Lew Archer oder:

Der Detektiv als Statthalter konkreter Utopie

„Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“  (Caspar David Friedrich)

SPRECHER: In Bertolt Brechts ‚Leben des Galilei‘ bittet dieser die Vertreter des überkommenen Weltbildes, die damals gleichzeitig Repräsentanten weltlicher und kirchlicher Macht waren, durch ein Fernrohr zu schauen: Sie sollen sich durch den Augenschein davon überzeugen, daß die Erde nicht der unbewegliche Mittelpunkt des Universums ist, sondern daß die Erde sich dreht. Die hohen Herren verweigern den Blick durchs Fernrohr: Sie vertrauen ihrer Lektüre des Aristoteles mehr als den wahrnehmbaren Fakten.
Die Selbstgewißheit ihrer Weltanschauung läßt die Wirklichkeit nicht an sie herankommen.
Das ausgehende 20. Jahrhundert scheint dagegen aufgeklärt; die zeitgenössischen Philosophen erklären unaufhörlich, das finstere Mittelalter sei längst überwunden. Wir sind, mit einem Wort, fortgeschritten. Und doch gleichen die meisten dieser Philosophen immer noch jenen mittelalterlichen Anhängern des Aristoteles: Auch ihre Tätigkeit besteht weitgehend in der Kommentierung der Bücher anderer Philosophen. Ihre Deutung der Wirklichkeit vermittelt das Gefühl von Verarmung, vor allem deshalb, weil dieser Philosophie im wesentlichen zwei Perspektiven abhanden gekommen sind: die eine ist die Froschperspektive und die andere bezeichnet weniger den Ort, von dem aus wahrgenommen wird, sondern mehr eine Blickrichtung, nämlich die der Introspektion, der Blick, der nach Innen geht. Der zeitgenössische Philosoph demonstriert die Kraft seines Denkens dadurch, daß er über den Dingen steht, daß er gesellschaftliche Zustände und Tendenzen analysiert, ohne von ihnen selber betroffen zu sein. Seine Perspektive ist nicht die des Leidenden, sondern allenfalls die, das Leiden anderer an den Strukturen der Gegenwart zu benennen.
Doch jede Philosophie, die darauf verzichtet, die Widersprüchlichkeit des Menschen zu sehen und zu reflektieren, bleibt abstrakt. Philosophie gewinnt ihren Gehalt erst dann, wenn sie sich die heute möglichen Formen der Wirklichkeitserschließung aneignet, und dazu gehören unter anderem die Psychoanalyse und die Kunst, einschließlich der Literatur und des Films.
Der französische Soziologe Jean Baudrillard hat das Schlagwort vom Verschwinden der Wirklichkeit geprägt. Dieses Schlagwort ist grundfalsch, denn nicht die Wirklichkeit ist im Verschwinden, sondern die Fähigkeit, sie wahrzunehmen, die Fähigkeit, sie differenziert und aus allen zur Verfügung stehenden Blickwinkeln zu betrachten.
Einer dieser Blickwinkel ist die bereits erwähnte Froschperspektive. Aus dieser Perspektive erfährt man mehr über den Charakter und das Verhalten der Menschen, als aus der Perspektive des allseits anerkannten, über den Dingen stehenden Wissenschaftlers. Aus dieser Perspektive heraus wird auch erst deutlich, daß die sichtbare Außenwelt Ausdruck dessen ist, was alle im Innersten umtreibt. Dieses Innere ist außerordentlich komplex, es ist ein gewaltiger Kosmos, in dem sich Liebenswertes ebenso findet wie die Latenzen des Bösen. Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation und wie dominant die mordgierige, gewalttätige Bestie im Menschen immer noch ist. Aber man muß nicht aus sicherer Distanz auf diesen Krieg blicken, um das festzustellen; ein Blick ins eigene Innere genügt, um wahrzunehmen, daß der Terror als Potential in einem jeden selber lauert. „Jeder Mensch is‘ ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ – sagt Woyzeck. Und an anderer Stelle heißt es bei Büchner:

ZITATOR: „Was ist es, das in uns mordet, lügt, hurt und stiehlt?“

SPRECHER: Dieser Permanenz des menschlichen Charakters ist durch keinen äußerlichen Strukturwandel beizukommen, sofern es im einzelnen Menschen nicht mindestens den Willen gibt, eben das, was immer schon war, nicht selber noch einmal zu wiederholen. Wenn man sich sagt, ich will diesem Rad der Geschichte nicht unterliegen, bedarf es des Studiums der Strukturen des Bösen, das im Inneren des Menschen angesiedelt ist; es gilt den Augenblick zu erkennen, in dem man Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen, Verleumdungen, Vorurteile und das ganze Arsenal der Inhumanität wiederholt. Besteht das Geheimnis der Erlösung in der Erinnerung, so gibt es keine Befreiung des Menschen aus der Wiederholung des Immergleichen ohne diese Introspektion, ohne das helle Bewußtsein des eigenen Anteils an dem, was schon einmal und immer wieder war.
Der Unterschied zwischen dem Niveau der Schulphilosophie, der Philosophie also in Gestalt verbeamteter Professoren, und einer Philosophie in Gestalt der Kunst, dürfte dann darin bestehen, daß das verbeamtete Denken den Namen Philosophie gar nicht verdient, denn ein solches Denken ist der Wirklichkeit und der Erfahrung entfremdet und längst keine Liebe zur Weisheit mehr. Es begnügt sich in der Regel damit, einer wissenschaftlichen Position einen Selbstwiderspruch nachzuweisen, und damit ist sie abgetan. Die Philosophie in Gestalt der Kunst ist deshalb zum Refugium der Weisheit geworden. Und so kann die Figur eines Detektivs zum Statthalter konkreter Utopie werden; gemeint ist Lew Archer, der Privatdetektiv des Kriminalschriftstellers Ross Macdonald. Lew Archer ist ein Verwandter Alvy Singers, des Protagonisten aus Woody Allens ‚Stadtneurotiker‘. Gemeinsam ist ihnen die metaphysische Sicht des Lebens, die psychoanalytische Betrachtung des Menschen, das Gefühl für die Absurdität menschlicher Existenz, eine Art Schwermut oder Melancholie, die von der Leere ausgeht, die Menschen produzieren, indem sie sich im Kreise drehen, besser noch, um sich selbst – gefangen in den eigenen Projektionen.
Lew Archer ist Ich-Erzähler, der Autor Ross Macdonald ist Archer. Mit dem kleinen Unterschied: Archer ist nicht ganz so belesen, wie sein Erfinder, wäre er es, würde Archer als ehemaliger Polizist vielleicht nicht ganz so glaubhaft wirken, erscheint er doch ohnehin schon von der Fülle seines Wissens, der Menschlichkeit seines Verhaltens, der Offenheit und Geradlinigkeit seines Charakters als Verkörperung einer gesellschaftlichen Utopie. Archer scheint eine Vorwegnahme dessen zu sein, was unter Menschen möglich wäre, aber angesichts der Sprachlosigkeit der meisten, angesichts der Tabuisierung der eigenen Verletzbarkeit nur äußerst selten existiert.
Die Eigenschaften Archers, sein Mitgefühl, seine Selbstkritik, seine Introspektion, sein hohes Reflexionsniveau sind keine Projektionen des Autors auf seinen Protagonisten. Archer hat Ähnlichkeiten mit lebenden Personen. Ross Macdonald bezeichnet seinen Detektiv als Antihelden – ein klares Understatement, denn der Begriff des Helden ist dialektisch zu fassen: es bedarf der Stärke, um eigene Schwächen offen anzuerkennen; man ist ehrlich, wenn man auch zugeben kann, daß man gelogen hat; und es bedarf der Aufrichtigkeit, sich einzugestehen, daß man selbst nicht frei ist von solchen Eigenschaften, die man am anderen kritisiert, oder die man gerade deshalb am anderen so deutlich in ihrer Fragwürdigkeit sieht, weil diese Eigenschaften den eigenen sehr ähnlich sind. So wie eine Fläche von mittlerem Grau inmitten eines tiefschwarzen Farbfeldes hell erscheint, so erscheint Archer als Verkörperung konkreter Utopie. Das Grau ist Weiß mit etwas Schwarz gemischt, es partizipiert am Schwarz, ist von ihm affiziert, aber es hebt sich deutlich von ihm ab. Konkrete Utopie ist das real Mögliche, das partiell schon Wirkliche inmitten einer Menschheit, der es nicht gelingt, die immer wieder aufs neue sich reproduzierende Inhumanität zu transzendieren. Diese reale, wirkliche, mit der Hand zu greifende Verkörperung utopischer Qualitäten unterscheidet sich von einem Utopietypus, demzufolge alle Widersprüche aufgehoben sein müssen, wo das Lamm neben dem Löwen zu weiden hat, der Himmel nur noch blau ist, von keiner einzigen düsteren Wolke getrübt, ein Paradies, in dem selbst die Endlichkeit überwunden und der Tod abgeschafft wäre. Archer verkörpert den Gegensatz zu jener Form von Sehnsucht, die das Jenseits im Diesseits möchte – aber jenseits aller diesseitigen Bedingungen.
Sehnsucht nach Utopie war von jeher doppeldeutig: Sie kann den Menschen schwächen und dazu führen, daß er sich vor der Last der Welt zurückzieht, weil er nicht genügend Härte und Rücksichtslosigkeit auszubilden vermag, um sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen; doch die Sehnsucht nach Utopie kann auch stärken, indem sie Orientierung bietet inmitten der Unübersichtlichkeit, dem Relativismus der Wahrheitsansprüche und der Selbstbehauptungsrituale. Konkrete Utopie macht es möglich, das Falsche, das sich als das Richtige ausgibt, als Falsches zu erkennen und auch zu benennen.
Archer partizipiert zwar an der Sehnsucht nach einem Ort, den das Zerstörungswerk der Geschichte nicht erreicht, aber für ihn bleibt dabei ihre Negativität gegenwärtig. Eines Tages schwimmt er irgendwo an der kalifornischen Küste – müde von all den Menschen, die in Schuld und Verbrechen verstrickt sind – in den Pazifik hinaus.
Zitator „Ich drehte mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Über mir der Himmel, um mich herum nur Kühle und Klarheit des Pazifik. Soweit mein Auge reichte, nichts als unendlich weiter, blauer Raum. Noch nie war ich der Reinheit und Freiheit so nahe und den Menschen so fern wie in diesem Augenblick – und ich bin es danach niemals wieder gewesen.“

SPRECHER: Der Lebenszusammenhang der Menschen wird als das Gegenteil von Reinheit und Freiheit empfunden. Archer betrachtet die Menschen in diesem Augenblick nicht unter dem Aspekt ihrer Verbrechen wie Mord, Diebstahl und Raub, sondern, und das ist für einen Kriminalroman zunächst überraschend, unter dem Aspekt dessen, was die Menschen als zivilisatorische Wesen der Natur angetan haben:

ZITATOR: „Sie, die Menschen, haben die Küste von San Diego bis zum Golden Gate mit ihrer Architektur verunstaltet, sie haben riesige Autobahnen durch die Berge gerammt, tausend Jahre alten Baumwuchs mit einem Schlag gefällt und ein Dickicht, das sie Stadt nennen, inmitten der Wüste errichtet. Der Ozean hingegen ist unantastbar. Die Menschen schütten zwar ihre Abfälle hinein, aber sie können ihm nichts anhaben.“

SPRECHER: Macdonald schrieb das 1950 in dem Roman „The Drowning Pool“. Damals glaubte er noch an die Unverletzbarkeit des scheinbar unermeßlichen Ozeans. Lew Archer erfährt ihn als kühl und rein, und obwohl es nicht ausgesprochen wird, kann man sich vorstellen, daß in der klaren Weite des Meeres sich die unendliche Weite des Himmels spiegelt. Es ist ein Bild räumlicher Monochromie: “ a long blue space“ – eine als befreiend empfundene Leere, es ist ein Aufatmen und zur Ruhe kommen. „(…) auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung (…)‘“, das empfiehlt Adorno 1944 in der ‚Minima Moralia‘ anstelle des Prozesses der Zivilisation:
Frei zu sein von einem Beziehungsgeflecht der Menschheit, das einen jeden zum Gefangenen macht, das jeden an die Schwerkraft der gegenseitig sich verstärkenden Eitelkeiten, Profitinteressen, Machtgelüste fesselt, das die Menschen verstrickt hält in der Kumulation der Abwehrmechanismen, der Vermeidung narzißtischer Kränkungen, der Gleichgültigkeit, der Abstumpfung und der Lebenslügen.
Im Verlaufe der Jahrzehnte seines Schreibens hat Ross Macdonald die Erfahrung fortschreitender Naturzerstörung machen müssen, und er hat diese Erfahrung in seinem 1973 erschienenen Buch ‚Sleeping Beauty‘ am stärksten verarbeitet. Auslöser und Hintergrund der Handlung ist eine Ölkatastrophe, die deutlich macht, wie verletzbar der Ozean mittlerweile geworden ist. Das reine Blau ist empfindlich gestört durch die konkrete Expressivität des aus einem Bohrturm auslaufenden Erdöls.

ZITATOR: „Eine im Meer befindliche Ölplattform ragte mit ihrer Windseite aus dem Wasser wie der Metallgriff eines Dolches, mit dem man die Erde verwundet hatte, so daß sie schwarzes Blut spuckte. (…) Vom Hügel oberhalb des Hafens konnte ich die unförmige Ölmasse beobachten, die wie eine vorzeitige Nacht über dem Meer heraufzog.“

SPRECHER: Die Refugien schwinden, in denen ein Aufatmen noch möglich ist; Archer verfällt in eine Endzeitstimmung:

ZITATOR: „Ich ging hinunter zum öffentlichen Strand (…). Ein paar Leute standen am Rande des Wassers und blickten hinaus aufs Meer. Sie sahen aus, als ob sie auf den Untergang der Welt warteten oder als wäre das Ende bereits gekommen, und sie würden sich nie wieder von der Stelle rühren. (…) Der Wind hatte seine Richtung geändert, und plötzlich roch ich das Öl. Es roch nach etwas, das gestorben war, aber niemals gänzlich verwesen sollte.“

SPRECHER: Von den Ölarbeitern und -ingenieuren, denen er begegnet, geht eine latent-spürbare Aggressivität aus. Ihr Boss beäugt Archer mißtrauisch, vermutet in ihm einen Journalisten. Archer sagt, daß er nur ein gewöhnlicher Bürger sei, und bekommt zur Antwort, er habe am Strand nichts zu suchen. Dabei wird er vom Wortführer der Gruppe mit dem Bauch angerempelt.
Archer hatte vor dieser Begegnung mit den Ölarbeitern vom Strand aus eine junge Frau beobachtet, die, aus dem flachen Wasser kommend, einen ölverschmierten Vogel behutsam in ihren Armen hielt. Er entschließt sich zu einem letzten Spaziergang auf dem Strand, einen letzten, weil das Öl aufgrund der einsetzenden Flut auch bald die gesamte Küste überschwemmt haben wird. Unterhalb einer steilen Klippe trifft er auf diese Frau, die er schon von weitem hat schluchzen hören.
Ihr Name ist Laurel Russo, die Frau von Tom Russo und Tochter des Ölmagnaten Lennox; sie versucht, exemplarisch zu retten, was die wirtschaftlichen Prinzipien ihres Vaters zerstören.
Charakteristisch für Archer ist die Art und Weise, wie er diese junge Frau sieht, und was er an ihr wahrnimmt. Er beschreibt den Ausdruck der Augen und der Körperhaltung, den Ton in der Stimme, die Kleidung, also all das, was wissenschaftliches Denken gewöhnlich als unwesentlich abtut.
Laurel Russo ist seelisch zutiefst müde. In ihr, so scheint es, hat sich jene Endzeitstimmung verdichtet, die Archer zuvor beschrieben hatte. Sie wundert sich, was Archer an diesem abgelegenen Ort macht, und vermutet, daß jemand ihn beauftragt haben könnte, sie zu suchen, oder daß er möglicherweise in einem der Häuser wohne, die direkt oberhalb am Rande eines Kliffs stehen.

ZITATOR: „(Laurel) blickte in einer schnellen, verzweifelten Bewegung um sich, dann hinauf zu der Klippe, wo ein über den Hang hinausgebautes Haus über ihrem Kopf wie eine Drohung schwebte“.

SPRECHER: Diese Metapher begreift Zivilisation als Damoklesschwert beziehungsweise als ein fragiles Gerüst, das menschliches Leben stützt, aber es zugleich gefährdet. Bricht das Gerüst zusammen, reißt es die Menschen und die Natur mit sich. Der Geruch des sich ausbreitenden Öls wird immer intensiver, die Stimmung immer schwärzer. Selbst die Surfer, die sich abseits des Ölteppichs auf dem Wasser befanden und ans Land zurückkehren, sind am ganzen Körper verschmiert. Auf Archer machen sie den Eindruck, als hätten sie die Zivilisation aufgegeben, als wären sie bereit für alles oder nichts. Es ist, als wäre mit dieser Katastrophe die Zeit der großen Indifferenz angebrochen. Hieß es über die Menschen in den Romanen von Robert Walser bei Walter Benjamin noch: Seine „Figuren kommen aus der Nacht, da, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen vielleicht, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellt, mit etwas Festglanz im Auge, aber zum Weinen traurig.“ – so ist die Hoffnung für Archer mit dieser Katastrophe erloschen.
Archer geht mit Laurel zurück zu der Stelle am Strand, wo die Menschen, in Schweigen versunken, sich versammelt haben.

ZITATOR: „Wir standen für eine kleine Weile bei ihnen im Halbdunkel des Abends. Der Ozean und seine Küsten werden ja niemals völlig dunkel: das Wasser bündelt das Licht, einem Teleskop-Spiegel gleich.
Laurel stand so nah bei mir, daß ich ihren Atem in meinem Nacken spürte, aber innerlich war sie immer noch weit weg, weg von mir und den anderen, in einer Ferne, die allenfalls ein Teleskop hätte überbrücken können. Mir war, als fühlte sie es selbst. Sie nahm mich bei der Hand. Die ihre war kalt.
Der (…) junge Mann (…), den ich zuvor im (…) Restaurant gesehen hatte, erschien auf dem Kai. Er sprang herab auf den Sand und kam auf uns zu. Seine Bewegungen wirkten unbeholfen und mechanisch, so als ob ihn irgend jemand durch Knopfdruck in Gang gesetzt hatte.
Plötzlich blieb er stehen und schaute drohend (…) zu Laurel hin.“

SPRECHER: Archer nimmt den anderen mit all seinen Sinnen wahr, und diese Wahrnehmung unterliegt einem zeitlichen Ablauf. Er hört zunächst das Schluchzen der jungen Frau, sieht ihre noch feuchten Augen, spürt ihren Atem, fühlt die Kälte ihrer Hand, charakterisiert die Bewegungen des jungen Mannes, die Reaktion der Frau auf das Näherkommen dieses Mannes, eine Reaktion, die sich in ihrem angespannten Griff manifestiert, den er wiederum mit seiner Hand zu spüren bekommt. Archer empfindet Laurels geistig-seelische Abwesenheit gleichsam mit seinen seelischen Antennen, und er wittert ihre Furcht so, wie vielleicht Hunde instinktiv die Angst fühlen, die Menschen vor ihnen haben.
Archers Sinne sind aktiviert wie bei einem Blinden, der die Qualität der Dinge ertasten muß, der gelernt hat, Geräusche genau zu unterscheiden, der an der Lautstärke Entfernungen einzuschätzen vermag und der auch ohne seinen Stock ein Hindernis, das vor ihm auftaucht, aus einiger Entfernung erspürt. Archers Denken ist nicht losgelöst von der Qualität der Dinge, seine Versprachlichung der Welt tastet sich an ihnen entlang. Erst als Laurel seine Hand ergreift, teilt ihm die Berührung mit, daß die ihre kalt ist. Das Bild des anderen, der Zustand, in dem der andere sich befindet, baut sich in ihm mit der Sukzession der Wahrnehmungen auf, formt sich allmählich zu einem Gesamteindruck. Es sind Wahrnehmungen, die von Empathie begleitet werden.
Laurel bittet ihn, von seiner Wohnung aus ihren Mann anrufen zu dürfen.
Doch das Telefonat hilft Laurel nicht weiter. Am anderen Ende der Leitung, bei ihr zu Hause, war nicht ihr Mann, sondern eine Frau, so daß Laurel wieder aufgelegt hat. Sie weiß nun nicht so recht, wohin? Archer bietet ihr als Refugium sein Schlafzimmer an. Laurel bringt die damit verbundene Latenz von Sexualität zur Sprache. Archer kommentiert die Situation selbstkritisch – und hier kommt eine weitere Wahrnehmung ins Spiel: der Blick ins eigene Innere.

ZITATOR: „Sie stand auf und ließ den Regenmantel von ihren Schultern fallen. Es war ein Akt der Zurückweisung. Im selben Augenblick aber, völlig unbeabsichtigt, zeigte sie mir ihren Körper. (…)“

SPRECHER: Archer registriert seine Reaktion auf ihre Körperreize: Für einen Augenblick sieht er sich selbst, und zwar als einen Mann in mittleren Jahren, der im Begriff ist, eine Gelegenheit zu ergreifen.
Laut betont Archer: „Ich möchte nichts von Ihnen.“ Er fragt sich aber im gleichen Moment, ob er damit die Wahrheit sagt. Er macht sich das latent erotische Interesse klar, das unterschwellig seine Hilfsbereitschaft bestimmt.
Mit anderen Worten: Was man von Archer lernen kann, ist die analytische Beobachtung und Selbstbeobachtung, das Bewußtsein komplex ineinander verwobener Handlungsmotive. Archer präsentiert sein Handeln nicht als Mauer, die er Nächstenliebe nennt und die er dazu benutzt, andere, in der Nächstenliebe mitschwingende Motive zu verbergen, sondern er arbeitet – zumindest für sich und den Leser – die Verflechtungen heraus.
Archer gelingt es nicht, die Situation zu entspannen, der Ton in seiner Stimme nimmt eine gewisse Schärfe an, die Laurel als Ablehnung ihrer Person auffasst. Ihr Mißtrauen gegenüber Menschen, ihre tief sitzende Verunsicherung affiziert Archer, zieht ihn in einen zirkulären Ablauf hinein, den er durch sein Verhalten, trotz Selbstreflexion, nicht zu stoppen oder gar zu transzendieren vermag.
Bevor Laurel geht, verschwindet sie für eine ganze Weile in Archers Badezimmer.
Später stellt er fest, daß die junge Frau seine Schlaftabletten, die er im Bad aufbewahrte, hat mitgehen lassen, eine Packung, in der sich noch fünfunddreißig bis vierzig Kapseln befunden hatten.
Laurel – das weiß Archer – ist selbstmordgefährdet.
Diese Erkenntnis setzt ihn in Bewegung, und er macht sich auf die Suche nach ihr, um das Schlimmste zu verhindern.
Die Menschen, die Ross Macdonald beschreibt, jedenfalls die meisten von ihnen, benutzen den anderen, instrumentalisieren ihn. Glück, der wahre Reichtum des Lebens, besteht für diese Menschen nicht in erfüllten Beziehungen, in Verständnis und liebender Zuwendung, in der Erkenntnis der Conditio humana oder im Streben nach Wahrhaftigkeit, sondern Glück mißt sich hier am materiellen Zugewinn, der sich mit der Möglichkeit verschwistert, Macht ausüben zu können. Der Wille zur Macht auf der Basis finanzieller Unabhängigkeit ist das Streben nach einer höchst fragwürdigen Freiheit: über den anderen Menschen stehen zu können, durch keinen mehr verletzbar zu sein, unangreifbar zu werden, eigene Gesetze diktieren zu können. Ein solcher Wille zur Macht ist das Bedürfnis nach Willkür, nach einer Art feudaler Herrschaft, die sich im Zeitalter der Demokratie und des staatlichen Gewaltmonopols in den Nischen der Legalität einrichtet. Der Preis für diese Instrumentalisierung der menschlichen Beziehungen ist eine ungeheuere Leere, die kompensiert werden muß, indem äußerliche Werte zum Fetisch werden. Und das Ganze hat einen Bumerangeffekt: Je hohler das Leben wird, desto mehr muß man besitzen, und je mehr man besitzt, desto leerer wird das Leben.
Der nach Macht Strebende entspricht dem Pokerspieler, dessen hauptsächliche Eigenschaft im Täuschen besteht. Sein charakteristischer Ausdruck ist die Unbeweglichkeit seiner Mimik; und wie beim Pokern ist alles darauf angelegt, andere sich exponieren zu lassen, die dann die Dummen sind. Die Strategen, die nichts von sich preisgeben, sind jenen in Reih und Glied angetretenen Soldaten vergleichbar, die bei dem Ruf, Freiwillige vor, geschlossen zurücktreten, so daß der, der nicht schnell genug reagiert, plötzlich isoliert als einziger außerhalb der Reihe steht und so unfreiwillig zum Freiwilligen wird. Diese Szene aus der Slapstick-Kiste des Films wiederholt sich ständig im gesellschaftlichen Alltag.
In den Romanen von Ross Macdonald werden die Gespräche, die Archer führt, durch seine Beobachtungen und kritischen Kommentare ergänzt. Auf diese Weise wird der Roman zu mehr als nur zur Schilderung einer Handlung: Er wird zur Deutung von Welt. Anders gesagt: Das, was geschieht, wird im Medium der einzelmenschlichen Erfahrung durchgearbeitet, wobei diese Erfahrung sich speist aus den Erkenntnissen der Philosophie, der Psychoanalyse, der Literatur, mit einem Wort: aus gedeuteter Geschichte. Archer demonstriert an sich selbst, daß sich der Mensch zu entwickeln vermag, daß er sich in einem Prozeß befinden kann, in dem sich seine Deutung der Welt erweitert und dabei seine Sicht der Dinge komplexer und differenzierter wird. Dazu ist es unumgänglich, die Begrenzungen, denen man einst unterlag, genau zu benennen. Archer korrigiert sein ehemaliges, vom Schwarz-Weiß-Kontrast geprägtes Weltbild, und er bezieht sich in den Kreis der Schuldigen ein, als er nach der Aufklärung einer Mordserie in dem Roman ‚The Doomsters‘ mit Tom Rica ein langes Gespräch führt:
Tom, ein Drogenabhängiger, ist Archer von früher her bekannt. Archer hatte damals versucht, Tom zu helfen, ihn aus dem Mileu der Kleinkriminalität herauszuholen. Tom hat sich aber nicht so helfen lassen, wie Archer es wollte. Archer gesteht sich ein:

ZITATOR: „Ich war zu meiner Zeit selber einer derjenigen, die sich auf der Straße herumtrieben, ich war ein Dieb, war in Bandenkämpfe verwickelt und hatte in Billardkneipen angegeben. Ich erinnerte äußerst ungern diese Zeit. Sie paßte nicht in das (…) Hochglanzbild, das ich von mir selber hatte. (…) Der Jugendklub hatte mir einst geholfen, da rauszukommen, und so dachte ich, daß er auch das beste für Tom wäre. Da Tom sich nicht an meine Ratschläge hielt, war meine Eitelkeit verletzt; besonders gekränkt war ich, als er zum ersten Mal ein Auto klaute.“

SPRECHER: Archer bezieht diese selbstkritischen Überlegungen auf ein drei Jahre zurückliegendes Ereignis. Tom tauchte damals unvermittelt in seinem Büro auf und wollte mit ihm reden. Archer blockte ihn ab, schob ihn gleich wieder zur Tür hinaus.
Er analysiert nun die Motive für sein damaliges Verhalten: eines dieser Motive war die bereits erwähnte narzißtische Kränkung, ein zweites die Abwehr seiner eigenen Vergangenheit, die ihm in Tom wieder begegnete, ein drittes war – verstärkt durch Alkoholkonsum – ein Anfall von Weltschmerz und Zynismus, weil sein Versuch gescheitert war, mit seiner von ihm geschiedenen Frau Sue wieder ein Verhältnis zu beginnen. Archer hatte nun einige Hoffnungen auf die sich anbahnende Beziehung mit einer einflußreichen Blondine gesetzt, die ihm, so banal das auch klingen mag, Zugang zu einem der exklusiven Strandclubs verschaffen sollte. Er wartete gerade auf sie, als Tom plötzlich erschien.

ZITATOR: „Als er eintrat, war mein erster und letzter Gedanke, ihn gleich wieder hinauszubugsieren. Ich wollte verhindern, daß die Blondine mich mit ihm zusammen sah. Mir war sein auffälliger Haarschnitt und seine Halbstarkenjacke peinlich. (…) Ich speiste ihn mit ein paar abschätzigen Worten ab (…).“

SPRECHER: Bei dem Gespräch mit Tom, das nun drei Jahre später stattfindet, stellt sich heraus, daß er Archer damals eine Beobachtung hat anvertrauen wollen, die wie ein Dominoeffekt die Mordserie in Gang brachte: Hätte Archer damals zugehört, wäre er sicherlich der Sache nachgegangen und hätte dafür sorgen können, daß kein weiteres Unheil mehr angerichtet wurde.
Archers Fazit besteht in der Erkenntnis, daß Verdrängtes wiederkehrt:

ZITATOR: „Ich hatte Tom damals abblitzen lassen. Aber im Grunde genommen ist es gar nicht möglich, sich auf diese Weise von anderen Menschen frei zu machen, geschweige denn, von sich selbst frei zu werden. Sie warten auf einen und kehren zurück, wenn der Augenblick gekommen ist. (…) Dieser Kreislauf der Zeit, durchtränkt mit Schuld, ähnelte doch allzusehr jener Schlange, die – ihren Schwanz im Maul – sich selber aufzehrt. Wenn man dabei lange genug zusah, blieb nichts mehr übrig, auch nicht von einem selbst. Wir alle waren schuldig. Wir mußten lernen, damit zu leben.“

SPRECHER: Die Leistung Archers besteht in seiner selbstkritischen Introspektion, in der Analyse seines eigenen Verhaltens. Genau das, was Archer unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit an sich selbst demonstriert, fehlt zumeist in der theoretischen Charakterisierung gesellschaftlicher Prozesse und historischer Veränderungen. In den Atlanten der Abstraktion erscheinen die Tendenzen der Gegenwart nur als Umrisse, das Wechselspiel zwischen der Instinkttätigkeit des Einzelnen und seinem Bewußtsein bildet auf jenen Landkarten die weißen Flecke. Menschliches Verhalten ist nicht etwas Allgemeines, sondern eine Abfolge einzelner, sich laufend verändernder Situationen. Und auf diese wäre der analytische Blick zu richten. Theorien, die den allgemeinen Strukturwandel lediglich beschreiben, machen aus dem Menschen einen determinierten Automaten, dessen Leben gänzlich von historischen Umwälzungen abhängig ist. Geschichte wird so allein von den technischen Innovationen bestimmt, dem Drang nach neuen Produkten, verbunden mit dem Aufspüren der ihnen gemäßen Bedürfnisse als Garant des Umsatzes. Doch Geschichte ist mehr als der Fluß des Kapitals, der sich den Weg des geringsten sozialen und ökologischen Widerstandes sucht, um anzuwachsen. Das in der Ökologiediskussion aufkeimende Bewußtsein, es sei überlebensnotwendig für den gesamten Erdball, daß jeder einzelne lernt, die Folgen seiner Handlungen im Augenblick des Handelns mitzubedenken, scheint heute eher peripher geworden zu sein. Aber: Diese Maxime gilt nicht nur weiterhin und nicht allein für die Ökologie, sondern für alles menschliche Handeln.
Archer erkennt erst im Nachhinein, daß es ein schwerwiegender Fehler war, Tom Rica nicht anzuhören. Sein abweisendes Verhalten hat ihn in Schuld verstrickt. Archers Einsicht kommt zwar für die Ermordeten zu spät, aber er akzeptiert, daß er mitverantwortlich ist für das Unheilvolle, das geschah. Dabei hat er nichts anderes getan als das Alltägliche – auf einen anderen nicht einzugehen, ihm nicht zuzuhören, in erster Linie an sich selbst zu denken, die eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Jeden Tag werden in Millionen von Situationen Menschen von anderen abgewiesen, beiseite geschoben, als lästig empfunden, wird mit der Arroganz der Macht über sie hinweggegangen.
Archer entlastet sich nicht durch Berufung auf das Übliche, sondern er erinnert an die antike Einsicht, daß Ausgrenzung Kräfte mobilisiert, die ein zerstörerisches Potential in sich enthalten, Kräfte, die durch die Ausgrenzung erst zu zerstörerischen werden. Die Weisheit des Aischylos, dargestellt in seiner Orestie, die Weisheit, daß allein durch Integration die Furien des Schreckens und der Vernichtung sich verwandeln lassen in solche, die Gutes bewirken, scheint vergessen in einer Gesellschaft, in der nur noch der kurzatmige Profit zählt, in der die je eigene Lebenssicherung im Vordergrund steht und in der von den Ausgegrenzten verlangt wird, daß sie auf das Allgemeinwohl Rücksicht nehmen.
Archer macht deutlich, daß verantwortungsvolles Handeln ohne Selbstreflexion und vor allem ohne Wertvorstellungen nicht möglich ist. Katastrophen sind das Ergebnis sich kumulierender Einzelhandlungen, und die einzelne Handlung ist abhängig von dem Bewußtsein, das ihr vorausgeht oder sie gleichsam nacharbeitet. Hegel hat in seiner ‚Philosophie der Geschichte‘ sehr anschaulich dargelegt, daß einer, der ein winziges Streichholz an die kleine Ecke eines Balkens hält, bedenken muß, daß dieser Balken sich in einem Haus befindet, das neben anderen Häusern steht. Brennt am Ende die ganze Straße nieder, kann man sich nicht damit herausreden, man habe doch das Streichholz nur an die kleine Ecke eines Balkens gehalten. Das, was ich in diesem Augenblick tue, dieses Winzige, scheinbar Unbedeutende, muß ich von seinen möglicherweise weitreichenden Folgen her betrachten – und es gegebenfalls unterlassen oder mich anders verhalten.
Diese Aufforderung zur Selbstwahrnehmung hat eine geschichtsentscheidende Dimension. Das Bewußtsein eines Einzelnen, der seine Gefühlsregungen und Impulse analysiert, der sie also nicht nur passiv registriert, dieses Bewußtsein ist prägend für sein Handeln; und dieses Verhalten wirkt sich nicht nur auf seine unmittelbare Umgebung aus, sondern ebenso auf größere Zusammenhänge.
Wer aus den Erfahrungen der Geschichte lernt, muß das Falsche nicht endlos wiederholen, dieselbe alte Inhumanität nicht immer wieder aufs neue reproduzieren. Für die Getöteten ist es kein Fortschritt, wenn sie nicht mehr nacheinander enthauptet, sondern alle auf einmal in die Luft gesprengt werden. Die Bestie Mensch benutzt die neuen Technologien, um noch besser das bleiben zu können, was sie immer schon war.
Wenn es eine Möglichkeit der Veränderung gibt, dann kann diese nur in der Hinwendung zum Einzelnen liegen. Das Ethische besteht nicht aus Generalisierungen, es ist stets an das Detail gebunden, an die konkrete Situation, an das ständig wache Unterscheidungsvermögen von Richtig und Falsch in jedem gelebten Augenblick. Archer sagt in ‚The Drowning Pool‘:

ZITATOR: „Wahrheit ist für mich von Bedeutung. (…) Nicht die allgemeine Wahrheit, sofern es diese überhaupt gibt, aber die Wahrheit der einzelnen Dinge.“

SPRECHER: Was in vielen Philosophieseminaren verpönt war und ist, nämlich Beispiele – sie sind tabu, weil sie die Allgemeingültigkeit abstrakter Aussagen ins Wanken bringen -, besitzt bei Archer Vorrang. Einer Klientin, die ihn aufsucht und darüber redet, daß die Menschen früher nach dem liberalen Grundsatz ‚leben und leben lassen‘ gehandelt hätten, erwidert Archer:

ZITATOR: „Sie sind sicher nicht zu mir gekommen, um mit mir in abstrakter Form Moral zu diskutieren. Nennen Sie mir bitte ein Beispiel.“

SPRECHER: Archers Verständnis von Welt bezieht sich auf das Einzelne, das Allgemeine existiert nicht außerhalb der besonderen Situation. Der Begriff vom ‚ständig wachen Unterscheidungsvermögen‘ ist eine andere Bezeichnung für Wahrhaftigkeit, die Archer verkörpert. Eines ihrer Grundelemente ist die Aufmerksamkeit. In ‚The Underground Man‘ ist Archer mit dem Auto unterwegs nach Santa Teresa. Seine Begleiterin ist gleichzeitig seine Auftraggeberin, eine junge Frau, auf der Suche nach ihrem kleinen Sohn. Sie lebt von ihrem Mann getrennt, und dieser hatte einige Stunden zuvor das Kind gegen dessen Willen bei ihr abgeholt, um es angeblich zu seiner Großmutter zu bringen, die in einem der Canyons von Santa Teresa lebt. Dort ist ein Waldbrand ausgebrochen, der sich rasch ausbreitet. Archer überlegt nun auf der Fahrt zu diesem Canyon, ob er Nachrichten hören sollte, um Genaueres über das Feuer zu erfahren.

ZITATOR: „Vor uns auf dem Highway wurde der Verkehr immer dichter, bis er sich schließlich staute. Ich beugte mich in die Richtung des Autoradios und wollte es einschalten, entschied mich aber, es nicht zu tun. Die Frau neben mir hatte bereits genug Sorgen, ich mußte sie nicht zusätzlich mit Berichten über den Verlauf des Feuers belasten.“

SPRECHER: Aufmerksamkeit ist die primäre Voraussetzung für Wahrhaftigkeit: Sie bezieht den anderen in das, was man tut, mit ein, sie ist die Fähigkeit, sich in den Gemütszustand des anderen hineinzuversetzen und zeigt sich in kleinen Gesten. Sehr viele Situationen jedoch lassen eine einfache Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch gar nicht zu, sie sind mehrdeutig, widersprüchlich, paradox oder haben gar den Charakter eines Dilemmas.
Doch ungeachtet der Schwierigkeiten, sich in komplexen Situationen angemessen zu verhalten, sind zu viele Menschen noch nicht einmal bereit, Wahrhaftigkeit zum Maßstab ihres Handelns und Denkens zu machen. In ‚The Ivory Grin‘ begegnet Archer einer Einundzwanzigjährigen, die als Gesellschafterin bei einer älteren Millionärswitwe arbeitet. Archer hatte der reichen Dame seine Dienste angeboten, um ihren verschwundenen Sohn zu suchen. Die alte Frau zeigte wenig Bereitschaft, offen mit Archer über ihren Sohn, über dessen Liebschaften zu sprechen. Als er die Villa verläßt, kommt es zu einem Gespräch mit der Gesellschafterin, die ihn vor die Tür begleitet. Sie erklärt ihm:

ZITATOR: „Die vor-freudianischen Frauen wissen es alle, aber sie sprechen es niemals aus, noch nicht einmal in ihren Gedanken. Ihr ganzes Leben besteht darin, sich für Abendgesellschaften im Dschungel fein zu machen.“

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SPRECHER: Dieser Satz besitzt eine Schlüsselfunktion für das Denken von Lew Archer. Er wird zwar hier nicht von ihm selbst ausgesprochen, aber er kann als gemeinsamer Nenner für viele Situationen betrachtet werden, in denen Archer sich Offenheit wünschte, aber Maskierung erfährt. Sein wiederkehrender Kommentar über solche Situationen läßt sich wie folgt zusammenfassen: Ich wußte, daß sie mich belog. Sie wußte, daß ich es wußte, und log weiter.
Es besteht allerdings noch ein Unterschied zwischen einer bewußten Lüge und dem, was man zwar spürt, aber nicht im eigenen Bewußtsein zuläßt: Viele Menschen idealisieren ihr fragwürdiges Verhalten in ihrem libidinös und narzißtisch besetzten Selbstbild derart, daß sie zwischen Wahr und Falsch gar nicht mehr unterscheiden können; sie merken es selbst nicht mehr, wenn sie lügen, und obwohl sie es nicht mehr merken, ahnen sie dennoch wie aus ganz weiter Ferne die Wahrheit, die sie nicht an sich heranlassen. Hier hat auch falsche Rücksichtnahme ihren Ort, die meist verschwägert ist mit dem Opportunismus. Man tastet den anderen nicht an und schweigt, läßt ihn gewähren und sich alles gefallen.
Treibhaus solcher Wirklichkeitsfremdheit sind die gesellschaftlichen Führungsetagen und die Unerreichbarkeit der sie bewohnenden führenden Persönlichkeiten*: Abgeschirmt durch einschüchternde Eingangshallen, durch Vorzimmer, Pförtner und Sekretärinnen sind sie in ihrer Ferne der Menschlichkeit entrückt. Das Ambiente dient als Verstärkung der narzißtischen Mauer, der gesellschaftliche Aufstieg ist nicht selten eine Flucht in die Regionen vermeintlicher Unangreifbarkeit, in denen man sogar vor sich selbst geschützt ist. Nietzsches Satz über seinen Aufenthalt in Sils Maria „Zweitausend Meter über dem Meer, geschweige denn über der Menschheit“ läßt sich so verstehen, daß der Philosoph, der sich als Fremder in seiner Zeit fühlte, Distanz benötigte, um die Realität, den Druck partikularer Wahrheitsansprüche verarbeiten zu können. Die Führungspersönlichkeit in Gestalt von Politikern oder Topmanagern benötigt die Distanz, um die Realität nicht zu verarbeiten, um sich selbst nicht zur Disposition stellen zu müssen. Häufig genug greift man bei Menschen, deren Karriere allzu glatt verlief, ins Leere, so als wäre ihr Inneres hohl. Wegen dieser Hohlheit ruft eine humane Regung auch kein Echo hervor. Die Persönlichkeit wird zusammengehalten von den Anzügen, die, wie Gottfried Benn meinte, bei gutem Stoff zehn Jahre halten.
Realitätsverlust und Eitelkeit sind eben Synonyme. Was immer auch die Gefahr narzißtischer Kränkung in sich enthält, und das Realitätsprinzip im Sinne Freuds stellt schon eine solche Kränkung dar, wird vermieden. Das Ich packt sich in Watte, bleibt so unselbständig, regrediert oft zum Babyhaften. Zumindestens in wesentlichen Teilen bleibt das Ich unentwickelt. Fähigkeiten werden einseitig ausgebildet, so daß nur eine fachspezifische Karriere möglich ist. Eine solche Führungspersönlichkeit ist vielleicht vierzig Jahre alt, als Mensch aber gerade erst zwölf – „ein ewiger Peter Pan, außerhalb von Zeit und Raum“, wie Archer es einmal formuliert.
In dem Roman ‚The Zebra-Striped Hearse‘ (Der schwarz-weiß gestreifte Leichenwagen) heißt der Auftraggeber Colonel Blackwell: dessen Vermögen, die Geschichte spielt Anfang der sechziger Jahre, beträgt umgerechnet zwei Millionen Mark. Blackwell hatte mit Archer telefonisch einen Termin vereinbart, die Frau Blackwells ist aber bereits vor ihrem Mann in Archers Büro gekommen und informiert Archer umrißhaft darüber, was man von ihm möchte. Die Tochter der Blackwells beabsichtigt, einen Südamerikaner zu heiraten, einen mittellosen Maler namens Damis Burke. Blackwell will Informationen über Burke, genauer gesagt, er will von Archer sein Vorurteil bestätigen lassen, daß Burke eine kriminelle Vergangenheit gehabt haben muß; mit derart eindeutigen Gründen hofft er, die Beziehung zwischen dem Maler und seiner Tochter beenden zu können. Blackwell betritt lautstark den Vorraum von Archers Büro. Sein aggressives Auftreten ist auf zweierlei zurückzuführen: Erstens stört es ihn, daß seine Frau allein mit Archer ist, und zweitens befürchtet er, daß sie Archer ein positives Bild von Burke vermittelt haben könnte.
Blackwell blökt Archer an, bevor er sich ihm vorgestellt hat. Archer fragt ihn, wer er denn sei und ob er sich ausweisen könne.

ZITATOR: „Sein braungebranntes Gesicht schwoll erst rot an und wurde dann lavendelfarben. Als sein Geschrei die Farbe Lila durchlaufen hatte, sagte ich zu ihm: „Sind Sie wirklich Colonel Blackwell? Aufgrund der rüpelhaften Art, mit der Sie hier hereingekommen sind, dachte ich, Sie wären ein Choleriker. In Detektivbüros kommen eine Menge Leute, die ständig nur Gift verspritzen.“

SPRECHER: Er weist Blackwell darauf hin, daß er seinen guten Ruf als Detektiv verspielte, wenn er mit einem Fall auch gleich die Vorverurteilung durch seinen Klienten übernimmt.
Blackwell gerät erneut in Rage. Archer ironisiert diesen Gemütsausbruch

ZITATOR: „Sein Gesicht war erneut in den Farbkreis eingetreten und begann dieses Mal mit Rosa.“

SPRECHER: Die geld- und traditonsgestützte Macht von Blackwell – er erwähnt mit Stolz, daß seine Familie auf eine dreihundertjährige Tradition zurückblicken kann, die mit der Kolonialisierung von Massachusetts begann – diese Macht nimmt es übel, wenn sie mit den Niederungen der Realität konfrontiert wird, wenn sie nicht widerspruchslos dominieren kann.
Immer wieder begegnet Archer einem Elterntypus in der High-Society – oft haben sie nur ein Kind -, der den Sohn oder die Tochter idealisiert nach dem Motto: Wir haben unserem Kind alle Annehmlichkeiten des Lebens geboten, deshalb kann es nur ein gutes Kind sein. Hat sich aber das mittlerweile erwachsene Kind mit Leuten eingelassen, die in der klinischen oder traditionsschweren Atmosphäre des Reichtums anrüchig erscheinen, so kann das nie am eigenen Kind liegen, sondern immer nur am üblen Einfluß der gesellschaftlich Minderwertigen, der Entgleisten, der Drogenabhängigen, der Schmuddeltypen und Kriminellen. Die ‚Mein-Kind-tut-so-etwas-nicht-Einstellung‘ wird mit heftiger Abwehr verteidigt, wenn Archer durch seine hartnäckigen Fragen herauszufinden versucht, mit wem der Sohn oder die Tochter Umgang haben könnte.
Dringen mißliebige Personen, deren Identität und Herkunft nicht eindeutig festgestellt werden kann, ins scheinbar hermetische Reich des unbefleckten Reichtums ein, versucht man das beunruhigende Fremde mit aller Macht wieder zu entfernen, projiziert den eigenen Egoismus und die eigene Niedertracht auf das Unbekannte und bekämpft es mit Verve wie einst Don Quichotte die Windmühlen, die er für Ritter hielt. Die Verblendung ist derart stark, daß die Realität selbst gar nicht mehr zu errreichen ist: Blackwell bezichtigt Damis Burke der Mitgiftjägerei; er geht davon aus, daß dieser dahergelaufene südamerikanische Hungerleider bloß auf das Vermögen seiner Tochter spekuliert, das sie mit der Erreichung ihres zweiundzwanzigsten Lebensjahres von ihrer Tante erben wird. Um seiner Tochter und damit Burke den Zugriff auf das Vermögen sperren zu können, wäre es besser gewesen, so Blackwell zu Archer, wenn man ihm, Colonel Blackwell, die Verfügungsgewalt über das Vermögen übertragen hätte.

ZITATOR: „Diese Vorstellung von Blackwell kam mir höchst zweifelhaft vor. Er war ein trauriger Mann, mit einer Menge Kummer, kaum befähigt, im Leben eines anderen Gott zu spielen. Doch je trauriger und kummervoller solche Menschen waren, um so mehr sehnten sie sich nach Omnipotenz. Und diejenigen, die wirklich in Schwierigkeiten steckten, glaubten, daß sie omnipotent wären.“

SPRECHER: Der Wille zur Macht, der seine eigenen Fragwürdigkeiten, wie zum Beispiel die ihm innewohnende Gefahr der Angstneurose, nicht mehr selbstkritisch verarbeitet, verfällt der Sucht nach Omnipotenz, die mit immer größerem Aufwand gesichert werden muß. Die tragische Komponente solchen Strebens, der Macbethianismus, wird heute kaum noch durch Kunst, geschweige denn durch die Betroffenen selbst reflektiert. Die Schwäche der Künstler wird in der Geschichtsphilosophie beziehungsweise der geschichtsphilosophisch orientierten Ästhetik rationalisiert mit der Auffassung, Tragik sei historisch überholt. Die Realität aber wird verfehlt, wenn reflektierendes Denken die Erfahrungen der Geschichte, die von ihr durchschauten Gesetzmäßigkeiten des Handelns verwechselt mit dem Wissen der Macher, die in verblendeter Arroganz – wie Pubertierende – das kumulierte Wissen nicht zur Kenntnis nehmen, sich weigern, aus der Geschichte zu lernen und Kunst, Philosophie und Geisteswissenschaften als überflüssigen Luxus betrachten. In der Gesellschaft kann in der Regel nur derjenige, der eine Machtposition ergattert, seinen mehr oder weniger zufälligen Ansichten, die noch keine Persönlichkeit ausmachen, Ausdruck verleihen. Humane Substanz, so scheint es, hat ohne Machtposition kaum Chancen, und im Streben nach Macht bleibt sie zumeist auf der Strecke. Dies wirft ein trübes Licht auf das Urteilsvermögen der Menschen, die etwas nur dann akzeptieren, wenn es im Glanz der Macht auftritt. Archer, der sich selber sehr kritisch unter die Lupe nimmt, der den Mechanismen der Eitelkeit mißtraut, läßt sich durch Macht und Reichtum nicht beeindrucken. Für ihn zählt in erster Linie das Verhalten der Menschen, mit denen er zu tun hat.
Für gewöhnlich jedoch reagieren Menschen auf das Verhalten anderer so, als ob uralte Schemata in ihnen wachgerufen werden. Zeigt jemand Unsicherheit, löst das sehr oft, in Erinnerung an die eigenen Unsicherheiten, keine Empathie aus, sondern Überlegensheitsgefühle. Ist jemand hilfsbereit, freundlich und entgegenkommend, so neigen viele dazu, dies auszunutzen. Die Rede von der ganzen Hand, die man nimmt, wenn einem der kleine Finger gereicht wird, ist zwar ein Allgemeinplatz, drückt aber den Mechanismus der Instinkte plakativ aus. Es gibt, wenn man so will, einen merkwürdigen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Arsenal von Reflexen, die in mythische Zeiten zurückreichen, und der angeblich dem Mythos konträren Epoche der technischen Erfindungen, die Ausdruck der Einsicht in die mechanischen Kausalitätsverhältnisse der Natur sind. Der japanische Regisseur Akira Kurosawa hat in seiner Macbeth-Adaption die Handlung wie ein Uhrwerk ablaufen lassen, so, als wären die Menschen determiniert wie die Rädchen, die durch eine gespannte Feder in Gang gesetzt werden und die erst zum Stillstand kommen, wenn die Energie verbraucht ist. Der Automatismus, dem menschliches Verhalten unterliegt, ist die ständige Wiederkehr des mythischen Zwangs.
Es bedarf eines gewissen Trotzes, Geschichte nicht blind zu wiederholen. Man muß sich ausklinken wollen aus dem Immergleichen. Freiheit besteht nicht darin, sich den schematischen Instinktreaktionen zu überlassen, sie auszuleben, sondern sie sich bewußt zu machen, sie zu gestalten. Das heißt: Reflexe durch Selbstbeobachtung zu kontrollieren und zu entscheiden, wann man sich Impulsen überläßt und wann man sie zurückhält. Man muß sich selbst gegenüber wachsam sein, und versuchen, darauf zu achten, ob zum Beispiel die Hilfsbereitschaft eines anderen bei mir zu immer unverschämter werdenden Ansprüchen führt – und sich für den Fall sagen: Nein! Ein Nein, daß den Fluß wechselseitig reaktiven Verhaltens unterbricht. Um im Bild zu bleiben: Kleiner Finger, ganze Hand entspricht einem Schema, das Paul Watzlawick mit dem Begriff ‚Immer-mehr-desselben‘ bezeichnet. ‚More of the same‘ sagt auch Archer an einer Stelle, und er charakterisiert damit ein Leben, in dem immer wieder die gleichen Muster reproduziert werden, ein Leben, das sich im Kreise dreht. In eben dem Maße, in dem Archer sich das Mörderische, das mitunter in der Luft liegt und das ihn einlädt, es in die Tat umzusetzen, bewußt macht, und er sich so der Aufforderung zum Unheil widersetzt, in dem gleichen Maße reflektiert er auch die Aufforderung zur Gewalt. Als Detektiv kommt er häufig in Situationen, in denen sein Wille zur Klärung von Sachverhalten, in denen seine Fragen aggressive Abwehr provozieren und ihm Schläge angeboten werden. Archers Reaktion:

ZITATOR: „Ich will den Kreislauf der Gewalt durchbrechen, ich will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, nicht noch mehr Gewalt zu der bereits vorhandenen Gewalt hinzufügen.“

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SPRECHER: Die Berliner Schaubühne hat vor über einem Jahrzehnt unter der Leitung von Peter Stein die ‚Orestie‘ des Aischylos aufgeführt und auf einem der dazu veröffentlichten Plakate das antike Schema der Vergeltung thematisiert: ‚Rache um Rache, Mord um Mord, Tod um Tod.‘
Große Kunst, die sich der Menschheitsthemen annimmt, und Philosophie, die inhaltlich denkt, reflektiert das Phänomen der Wiederholung des Immergleichen. Ihr Impuls zielt auf die Transzendierung des Mythos vom blutigen Tauschprinzip, zielt darauf, wie Adorno es in seinem Aufsatz über Goethes Iphigenie genannt hat, Gewalt durch Gewaltlosigkeit zu unterbieten.
Ross Macdonald unterscheidet sich deutlich von Mickey Spillane, und Archer verkörpert eine gänzlich andere menschliche Qualität als Spillanes Detektiv Mike Hammer: Der bezeichnet sich selbst als das Gesetz, der sagt – gottgleich – von sich, die „Rache ist mein“, und schlägt mit Genugtuung dem Bösewicht solange „in die Fresse (…), bis jener blutet“. Als Archer einmal gefragt wird, ob er das Prinzip der Gerechtigkeit vertritt, antwortet er, besser noch als Gerechtigkeit ist Gnade. In ‚The Drowning Pool‘ läßt Archer die jugendliche Mörderin namens Cathy laufen. Die Ehe ihrer Eltern ist ein ständiger Kampf, Archer nennt ihn einen Privatkrieg, voll von permanenten gegenseitigen Schuldzuweisungen; und die reiche Großmutter, die über enormen Landbesitz verfügt und der das Haus gehört, in dem sie leben, ist völlig auf sich selbst fixiert. Diese Großmutter redet geradezu besessen von ihrem Besitz. Über diese Frau fällt Archer das härteste Urteil, das sich bei Ross Macdonald überhaupt findet:

ZITATOR: „Ich dachte bei mir, ihre Egozentrizität ist derart massiv, daß es ausreichen würde, damit einen Diktator auszustatten – und was dann noch übrig blieb, würde für einige Gauleiter ausreichen.“

SPRECHER: Die Großmutter wird von ihrer Enkelin, also von Cathy, im Swimming-Pool ertränkt. Ihr leiblicher Vater – der Sohn der Ermordeten war nur ihr Stiefvater – quittiert den Polizeidienst. Er bittet Archer zu schweigen, und begründet diesen Wunsch mit der Erfahrung, daß selbst in schlimmeren Fällen aus solchen Jugendlichen noch geradlinige Menschen geworden wären. Archer sagt ihm Diskretion zu. Die Szene, in der dies geschieht, spielt nachts draußen im Garten, und Archer schließt seine Erzählung mit den Worten:

ZITATOR: „Die Nacht, die uns umgab, war nahezu undurchdringlich. Unsere Hände tasteten nacheinander und trafen sich. Ich ließ ihn in der Dunkelheit zurück.“

SPRECHER: Archer berücksichtigt bei seinen Entscheidungen und Urteilen die Lebensumstände, die einen Menschen prägen: Daß er Gnade über die Gerechtigkeit im juristischen Sinne stellt, hat zu tun mit seiner Fähigkeit zur Empathie, und diese Fähigkeit ist bei ihm wiederum verschwistert mit seinem Hang zur Selbstbeobachtung. Dieser Aufmerksamkeit erschließen sich all die Fehlbarkeiten, Mängel und Schwächen, die man an anderen beobachtet und gewöhnlicherweise als störend, lästig, verurteilungswürdig empfindet. Archer lauert aber nicht auf die Schwäche des anderen, um in der Sekunde, in der dieser seine Deckung aufgibt, über ihn herzufallen, sondern er ist geprägt von einer latenten Bereitschaft, Schutzlosigkeit mit Schonung, Verletzbarkeit mit Humanität zu beantworten.
Es besteht zweifelsohne ein Zusammenhang zwischen der Einsicht in die eigenen Grenzen und Unzulänglichkeiten, der Einsicht in die eigene Bedürftigkeit und Abhängigkeit, und dem Vermögen, Empathie für andere aufzubringen, wenn ihr Schmerz sichtbar wird. Adornos Diktum, daß man nur da geliebt werde, wo man schwach sich zeigen darf, ohne Stärke zu provozieren, wäre zu ergänzen: Es bedarf nicht erst der Liebe, um auf die Demonstration von Stärke zu verzichten; die Fähigkeit der Einfühlung, die auf der Fähigkeit der Selbsterkenntnis basiert, ist völlig ausreichend. Um solidarisch zu sein, ist allerdings eine Art von Stärke erforderlich, die es ermöglicht, Schwächen bei sich selbst zuzulassen; und das heißt, dem Blick auf sich selbst und in sich selbst standzuhalten. So, wie Lew Archer andere wie ein Vivisektionist beobachtet, schaut er auch sich selbst zu. Von Proust wird gesagt, daß er noch seinen eigenen Sterbensprozeß registriert habe, um zu begreifen, was Leben heißt; Beckett, Proust radikalisierend, hat diese Form der minutiösen Selbstbeobachtung in seiner Romantrilogie ‚Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose‘ dargestellt. Malone beginnt mit den Worten: „Ich werde endlich nun doch bald ganz tot sein.“ – und endet mit der Aufzeichnung des letzten Lichtstrahls bewußten Daseins: „nichts mehr“.
Eine der Situationen, in der sich Lew Archer seiner Hinfälligkeit bewußt wird, ergibt sich beim Besuch einer Frau, von der er bestimmte Hinweise haben möchte. Diese wohnt in einer schäbigen Gegend, in einem schäbigem Zimmer, in dem ein schmutziger Spiegel an der Wand hängt, dessen Widergabe verschwommen und verzerrt ist. Archer benutzt zur Beschreibung des gespiegelten Bildes jenen Begriff, der für die Art der Darstellung von Gesichtern in der Malerei von Francis Bacon verwendet wird: the distortion of the face, die Verzerrung, Verdrehung und Verwischung des Gesichts. Bacons Malerei ist eine Kombination der Zerstückelung und Neuzusammensetzung der Gesichter bei Picasso und der wolkigen Unschärfe der Bilder Turners. Archer schreibt über seinen Anblick:

ZITATOR: „Der Mann im Spiegel war riesig und hatte einen flachen Körper, sein Gesicht war hager und verbogen. Eines seiner grauen Augen war größer als das andere, es schwamm und schwankte hin und her wie das Auge des Gewissens. Das andere Auge war klein, verkniffen und durchdringend. Für einen Augenblick hielt ich inne, eingefangen durch mein eigenes, verzerrtes Gesicht (my own distorted face), und das Zimmer changierte wie ein Kippbild, das Psychologen bei Wahrnehmungstests verwenden. Einen Moment lang war ich ein Mann im Spiegel, eine schattenhafte Figur ohne eigenes Leben, eine Figur, die angestrengt mit einem großen und einem kleinen Auge durch schmutziges Glas auf das schmutzige Leben der Menschen in einer schmutzigen Welt starrte. (…) Ich setzte mich auf die Kante eines der schmalen (…) Betten. Die Bewegungen im Spiegel waren schnell und präzise wie die eines jungen Mannes, doch es fehlte ihnen der Enthusiasmus der Jugend. Und nun war seine Stirn so dick und eiförmig wie die eines Intellektuellen in einer Karikatur, sein Mund war schmal, streng und grausam. Zur Hölle mit ihm.“

SPRECHER: So wie die Widergabe des Raums, so wie das Bild im Spiegel schwankt, so schwanken auch Archers Eindrücke: er ist ein anderer, und der andere ist er selbst, er betrachtet sich wie einen Fremden und erkennt darin seine eigene Person. Distanzierung ist eine Bedingung von Selbsterkenntnis.
Archer fasziniert dieses Vexierspiel. Und er ist entsetzt, denn in der Verzerrung offenbaren sich wie in der Übertreibung der Karikatur charakteristische Züge der Realität, seiner Realität. Es wird eine Wahrheit sichtbar, die, wie es an anderer Stelle heißt, weh tut. Das Wahre ist nicht ungebrochen das Schöne und Gute, es beginnt zuallererst mit der Erkenntnis der Deformation des Menschen, mit dem Erschrecken über sich selbst. Archers Welt gleicht dem Inferno Dantes, er befindet sich bereits in jener Hölle, in die er sein Spiegelbild wünscht. Die Grausamkeit seines schmalen Mundes verleiht ihm jene Selbstgerechtigkeit, die er an anderen verachtet. Die Ermattung seiner Bewegungen, die Härte in seinem Gesicht sind Ausdruck dafür, daß er von jener Welt affiziert ist, deren Verstrickungen er durch Aufrichtigkeit, Hartnäckigkeit, Unbestechlichkeit, Klarheit des Gedankens und Festigkeit seines Charakters entwirrt. Brechts Erkenntnis, daß auch der Haß gegen die Niedrigkeit die Züge verzerrt, trifft nicht minder auf Lew Archer zu. Die Tugenden, die er gegen das Mißlingen des Lebens ins Feld führt, werden ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie der blaue Ozean, von dem er einst glaubte, er könne nicht befleckt werden. Die dialektische Lebenskunst bestünde darin, wie Wolf Biermann es einst sang, sich nicht verhärten zu lassen durch die Verhärtungen der Zeit. Freilich ist dies nichts anderes als ein ewiges Postulat. Die Deformationen, die ich an anderen wahrnehme, sind meine eigenen.
Und wie sieht es im Inneren der anderen aus?
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, ob Proust sich an einem Theaterabend oder anläßlich einer Soiree bei den Verdurins darüber Gedanken machte, jedenfalls beinhalten seine Überlegungen eine Art zweiter kopernikanischer Wende. Das Fernrohr des Galilei ist auf das äußere Universum gerichtet, Prousts Phantasie auf das innere. Er sagt sinngemäß: Mit welch ungeheuerer Anstrengung bemühen sich die Menschen, die fernen Sterne zu erforschen. Wäre es nicht lohnender, das Innere der Menschen zu ergründen, mit denen man zusammenlebt. Ist ihr Inneres uns nicht ebenso fern und unbekannt wie die Sterne?

*Siehe hierzu auch : Wolfgang Lieb, Abgehoben im siebten Stock. Einige Anmerkungen zum Kanzleramt. http://www.nachdenkseiten.de/?p=2744#more-2744