967; Beat Wismer geht diesem Hinweis nach in seiner Doktorarbeit Mondrians ästhetische Utopie, Baden (Schweiz) 1985.
Der Nachteil dieser Arbeit besteht darin, daß sie nur oberflächlich Analogien aufzeigt, ohne wirklich die begrifflichen Differenzen etwa zu der Bestimmung der Kunst als Vorschein bei Bloch deutlich zu machen. Wenn Mondrian in seiner Kunst eine Antizipation gesellschaftlicher Utopie sieht, so kann man sich nicht damit begnügen aufzuzeigen, wo Kunst auch so gesehen wird, ohne die Unterschiede im Begriff der Kunst herauszuarbeiten.

35 Vgl. Anm. 13

36 Piet Mondrian, Kein Axiom, sondern gestaltendes Prinzip, in: Jaffe, a. a. 0., S. 194; Mondrian: >>Das beweisen die Produkte der industriellen Fertigung.. . Das Relative in unserer Umgebung, das sich zunächst vorwiegend natürlich gab, nimmt immer mehr mathematische Erscheinung an. So beginnt das Absolute sich in unserer Umwelt reiner zu manifestieren.«

37 Piet Mondrian, Die Neue Gestaltung, in: Neue Gestaltung. Neoplasti-zismus. Nieuwe Beelding, Neue Bauhausbücher, a. a. 0., S. 26f.

38 A.a.O., S. 7

39 A. a. 0., S. 37

40 Siehe das Preface von Julian Huxley, in: Rachel Carson, Silent Spring (Reprint), Harmondsworth, Middlesex (England) 1982, S. 20

41 Es ließe sich sogar ein indirekter Zusammenhang konstatieren zwischen dem Verschwinden der Artenvielfalt und der reduktionistischen Sicht der Natur im bedingungslosen Willen, sie zu beherrschen. Die Entgegenständlichung in der Malerei weist Parallelen auf zur Entvölkerung der Natur.

42 Piet Mondrian, The Process Works, New York 1970, S. 70 (U. v. Hg.)

43 In: Hans L. C. Jaffé, Piet Mondrian, Köln 1971, S. 29

44 Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden, Band I, Frankfurt/M. 1966, S.119

45 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979, S. 3 3

46 Vgl. Kunstforum, Malerei: Radikale Malerei, Bd. 88, Köln, März, April 1987. In diesem Band wird die Freiheit vom Gegenstand gepriesen, als wäre sie ein absoluter Wert.

47 Kasimir Malewitsch, Suprematismus. Die gegenstandslose Welt, hg. v. Werner Haftmann, Köln 1989, S. 51

48 A.a.0., S. 38

49 A.a.0., S.46

50 A.a.0., S.42

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51 A.a.O., S. 4of

52 A. a. 0., S. 40; ist Mondrian Hegel darin vergleichbar, daß er an die Beherrschbarkeit der Natur- und Lebensphänomene durch ihr völliges Begreifen glaubt, so steht Malewitsch Schelling näher, der an Hegel die Verabsolutierung des Bewußtseins kritisiert und bezweifelt, daß Natur durch Erkenntnis »in den Griff« zu bekommen sei. Schelling und mit ihm Friedrich Schlegel haben – im Vergleich zu Hegel – eine Sensibilität für das dem Begreifen sich Entziehende gehabt. Sie versuchten, dieses »Fliehende« in einer Synthese des Bewußten und Bewußtlosen zu bannen. Für diese Synthese steht bei ihnen der Begriff der »Neuen Mythologie«, die – im Gegensatz zu Malewitsch – distinktes Bewußtsein nicht verdammt.

53 A.a.0., S. 43

54 A.a.0., S. i

55 A.a.0., S.46, 51, 70

56 In. Malewitsch, Suprernatismus. Die gegenstandslose Welt, a. a. 0., S. 18

57 Dies wäre ein Beispiel dafür, daß in einer antithetischen »Haltung« Elemente dessen reproduziert werden, wogegen man sich abgrenzt. Das Gemeinsame von Mondrian und Malewitsch besteht ohnehin darin, daß beide Realisten sind, Realisten im Sinne des Bemühens, sich des Ens realissimum, des höchsten Seins, in der Darstellung zu bemächtigen, eines Seins, in dem Entzweiung und ihre Epiphänomene (Tragik, Streben, Ruhelosigkeit) aufgehoben wären.

58 Beckett sagt in seinem 193 I erschienenen Essay Marcel Proust, die »Original sin« bestehe im »having been born«; Adorno schreibt in seinem Essay, Versuch, das Endspiel zu verstehen: »Subjektivität selbst ist die Schuld; daß man überhaupt ist«. Vgl. dazu meine Ausführungen in: Klaus Baum, Die Transzendierung des Mythos…, a.a.0.., S. 232-238 (das Kapitel Subjektivität als Schuld und die Figur eines Durch-Hindurch).

59 Malewitsch, Suprematismus…, a. a. 0., S. 57

6o Vgl. hierzu: Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels,

Frankfurt/M. 1963, S. 17. Das der Wahrheit angemessene Verhalten ist für Benjamin nicht »ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen« und ein in ihr »Verschwinden«. Wahrheit, so sagt er, erfordere »ein Sein, das an Intentionslosigkeit dem schlichten der Dinge gleicht«. Wahrheit sei »der Tod der Intention«. Adorno hat diese Überlegungen Benjamins für seinen Kunstbegriff verarbeitet. Kunstcharakter erhält nur dasjenige Werk, in dem die Intention des Künstlers transzendiert ist, sowohl die des Bewußtseins als auch die des Willens. Für mich stellt sich Wahrheit im Handeln dann dar, wenn sich das Intendierte nicht durchsetzt, sondern ein Absichtsloses hinzutritt, das Handeln gelingen läßt, also die Intention im emphatischen Sinne erfüllt. Das Subjekt, das auf der Durchsetzung seiner Intention beharrt, ist sich oft genug selbst im Wege.

61 Vgl. Aaron Scharf, Suprematism, in: Concepts of Modern Art, hg. v. Nikos Stangos, London 1981, S. 138-140; Suprematist composition: White on White (Abb. 67).

62 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, a.a.O., S. 82 ff.

63 Malewitsch, Suprematismus…, a.a.O., S.49.

64 Schon die Geburt ist ein Trennungsvorgang, eine Differenzierung von Mutter und Kind.

65 Podiumsdiskussion Ober die seltsame Natur des Geldes, 2. Februar 1979 im Rahmen der Ausstellung »Museum des Geldes» in der Städtischen Kunsthalle in Düsseldorf, Teilnehmer: Clemens Andreae, Joseph Beuys, Johannes Cladders, Klaus Heinrich, Horst Kurnitzky, Melitta Mitscherlich; Diskussionsleitung: Jürgen Harten; unveröffentlichte Nachschrift eines Tonbandprotokolls. Beuys sagt in dieser Diskussion: »Kreativität kann nur heißen: ein aus der Freiheit Geschöpftes.« (Sperrung von mir- K. B.) Beuys argumentiert so, als gäbe es keine Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit, als folge das Positive, die Kreativität, nur aus dem Positiven, der Freiheit. Kreativität besteht aber wesentlich auch darin, sich aus der Unfreiheit hinauszuarbeiten, die Schwerkraft im eigenen Ich zu überwinden, Verstrickungen zu erkennen und zu transzendieren.

66 Der Mehrwert eines künstlerischen Werkes besteht gerade darin, daß es mehr beinhaltet als dem Künstler bei Herstellung bewußt war; entscheidend ist, ob der Künstler die Differenz selbst noch reflektiert, die besteht zwischen dem, was er darstellen wollte, und dem, was sich an Bedeutungsgehalt über seine Intentionen hinaus ergibt.

67 Wenzel Beuys, Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch, Heidelberg 1987

68 Vgl. die Beuys-Aktion Manresa am i. 12. 1966 in: Joseph Beuys. Le-ben und Werk, hg. v. G. Adriani, W. Konnertz, K. Thomas, Köln 1981, S. 169-173-

69 Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 1958, S 87, S-341

70 Karl Heussi, a. a. 0., S. 342

71 Vgl. art. Das Kunstmagazin, Nr. 2, Februar 1988

72 Siehe: Johannes Stüttgen, Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys, Stuttgart 1988, darin: »Kreuzigung», S. 7-24

73 Georges Rodenbach, Das tote Brügge, Stuttgart 1966

74 Der morbide Charakter von Materialien in künstlerischer Darstellung ist an sich nichts Negatives. Zu kritisieren ist jedoch, wenn das Morbide rein positiv, etwa im Sinne von lebensspendender Wärme und Energie verstanden wird.

75 Dieser Hinweis auf die Blut-und-Boden-Mythologie meint nicht, daß Beuys derartiges intendiert habe, jedoch enthält Erde seit dem Faschismus irreversibel dieses Bedeutungsmoment, das mitreflektiert werden muß, wenn wir heute der Erde gegenüber, etwa angesichts ökologischer Katastrophen, eine veränderte Bewertung vornehmen müssen.

76 Nicht eindeutig ist zu entscheiden, ob das, was ich Beuys anlaste, nicht seinen Interpreten angelastet werden müßte. Die Verteidiger von Beuys, wie etwa Rhea Thönges, insistieren jedoch darauf, daß Lehre und Werk des Meisters nicht getrennt gesehen werden dürfen. Da die Lehre aber aufs Positive zielt, auf eine Umgestaltung der Gesellschaft, auf die Freisetzung der schöpferischen Kräfte aller, läßt sich, wenn Werk und Lehre nicht zu trennen sind, das Positive im Werk nicht von seiner morbiden Ausstrahlung ablösen. Aus dem Morbiden muß die Kraft zur Veränderung herausgelesen werden. Dies hieße aber, es gibt kein Neues ohne Verfall. Leben und Tod sind dialektisch verschränkt, das eine ist die Bedingung des anderen.

77 Jorge Luis Borges, Der schreckliche Erlöser Lazarus Morell, in: ders., Der schwarze Spiegel, München 1961, S. i

78 Wenzel Beuys, Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch, Heidelberg 1987; zu einer konträren Deutung der Rauminstallation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch kommt Heiner Bastian, in: Katalog zur d 8 (documenta 8), Bd. 2, Kassel 5987, S. 24. Er spricht von einer opak aufleuchtenden Kälte< und beruft sich dabei auf Beuys. Wenzel Beuys, der Sohn des Künstlers, hat mit seiner Interpretation auf die endzeitliche Deutung von Bastian reagiert und gegen sie protestiert.

79 Ulrich Greiners Charakterisierung einiger Beuys-Interpreten in der ZEIT (siehe Anmerkung 7) als ‘Sänger des höheren Schwachsinns’ trifft auch auf die Kommentare zu Beuys‘ Werken und Aktionen zu. Siehe: Adriani, Konnertz, Thomas: Beuys. Leben und Werk, Köln 1981, S. 223-230; ich meine den Kommentar zu einer Aktion vom 29./30. Mai 1969: “Iphigenie/Titus Andronicus” von Joseph Beuys, Johann Wolfgang Goethe, Claus Peymann, William Shakespeare und Wolfgang Wiens, experimenta 2, veranstaltet von der Deutschen Akademie der darstellenden Künste, Frankfurt/Main, 29. Mai bis 7. Juni. Diese Aktion ist ein mixtum compositum aus einem Schimmel, der Heu frißt, Beuys, der mit Materialien agiert, sowie Texten von Shakespeare und Goethe. Behauptet wird im Kommentar, daß die Texte der beiden Dichter in ihrer Bedeutung fixiert seien und daß ihre herkömmliche Präsentation immer nur Wiederholung bleibe. Diese dümmliche Behauptung widerspricht hermeneutischer Einsicht: Ein Text wird durch jedes Individuum anders gelesen und verstanden, ist also keineswegs die Wiederholung dessen, was über diesen Text seit seinem Erscheinen geschrieben worden ist. Über das wirre Zusammenbringen der einzelnen Aktionselemente heißt es: »Formal ist ein Bedeutungszusammen-hang zwischen den Aktionskomponenten nicht erkennbar, jedoch wird intuitiv erfaßbar -und darauf kommt es Beuys an -, daß hier anhand heterogen erscheinender Bedeutungsfelder eine Verbindung erzielt werden kann, die sich außerhalb vordergründiger Evidenz in einer Ebene der Imagination herstellt.

Der wesentliche Sinngehalt dieser Aktion liegt daher nicht in der unmittelbaren Korrelation ihrer Aktionsmaterialien, sondern in den weitergreifenden Assoziationsmöglichkeiten.« Wenn Kunst darin besteht, durch willkürliches Zusammenbringen von Elementen, die nicht in einem Gestaltungsprozeß vermittelt werden, Assoziationen zu ermöglichen, noch dazu weitergreifende, wird sie zu einem Medium von Beliebigkeit, eben zu dem, dessen man die Postmoderne bezichtigt. Alles kann mit allem unterschiedslos gemixt werden: ein bißchen Antike, eine Prise Goethe, zwei Eßlöffel Schinkel, ein bißchen faschistische Architektur – und schon haben wir genug zu assoziieren ob der so entstehenden neuen Bedeutungsfelder.