Ich beziehe mich mehr oder weniger auf das, was mir beim Hören und Lesen noch im Gedächtnis geblieben ist. Über Frau Honecker hieß, sie zeige noch immer kein Begreifen, wie die Realität in der DDR tatsächlich gewesen ist. Das Stichwort lautet: therapieresistenter Realitätsverlust.
Nun lese ich heute Morgen bei Zeitgeistlos ein kleines Artikelchen über Realitätsverleugnung. Gemeint sind darin aber nicht unbelehrbare Diktatoren der DDR, sondern die marktradikalen Anhänger des Neoliberalismus.
Ich dachte, als ich die Kritik an Margot Honecker las, dass eben wieder jene ihr Realitätsverleugnung vorwerfen, die im Verleugnen der Realität nicht besser sind als ihre Feinbilder: Ich dachte da unter anderem an Frau von der Leyen und an alle aus dem neoliberalen Lager, die sich durch menschliche Kälte, durch die Absenz von Empathie und Mitgefühl auszeichnen. Die Verleugner der Wirkzusammenhänge im Neoliberalismus sind Legion und um keinen Deut besser als Margot Honecker.
Einen Schritt weiter wollte Viktor Orban gehen. Bei ihm ging es nicht ums Verleugnen, sondern darum, Herrschaft unangreifbar zu machen, was auch immer die Herrschenden tun. Pal Schmitt ist hinsichtlich seines Doktortitels und seiner Dissertation des Betrugs überführt worden. Ungarns Präsident Schmitt trat zurück. Orban aber wollte ihn per Dekret in einen päpstlichen Stand versetzen, in den Stand der Unangreifbarkeit.
Politiker ernennen sich selbst zu Göttern, die über dem Gesetz stehen. Politiker haben die Tendenz, zu machen, was immer sie wollen. Als Beleg seien nur zwei Beispiele genannt: Döring von der FDP sprach von der Tyrannei der Masse, und Frau Merkel wollte einen Insider-Club gründen, der über riesige Finanzmengen entscheiden sollte, ohne Öffentlichkeit und ohne das Parlament zu befragen.
Valentin Vogt ist der neue Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Sein Vorgänger ließ mich letztes Jahr im August noch aufhorchen. Ich schrieb damals:
>>In der Neuen Zürcher Zeitung war zu lesen, dass die Schweizer Regierung die Absicht habe, der Schweizer Wirtschaft finanziell unter die Arme zu greifen, dergestalt, dass man den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung den Arbeitgebern erlassen wollte. Was nun für Deutschland, dem Land der ausbeuterischen Menschenverachtung undenkbar wäre, geschah in der Schweiz: Der dortige Arbeitgeberpräsident lehnte das Angebot der Regierung ab und sagte: Die Regierung solle lieber vereinzelt Unternehmen helfen, die wirklich bedürftig wären, aber insgesamt ginge es der Schweizer Wirtschaft so gut, dass man die Abschaffung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung nicht nötig hätte.
So zu denken, wäre in Bezug auf DieterHundt völlig undenkbar. Möglicherweise liegt’s am Faschismus-Gen der Deutschen. Inhumanität erbt sich eben fort.<<
Mit Herrn Vogt hat die Schweiz nun auch einen Hundt als obersten Vertreter der Arbeitgeber, denn Herr Vogt ist der Meinung, es bedürfe keines Mindestlohns, denn nirgend steht geschrieben, dass ein Mensch von seiner Arbeit, von seinem Lohn auch leben können muss.
Nun noch ein Wort zu Dirk Schwarze, der in politisch interessierten Kreisen in dieser Republik über den Kasseler Raum hinaus kaum bekannt sein dürfte. Am Montag stand in der Regional-Zeitung HNA ein halbseidiger Artikel über den ehemaligen, langjährigen Leiter des Feuilletons. Schwarze wird dieser Tage 70. Während sein Vorgänger Lothar Orzechowski sich durch analytische Schärfe auszeichnete (nachvollziehen kann man das noch anhand eines Artikels, der als Nachdruck im Materialienband zur documenta 8 erschienen ist, hrsg. von Stehr und Kirschenmann), während also Orzechowski durch analytische Schärfe positiv auffiel, war und ist Schwarze das genaue Gegenteil. Seine Denkkraft ist so schlaff wie sein Händedruck.
Die documenta GmbH, vermutlich in Gestalt des Geschäftsführers Leifeld und der documenta-Leiterin Christov-Bakargiev hat Herrn Schwarze zu ihrem Tutor ernannt. Unwiderstehlich drängte sich mir beim Lesen dieser Nachricht das folgende Zitat Hegels auf:
>>An dem, woran dem Geist genügt, ist die Größe seines Verlustes zu ermessen.<<
Mit Geist sei hier der von Leifeld und Bakargiev gemeint.
naja, ich würde Margot Honecker und Ursula v.d.Leyen wirklich nicht in eine Reihe stellen! Weder gibt es Zwangsadoptionen bei Hartz IV Empfängern noch einen Schießbefehl auf Arbeitslose, die nicht so spuren wie U.v.d.Leyen dies vielleicht will. Zwischen den beiden liegen echt Welten.
Zudem sind ja nächstes Jahr schon wieder Wahlen. Jeder kann eine Partei wählen, die Hartz IV abschaffen, durch eine Bedingungsloses Grundeigentum ersetzen oder doch klar entschärfen will. (Wenn man unter Honecker freie Wahlen verlangte, wanderte man in den Stasiknast, diesen grundlegenden Unterschied sollte man wirklich nicht vergessen!)
Der Klaus ist ja nun nicht ganz dumm. Er greift sich eben einen Aspekt raus und betrachtet diesen für sich alleine.
@ R@iner, danke für das Kompliment. 🙂 Nennen wir Realitätsverlust eine Krankheit, dann gibt es sich verschiedene Grade, was aber an der Grunddiagnose nichts ändert. Einer meiner Mitarbeiter auf der documenta 9 wurde beim Schwarzfahren erwischt, und er redete sich im Nachhinein dauernd ein, er sei nicht schwarzgefahren.
Das nenne ich Realitätsverlust. Und dieser tritt ja schon dann ein, wenn die Sprache als Medium des Geistes die Phänomene nicht mehr trifft, wenn sie phänomenologisch leer ist.
Einer der Kollegen von Ullrich spricht in einem seiner Bücher davon, dass es aufschlussreich wäre. Hollywood aus der Froschperspektive darzustellen, literarisch zu verarbeiten.
Und die Froschperspektive ist jenen zu eigen, die die Herrschaft von oben von unten betrachten, das heißt, in der Darstellung durch die Würmer (bei Ross Macdonald ist vom „worm’s eye-view“ die Rede) wird die Wirkung des Handelns der Herrschaft auf die Beherrschten sichtbar und ernst genommen, sofern die Sicht des Wurms veröffentlicht wird.
Wie etwa die Politik der von der Leyen bei ihren Opfern ankommt, geht ihr genau so am Arsch vorbei wie das Schicksal der Margot-Opfer an Margot.
Wie etwa die Politik der von der Leyen bei ihren Opfern ankommt, geht ihr genau so am Arsch vorbei wie das Schicksal der Margot-Opfer an Margot.
Wie etwa die Politik der/des [ Namen nach belieben einsetzen ] bei ihren/seinen Opfern ankommt, geht ihr/ihm am Arsch vorbei …. Beliebigkeit des Systems,der Regierenden und der legitimierenden gleichgültigen Opfer solange selbst nicht betroffen ..
Ich wollte vor allem darauf hinweisen, dass man die Unterschiede von Demokratie und Diktatur nicht verwischen sollte, bei aller Kritik am heutigen Monsterkapitalismus. So eine Tendenz nehme ich gelegentlich wahr, wenn man sich zu ausschließlich auf die natürlich haarsträubenden sozialen Ungerechtigkeiten bezieht und dann nicht mehr sieht, dass wir doch in einer recht freiheitlichen Gesellschaft leben. Man stelle sich nur mal vor, um Deutschland gäbe es eine Mauer und man würde von Soldaten am Verlassen des Landes gehindert.
Da ich in den 80ern schon in Westberlin lebte und auch den Fall der Mauer persönlich miterlebt habe, reagiere ich auf jede Relativierung der DDR allergisch.
Offiziell gab es zwischen 1961 und 1989 – 136 Maueropfer. Durch westdeutsche Neonazis wurden im selben Zeitraum (laut wiki) 40 Menschen getötet. Das eskalierte, als Deutschland um gefühlte 20 Mio. Asylbewerber aus den NBL „bereichert“ wurde.
Nach Recherchen von Journalist/innen und der Amadeu Antonio Stiftung sind es mindestens 182 Opfer rechter Gewalt in der Zeit von 1990 bis 2011. Schon hier könnte Frau Honecker quantitativ nicht mehr mithalten.
Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sind im Jahr 2011 allein mehr als 1 500 Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer, dem größten Friedhof Europas, ertrunken oder gelten als vermisst.
Seit dem Schengener Abkommen 1990 – dem Jahr der „offenen“ europäischen Binnen-Grenzen- wird die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge auf über 17.500 geschätzt.http://www.idmedienpraxis.de/node/117
Soweit einmal rein zahlenmäßig die Gegenüberstellung unterschiedlicher Realitäten im Umgang mit der unterstellten „Einwanderung in deutsche Sozialsysteme“!.
Aber wenn du solche Fakten in der DDR veröffentlicht hättest, hättest du damit rechnen müssen, im Gefängnis zu landen. Das ist heute nicht der Fall. Das ist doch ein wichtiger Unterschied?
Ulli, mir geht es nicht um einen vergleich der system, sondern der zentrale aspekt in meiner obigen argumentation ist der aspekt der selbstgerechtigtkeit.
um deine überlegungen aufzugreifen, drehe ich die äußerung aus dem NT um: was siehst du den balken im augen deines gegners, und siehst den splitter im eigenen auge nicht.
ich reagiere allergisch, wenn inhumane sich über die inhumanität anderer entrüsten.
„Aber wenn du solche Fakten in der DDR veröffentlicht hättest, hättest du damit rechnen müssen, im Gefängnis zu landen.“
Und – nur mal so vorgestellt – wenn dieses Fakten veröffentlichen zu dürfen das letzte bzw. das einzige wäre, was wir dürften (das mit den Reisebeschränkungen macht heutzutage kaum Sinn, denn Neoliberalismus ist nahezu überall)- nebst unserem Gezeter darunter-, dann wäre das m.E. gar nicht mal so sehr ein unkluger Schachzug (von der Seite der Macht aus betrachtet, Gegenteiliges ist auf lange Sicht doch häufig gar nicht so konstruktiv gewesen, wie geplant wurde) und es hätte schon etwas sehr zynisches.
Aber fast kommt es mir so vor, als sei dem einfach schon so, wir hätten es nur noch nicht gemerkt.
Letztlich wird beim Michel nur hängenbleiben, dass Margot € 1500,- Rente bezieht, Erich geistig nicht auf der Höhe war und die DDR auf Schdaaasie, Mauertote und Diktatur reduziert ist.
Das entspricht genau dem flachen Geschichtsbild in dieser Republik. Die Leute werden für dumm verkauft, denn wehe, sie erinnerten sich, wie einfach es war, damals, ein waffenstarrendes, butrünstiges, brutales und diktatorisches System quasi über Nacht gewaltlos zu beseitigen. Das darf sich niemals wiederholen, also wird die Diktatur des Kapitals als so genannte Demokratie verkleidet und als alternativlos verkauft.
Das ist nicht realitätsfern.
Entschuldigung, ich habe bei der Aufzählung die Zwangsadoptionen vergessen…
Ulli
ich hoff‘ ma nicht, dass du jetzt meinst, wir müssten vor Dankbarkeit zerfliessen, nur weil nicht gleich jedem, der anderer Meinung ist, Kreuzigung droht ..?
Die Methoden sind heute diffiziler … du darfst heute alles jederzeit sagen …. Das Regime hat die Leute allerdings schon so abgestumpft, gespalten und in reinem Überlebenskampf beschäftigt gehalten, dass es scheiss-egal ist was du sagst .. verstehst du ..? Sieh dich um … !!
Nachrichten, die heute nur noch ein Grunzen als Reaktion hervorrufen, wären in den 60 ein Pulverfass gewesen …
@lazarus: „Nachrichten, die heute nur noch ein Grunzen als Reaktion hervorrufen, wären in den 60 ein Pulverfass gewesen …“
Vermutlich sind Proteststimmen auch nur solange interessant, wie die Opposition damit Sympathiegewinne einfahren kann. Gibt es faktisch keine Opposition mehr, dann können ungeniert auch kritische Stimmen gänzlich ignoriert werden.
…da ist was dran wie man heuer eindrucksvoll sieht …
Man kann also davon ausgehen, daß weder der Valentin Vogt noch Dieter Hundt Adam Smith gelesen haben, denn bei Smith steh geschrieben:
»Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann mit der ersten Generation aussterben.«
Bei Smith steht außerdem geschrieben:
»Niemand hat je erlebt, dass ein Hund(t) mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte.«
Man möchte meinen, der olle Smith hätte den deutschen arbeitgeberpräsidenten schon vorausgeahnt.
@mechthild: köstlich.
Selbst wenn unter „Rechts-staatlichem Druck “ die Lohnsklaven ihre Dienste unentgeltlich für die Heilbringer aus Industrie und Wirtschaft zur Verfügung stellen müssen und die daraus resultierenden Renditen niedrigstbesteuert sofort in die Taschen der Anleger und Investoren gespült werden ,während die Frohndienstler ihr blankes Überleben in “ Eigenverantwortung“ regeln müssen ,wird ein Herr Hundt weiter die schlechten Investitions-und Standortbedingungen in Deutschland geisseln ..fuck em..
War die DDR-trotz aller Malaisen-im Nachklang möglicherweise das
bessere Deutschland-quod erat demonstrandum?Das wäre doch
einmal des Diskutierens wert Klaus Baum,a neverending story and
a work in progress.Wenn wir schon bei den Zahlen sind,die Gaucksche
Denunziationsbehörde hat mehr suizidale Fälle zu verantworten als es
jemals Mauertote gab.Apropos Schießbefehl:Die Schusswaffe ist
das äußerste Mittel der Gewaltanwendung.So lautete der Passus in
meinem Postenführerbuch 1979/80.Hier ein aufschlußreicher Link
zum MfS:
http://www.mfs-insider.de/
Super Linktipp. Danke.
Interessant an Klaus‘ Artikel ist doch vor allem, dass, bei aller objektiven Unterschiedlichkeit der angesprochenen Systeme und Umstände gemeinsame Parallelen zur Disposition stehen, die psychologischer Natur sind. Das wird ja deutlich, wenn Klaus auf Realitätsverleugnung abhebt, oder den Narzissmus anspricht von Politikern in ihrer Selbsternennung zu Göttern. Lazarus weist zurecht hin auf die heute diffizileren Methoden von Ursachen mentaler Deformation (salopp benannt). Solche Deformation des Subjekts oder der Gesamtheit aller Subjekte einer Gruppe setzt immer den Akt der Gewalt voraus. Ich fasse Klaus‘ Artikel nicht als einen nach der Konkurrenzfrage auf, welches der beispielhaft zitierten Systeme den weniger schlechten Grundzustand bietet, sondern dass Gewaltprinzipien auch *weit weit* über alle menschliche Notwendigkeit bis heute realitätskonstituierend sind und wir zum Lobpreisen unseres so freien Systems immer wieder dressiert werden.
Ich möchte dazu an dieser Stelle auf den Film von Michael Haneke „Das weiße Band“ verweisen, in dem es Haneke auch genau – wie immer in seinen Filmen – um Gewalt des „ganz normalen“ Alltags geht. Der Film handelt von den Zuständen eines Dorfes und wie diese – so meine Lesart des Filmes – mitverantwortlich für den Ausbruch des WK I waren.
Ihr polarisiert da ganz schön rum.
@ulli
Dass man die Unterschiede von Demokratie und Diktatur nicht verwischen sollte…..
Vollkommen richtig. Aber ich denke, Klaus Baum geht’s allgemein um den Tiefenverlust, der über Polarisierungen eben auch stattfindet. Was auch die Frage erbringt. Welche Partei meinst du, – die Hartz-IV abschaffen würde? Rechte, Linke, Grüne, Piraten, LINKE? Nenn mir die Partei, – die Hartz-IV tatsächlich und real abschaffen möchte, – und sich auch entsprechend dazu bekennt. Gehen wir weiter. Bezüglich des Beitrages der Zeitgeistlosen über einen von Naomi Kleins Aussagen. Der Ansatz ist vollkommen richtig. Letztendlich geht es um den Antihumanismus. Der Realitätsverlust ist aber leider auch hier spürbar. Auch bei Naomi Klein. An der Klimadebatte, haben nämlich sowohl pro-libertäre Kräfte eines modernen Marktes gebastelt, wie auch pro-libertäre Kräfte eines kommerziellen Marktes. Dieses Thema politisch zu missbrauchen, – ist … etwas zu einfach. Dass das Thema lediglich für Grabenkriege auf ein und der gleichen Seite benutzt wurde, geht nämlich dabei unter. Der Witz dabei ist, dass die ernsthaften Leute hinter der Geschichte sich immer noch darüber streiten, – und dieser Streit, – ist enorm wichtig. Denn letztendlich, könnte sich dabei herausstellen, dass die Feldforscher am Anfang des Geschehens schlicht und einfach recht hatten. Einmal damit, dass da eine Menge daran ist, und andererseits damit, dass man es seriös und zugunsten einer Menschheit angehen sollte. Alle diese anfänglichen Feldforscher, wehren sich bis aufs äußerste gegen den momentanen Umgang damit. Und warum ist wohl so?
Berichtigung:
Warum ist das wohl so?
@ Uli:
Ich denke, ich darf es mir erlauben, etwas dezidiert entgegenzutreten. Ich habe ja nun beides miterlebt. Und dies auch nicht nur als passiver Zuschauer, sondern ich nahm/nehme an beiden Systemen reichlich kritisch teil (und vor allem: Anstoß!).
Ich habe einerseits einen kleinen, bescheidenen Anteil daran gehabt, den Unwillen zur Fortführung der DDR in der „althergebrachten“ Art und Weise zu artikulieren. So wie auch hundertausend Andere es damals taten. Genauso wie ich auch heute wieder diese unendlich vielen Ungerechtigkeiten erlebe und darauf versuche aufmerksam zu machen und dagegen anzugehen.
Zum Ersten ist mir Deine doch zu einseitige Hervorhebung von Freiheit ausgefallen. Dies erinnert mich ein wenig an die Darlegungen des aktuellen Bundespräsidenten. Freiheit ist fraglos wichtig. Ich wäre der Letzte, der dies in Zweifel zieht. Aber es gibt eben noch einige weitere, eminent wichtige Punkte, welche dazu gleichberechtigt notwendig sind. Ohne diese ist Freiheit wenig bis nichts. Frage doch einmal einen Arbeitslosen oder Niedriglöhner, welche praktische Bedeutung für ihn heutzutage „Reisefreiheit“ hat! Obwohl er nicht „eingemauert“ ist, kann er trotzdem nicht raus. Eine pro-forma-Freiheit, welche aber inanspruchzunehmen man nicht in der Lage ist, ist keine wirkliche.
Es ist ohnehin wenig sinnvoll, vergleichen zu wollen (oder zu sollen), um dann entscheiden zu wollen, welches System schlimmer gewesen ist. Letzten Endes läuft ein solcher Vergleich darauf hinaus, den „Gewinner“ reinzuwaschen und ihn als „den Guten“ umzufunktionieren. Egal, ob gewollt oder ungewollt. Wenn man zwei ungerechte Systeme miteinander vergleicht, mag es zwar vielleicht einen „Gewinner“ geben (sofern man verschiedenartige Missstände überhaupt vergleichen kann). Ungerecht bleiben dennoch beide.
Es ist doch letztendlich gleich, ob durch die Abschaffung der Freizügigkeit und den darauffolgenden Toten an der Mauer grundlegende Menschenrechte verletzt wurden oder ob man Menschen regelrecht verhungern lässt, sie von jeglicher Teilhabe an der Gesellschaft ausschließt und damit grundlegende Menschenrechte verletzt. Beides ist nicht direkt vergleichbar (weil unterschiedliche Arten von Menschenrechtsverletzungen) und doch ist es inhuman. Auf welche Art und Weise dies passiert, ist den Betroffenen egal und muss es auch uns sein.
Ich kann mich den Ausführungen von Lutz Hausstein nur voll und ganz anschließen. Unrecht bleibt nun mal Unrecht, egal ob es in einem totalitären Regime oder in einer (vermeintlichen) Demokratie unter dem Deckmäntelchen eines lauthals propagierten „Freiheit für alle, die sie sich auch leisten können“ praktiziert wird. Dem Verhungernden jedenfalls dürfte es wohl ziemlich egal sein, in welchem „System“ man ihn verhungern lässt.
Leider scheint es keine Statistik zu geben, wie hoch die Suizidrate unter ALG II-Berechtigten ist, die sich dem gewaltigen psychischen Druck dank Gängelungen, Demütigungen, Entzug der menschlichen Würde und der persönlichen Perspektivlosigkeit nicht mehr gewachsen fühlten. Die Frage, ob es nun ein „menschlicheres Unrecht“ ist, Menschen staatlicherseits „abzuschießen“ oder sie durch staatlich angeordnete repressive Maßnahmen dazu gebracht werden, sich selbst „die Kugel zu geben“ muss halt jeder für sich selbst beantworten.
Zu dem Hegel-Zitat fällt mir noch eines von Lawrence Ferlinghetti ein http://de.wikipedia.org/wiki/Lawrence_Ferlinghetti :
„Es ist gut, den Geist offen zu haben, aber nicht so weit, dass das Gehirn rausfällt“.
Hallo,
Mein Maßstab ist die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik, da bin ich ja auch aufgewachsen. In den 80ern konnte man im Westen ganz gut leben: das soziale Sicherungssystem war einigermaßen intakt, Dumpinglöhne gab es nicht, dafür ein hohes Maß an Chancengerechtigkeit und an sozialem Ausgleich. Diese Sozialstaaten waren die Lehre aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20.Jhrds: Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Nazismus, Stalinismus. Letztlich ist Roosevelt mein Bezugspunkt, der den westlichen Sozialstaat ja sozusagen etabliert hat.
Nach dem Ende des Sozialismus und der Systemkonkurrenz gab es dann diesen gigantischen Rollback, und heute erinnern die Verhältnisse ja wieder an den Manchesterkapitalismus des 19.Jhrds. Die DDR-Bürger wurden aus meiner Sicht betrogen: Sie erwarteten und wollten einen Sozialstaat und haben den heutigen Monsterkapitalismus bekommen.
Also ist die soziale Frage wieder genauso offen wie im 19.Jhrd. Aber die Bezugspunkte zur Lösung sollten Roosevelt und die westlichen Demokratien sein, darum geht es mir.
@Ulli Wir leben wohl alle noch ein wenig wie Pawlosche Hunde 😉 Der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ ist im wahrsten Sinne des Wortes zum Reizwort, – ja zum Klischee stellvertretend für eine Ideologie geworden. Ich bin auch in der alten Bundesrepublik aufgewachsen. Da war der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ aber lediglich ein Denk- und Handlungsansatz mehr im Hintergrund, der seine volle Blüte erst mit dem 90iger Staatsvertrag zwischen BRD und DDR als gemeinsame Wirtschaftsordnung erreichte. Wohlgemerkt, – immer noch lediglich Wirtschaftsordnung. Aber ihre ultimative Symbolik, hat sie dann erst nach 2000 erreicht, als damit eine Medien- und PR-Kampagne betrieben wurde, – die damit quasi aus einer Wirtschaftsform eine Gesellschaftsform errichtete, welche dies auch als gefühlte Staatsform empfindet, und dabei bis in jeden Lebensbereich vorgedrungen ist. Dein Maßstab ist für mich vollkommen nachvollziehbar, – sachlich gesehen, – aber Ideologien funktionieren niemals sachlich, obwohl sie ständig mit dieser Sachlichkeit lamentieren. Stattdessen werden mit Wörtern, Bildern und Assoziationen Menschen geformt. Und heute, steht „soziale Marktwirtschaft“ für Selbstbetrug und Betrug an den Menschen. Ludwig Ehrhard ist damals davon ausgegangen, dass Marktwirtschaft von sich aus sozial ist. Sie ist das Gegenteil davon. Deshalb vertrete zumindest ich, die Ansicht, dass diese Begrifflichkeit als das entlarvt wird, – was sie mittlerweile ist. Der größte Selbstbetrug aller Zeiten. Sprechen wir lieber von der Wirtschaftsordnung der alten Bundesrepublik.
??? «Soziale Marktwirtschaft», Begriffe und Gedanken, die ich eher mit Erhard, Keynes, sogar Smith verbinden würde …, war 1990 längst verwelkt, nicht erblüht, wurde förmlich überwuchert, durch Unkraut.
Ersetzt wurde dies durch «radikal freie Marktwirtschaft» (eher entfesselt), von der man nur voraussetze, sie habe auch automatisch soziale Komponenten, aus sich selbst heraus resultierend. Und das verbinde ich dann wieder mit Friedmann, sprich: Chigaco Boys oder Neusprech: Neoliberal: Und das „erblühte“, nein, wucherte mehr. Mit «sozialer» Marktwirtschaft hat diese These jedoch nichts, aber auch gar nichts zu tun. Gleichwohl so wenig, wie das Gesellschafts-Wirtschaftssystem welches wir aktuell leben. Das ist eine Diktatur der Märkte, die tief in die Gesellschaft eingreift. Eigentlich gibt sie das auch zu, sollen ja nur aus der Natur der Sache heraus, die Brotkrumen für die anderen herunterfallen, die jene auflesen sollen. Nach dem Motto: «Wo gehobelt wird, fallen Späne!» Wir sollen uns halt nur bücken und wer sich nicht bücken möchte, ist selber schuld.
Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich nun jetzt der konditionierte Hund wäre, bei dem mit dem Begriff «Soziale Marktwirtschaft» (oder liegt es schon am Begriff «Marktwirtschaft» alleine?) sofort mit dem Jetzt verbindet oder Sie derjenige sind.
Ludwig Erhardt war ein Ordoliberaler welcher heute als Marktradikaler tituliert werden würde. Es waren Pragmatiker wie Adenauer die den Sozialstaat aufgebaut haben um Faschismus und Kommunismus zu verhindern.
Das Problem ist nicht der Market sondern der korporatistische Staat, die Interessenvermengung von großen Unternehmen und staatlichen Organen. Mehr Markt würde bsw. heissen dass große Banken nicht existieren dürften, allein schon aus Wettbewerbsgründen.
Ich erkläre mich solidarisch mit den Ansichten von Lutz, eb und Harzpeter, dessen Beispiel mit der Suizidrate mir gestern auch kurz n den Sinn kam.
Ich bin im Westen aufgewachsen, hatte aber Verwandte im Osten, von denen einer in den Kerker geworfen wurde, nachdem er samt Frau und Kindern mit seinem Wartburg an die Grenze gefahren war und meinte, er würde jetzt ausreisen.
Nach ’90 erschreckte mich die Naivität mancher, die ihre Heimat verließen und sich westwärts bewegten. Das einzige, was diese nämlich interessiert und motiviert hatte, war der Ausblick auf Geld und ungebremsten Konsum. Ich warnte damals schon eindringlich davor, auf den Schwachsinn hier hereinzufallen. Keiner konnte dem, was ich sagte, auch nur ein Fünkchen abgewinnen.
Jahre später ging es dann los mit Burnout und zerrütteter Ehe, weil beide unbedingt ans große Geld wollten.
Ich halte es für wahnsinnig schwierig, die an einem selbst vorgenommenen Manipulationen zu durchschauen, die ja schon im Kindergarten beginnen. Was ist der eigene Wille, was wurde mir durch ständige Wiederholung eingebläut. Was muß ich tun, um „weiterzukommen“.
Unterhält man sich mit den Leuten hier, dann erzählen ja sogar die, welche gesellschaftlich abgehängt sind, von den Vorzügen des Wettbewerbs innerhalb der Marktwirtschaft. Man hat akzeptiert, ein Verlierer zu sein und hinterfragt oft nicht, ob es gar nicht das eigene Verschulden ist, das einen in die Situation brachte oder ob es sich um ein systematisches Problem handelt. Es gibt auch hier in der „freien Welt“ jede Menge Möglichkeiten anzuecken. Mangelnde Anpassung an die herrschende Ideologie wird auch hier bestraft. Vielleicht landet man nicht im Knast. Man kann aber durch soziale Ausgrenzung initiiert durch Arbeitsplatzverlust sehr wohl steuern, welche Leute hier mitmachen und profitieren dürfen und welche nicht mehr am Spiel teilnehmen sollen.
Leute, die stille Revolte läuft. Im Jahre 2020 sollen Depressionen die häufigste Volkserkrankung sein.
Anstatt „systematisches Problem“ hätte ich besser „systeminduziertes und -immantes Problem“ geschrieben.
@ ebversum
„…Nenn mir die Partei, – die Hartz-IV tatsächlich und real abschaffen möchte, – und sich auch entsprechend dazu bekennt….“
DIE LINKE, sollte einem politisch interessierten Menschen aber eigentlich bekannt sein…
Nenn mir die Partei, – die Hartz-IV tatsächlich und real abschaffen möchte,
Zeig mir einen von den “ Volks-Vertretern “ an den staatlichen Fleischtöpfen und Schmiergeldlisten von Industrie und Wirtschaft die sich ihre Brunnen selbst vergiften..Muhaha
Face the reality ..we’re fucked
………….was wir dagegen tun können …?
Alles was ausdrücklich verboten ist !!
Nicht zu feucht im Schritt werden beim Gedanken an revolutionäre Gewalt, lieber bissle Jesus, Ghandi, or MLK lesen.
@Dirk, – das ist schon richtig. Aber auch ich vermeide Realitätsverlust beim politischen Interesse. Zwischen theoretischem Programm und praktischer Arbeit daran, sehe ich doch erhebliche Differenzen. Mir scheint es da im Laufe des letzten Jahres ein wenig strategisch bedingte Ermüdungserscheinungen zu geben. Der Schritt zwischen LINKE und lazaraus09, ist so hauchdünn wie ein Haar geworden.
„Mit Herrn Vogt hat die Schweiz nun auch einen Hundt als obersten Vertreter der Arbeitgeber, denn Herr Vogt ist der Meinung, es bedürfe keines Mindestlohns, denn nirgend steht geschrieben, dass ein Mensch von seiner Arbeit, von seinem Lohn auch leben können muss.“
Nur, dass dieser CH Hund(t), so sehr er seinen Knochen zu lieben scheint, das nicht zu entscheiden hat, ob er ihn teilt oder auch nicht; wobei wir nicht mal festgestellt haben, ist es überhaupt der seinige, über den er bereits knurrt. Es wird eigentlich gar nicht gefragt, ob er ihn gerne teilen würde, wäre auch nicht nötig, seinen Unmut hat er bereits ungefragt verkündet. Wie @Mechthild Mühlstein schon mit den Worten von Smith durchblicken ließ, es ist immer ein Risiko, sich einem fremden Hund(t) mit (s)einen Knochen auch nur zu nähern; Redlichkeit oder Verdienst spielt dabei keine Rolle.
Tangiert nur wenig, denn entscheiden wird hierüber eine Volksinitiative:
http://www.mindestlohn-initiative.ch/category/aktuell/
Und anders, als ich dies bei einer Umfrage der deutschen Version des Blicks.ch erwarten würde, scheinen zurzeit 52,8% dafür zu sein, 30,2% dagegen und 17% wünschen sich wohl eine Ausdehnung auf die Renteneinkommen.
http://www.blick.ch/news/wirtschaft/nicht-jeder-lohn-kann-fuer-eine-familie-existenzsichernd-sein-id1832585.html
Kann nicht beurteilen, ob diese Initiative erfolgreich sein wird, oder nicht, Umfragen helfen da bekanntermaßen nicht wirklich weiter. Möglich wäre, dass die Angst vor Dumpinglöhnern – insbesondere auch aus dem benachbarten Deutschland – schwer in die Entscheidung mit hinein spielt.
Doch es ist nicht die erste Initiative dieser Art, die gescheiter wäre, für einen flächendeckenden Mindestlohn der Eidgenossen … statt oder zusätzlich zu den Tarifbindungen. Als Begründung wird hier herangezogen, dass man sich ja überwiegend an die Tarife hält, die nahezu flächendeckend seien. Sicherlich, im Vergleich mit Deutschland, mag das so sein … wir werden sehen.
@ Totschka
Da ist was dran an Ihrer Kennzeichnung „flaches Geschichtsbild in dieser Republik“ im Zusammenhang mit kollektiven Wahn ermöglichendem kollektiven Gedächtnisverlust (Hermann Lubbe sprach 1973 vom „kollektiven Beschweigen“
der Nazizeit, die damals vor 40 Jahren begann).
Nur, Herr Totschka:
Wie entsteht dieses „flache“ historische (Un) Verständnis? Wer hat daran Interesse? Wer macht und wer propagiert es „in dieser Republik“?
Die da unten gewiß nicht …
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