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Stefan Selke 11.04.2013

Zur Reise eines öffentlichen Soziologen durch das Land der Tafeln und Suppenküchen

Was haben der Genfer See, Castrop-Rauxel, ein Sammellager für Asylbewerber in Bayern, eine Suppenküche in Thüringen und ein Sozialkaufhaus an der belgischen Grenze gemeinsam? Es sind Stationen innerhalb der Entstehungsgeschichte des Buches Schamland – Die Armut mitten unter uns, das am 12. April erscheint.

20 Jahre Tafeln und keine Fakten

Die Entwicklung der Tafeln ist Ausdruck eines schleichenden gesellschaftlichen Wandels. 1993 wurde die erste bundesdeutsche Tafel in Berlin gegründet. Die Adressaten der damals noch „Mahlzeitnothilfen“ genannten Einrichtungen waren zunächst wohnungslose Menschen. Erst einige Jahre später gründete sich der Bundesverband Deutsche Tafel e.V., der heute als die Lobbyvertretung der „Markentafeln“ gilt.

Schamland beschreibt die Armut in einem der reichsten Länder der Welt. Im Mittelpunkt steht dabei die Tafelbewegung, die gerade ihr 20-jähriges Bestehen feiert. Kaum ein anderes zivilgesellschaftliches Phänomen rückte in den vergangenen Jahrzehnten stärker ins öffentliche Bewusstsein, wobei die Tafelbewegung weitgehend unkritisch gesehen und meist als Erfolg gefeiert wird. Grund genug, einige liebgewonnene Mythen zu hinterfragen.

Die Erforschung der Tafeln erfolgte bislang weitgehend anhand qualitativer Fallstudien. Repräsentative quantitative Strukturdaten fehlen noch immer. Diese Lücke kann von den selbstgemachten „Tafelumfragen“ des Bundesverbandes nicht geschlossen werden. Auch wenn der Bundesverband immer wieder eindrucksvolle Zahlen über die Anzahl der Tafelnutzer veröffentlicht – diese Zahlen basieren auf intransparenten Hochrechnungen und dienen eher der Legitimation der Tafelbewegung als der sachgerechten Information der Öffentlichkeit. Diese aber wird immer stärker angezweifelt, denn erste Forschungsprojekte stellen Paradoxien, Dissonanzen und Folgekosten für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt heraus.

Soziologie im Außendienst

Auch 20 Jahre nach Gründung der ersten Tafel durch Sabine Werth in Berlin sind die Wissenslücken über Tafeln in Medien und Öffentlichkeit noch gravierend. Meist lassen sich Journalisten und Leser von der offiziellen PR-Perspektive abspeisen. Wer sich gegen die affirmative und scheinbar selbstverständliche Sichtweise der Tafeln stellt, muss lernen, dicke Bretter zu bohren. Zudem wird die öffentliche Debatte zumeist aus der Perspektive freiwilliger Helfer und der Anbieter von Tafeln geführt. Immer häufiger fiel mir auf, dass die Menschen, um die es eigentlich geht, keine Stimme haben. Man sprach über sie, nicht mit ihnen.

Als Verfechter einer pluralistischen Gesellschaftsordnung wollte ich diese Definitionshoheit der Tafeln und ihrer Anhänger brechen. Dafür war es unerlässlich, dass ich mich direkt mit den betroffenen Menschen traf – abstraktes Wissen hilft an dieser Stelle nicht weiter. Das war der Beginn meiner „Soziologie im Außendienst“, einer Reise in Etappen durch das Land der Tafeln, Sozialkaufhäuser und Suppenküchen. Zwischen 2009 und 2012 reiste ich von Castrop-Rauxel bis nach Berlin, von München bis nach Cuxhaven. Ich besuchte Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern, Möbelshops, Sozialkaufhäuser und Wärmestuben in vielen Teilen des Landes. In meiner vorlesungsfreien Zeit war ich immer wieder für zwei oder drei Wochen unterwegs, um ein Buch ganz konsequent aus der Perspektive von Armutsbetroffenen zu schreiben.

Stefan Selke

Erzählerische Wahrheit

Während meiner Reise erkannte ich, dass ich den Anspruch auf Objektivität über Bord werden muss, wenn ich meinen Gesprächspartnern gerecht werden wollte. Ich hörte Lebensgeschichten, die sich in aller Unterschiedlichkeit in einem Punkt glichen: Leben ist nicht das, was man erwartet, sondern das, was passiert. Ich akzeptierte, dass zum Verständnis des Schamlands nicht Realismus, sondern erzählerische Wahrheiten beitragen. Ich erkannte, dass die wesentlichen Fragen und Antworten in dieser Welt nicht an Fakten und Beweisen, sondern an Biografien und Geschichten hängen.

Und diese Geschichten folgen alle einer ähnlichen Dramaturgie: Für viele ist Hartz-IV die existentielle Entlassungsurkunde aus der Mehrheitsgesellschaft. Früher oder später überschreiten sie eine magische Grenze, hinter der sich die Tafeln als vermeintlich letzte Lösung aufdrängen. Gerne werden deshalb Hartz-IV-Empfänger von Behörden auf die Tafeln verwiesen. Doch allein beim Gedanken an eine Tafel legen die meisten einen inneren Schalter um. Das eigene Leben rattert durch die imaginäre Rechenmaschine des sozialen Vergleichs. Am Ende wird ein tristes Ergebnis ausgespuckt: versagt!

Die Tafeln mögen ein logistisches Erfolgsmodell sein, weil sie es schaffen, Lebensmittel von A nach B zu transportieren und auszugeben. Aber trotz all dieser Bemühungen wird konsequent übersehen, dass Tafeln zu einem Symbol des sozialen Abstiegs geworden sind, das den gesellschaftlichen Misserfolg derjenigen schonungslos offenlegt, die bei Tafeln euphemistisch „Kunden“ genannt werden. Und diese Menschen überlegen sich dann, was eigentlich mit ihnen passiert ist. Immer wieder hörte ich diese Klage: Wir stehen vor der Tafel, aber wir stehen auch vor dem Abgrund unseres eigenen Lebens.

Quelle und weiter im Text:

http://www.heise.de/tp/artikel/38/38915/1.html