Der Essay ist für den (damals noch) SDR, für den Süddeutschen Rundfunk geschrieben worden; Dr. Bernd H. Stappert, ein außerordentlich kompetenter Redakteur, hat ihn damals lektoriert. Bernd H. Stappert war ein nachdenklicher, reflektierter Mann der alten Schule, ähnlich wie Alfred Paffenholz, der Ende letzten Jahrhunderts noch für Radio Bremen arbeitete.

Der Süddeutsche Rundfunk erhielt nach der Ausstrahlung dieses Essays unter anderem den Brief eines Abgeordneten des Europa-Parlaments, der in dem Kafka-Text „Eine Gemeinschaft von Schurken“ eine präzise Beschreibung eben dieses Parlaments sah.

Die Hinwendung der Kunst zu den Schwachen und Außenseitern oder die Umwertung der Umwertung der vermeintlich Wertlosen

(Übernahme meines Textes vom Binsenbrenner)

Es gibt eine alte Erfahrung, von der auch Kafka in seiner Erzählung Forschungen eines Hundes berichtet. Am Morgen, im Augenblick des Erwachens, fühlt man sich frisch und ausgeruht, ja, man fühlt sich kräftig genug, all das Notwendige zu bewältigen, das ein Tag mit sich bringt, doch sobald man aufsteht, sobald sich der Körper in die Senkrechte begibt, ist man wie gerädert. Das Wohlsein war Schein, war Täuschung. Und so ähnlich verhält es sich mit dem eigenen Selbstbild, daß einem vorgaukelt, welch gerechter, hilfsbereiter und guter Mensch man doch sei. Leider aber verflüchtigt sich für gewöhnlich dieses positive Selbstgefühl in dem Augenblick, in dem das Ich mit der Welt sich konfrontiert, wenn es also handelnd in den Umgang mit anderen sich verstrickt. Deren Spiegelung, wenn sie ehrlich und offen ist, verdeutlicht die Selbsttäuschung, die Differenz zwischen dem, wie man sich selbst sieht und wie man nach außen wirkt. Doch solche Erfahrung der Differenz, die Kritik, manchmal auch nur die schweigende am narzißtisch besetzten Selbstbild, empfindet man nicht selten als Kränkung, und diese Kränkung kann zweierlei in Gang setzen: erstens ein Denken, das klärt, das das Gleichgewicht des Ichs wiederherstellen möchte durch Wahrheitsfindung, und zweitens, und dies ist der häufigere Fall, ein Denken, das die Wahrheit abwehrt, das das seelische Wohlbefinden durch Lügen und Beschönigungen aufrechtzuerhalten versucht. „Unsere Psyche“, so schreibt der Theaterregisseuer und Essayist Benjamin Korn, „unsere Psyche besteht aus Labyrinthen und Katakomben des Verdrehens: Niederlagen werden zu Siegen, Angriffe zu Notwehraktionen, Egoismus zu Liebe.“

Kafka war ein Meister der Entwirrung solcher Verdrehungen. In dem kurzen Prosastück Eine Gemeinschaft von Schurken demonstriert er diese Meisterschaft:

„Es war einmal eine Gemeinschaft von Schurken, das heißt, es waren keine Schurken, sondern gewöhnliche Menschen. Sie hielten immer zusammen. Wenn zum Beispiel einer von ihnen […] einen Fremden, außerhalb ihrer Gemeinschaft Stehenden, auf etwas schurkenmäßige Weise unglücklich gemacht hatte, – das heißt wieder nichts Schurkenmäßiges, sondern so wie es gewöhnlich, wie es üblich ist, – und er dann vor der Gemeinschaft beichtete, untersuchten sie es, beurteilten es […], verziehen und dergleichen […]: „Wie? Darum machst du dir Kummer? Du hast doch das Selbstverständliche getan, so gehandelt wie du mußtest. Alles andere wäre unbegreiflich. Du bist nur überreizt. Werde doch wieder verständig.“ So hielten sie immer zusammen, auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschaft nicht auf, sondern stiegen im Reigen zum Himmel [empor]. Im Ganzen war es ein Anblick reinster Kinderunschuld, wie sie flogen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente zerschlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsbbrocken”.

Der Himmel, und das heißt in diesem Falle die Kunst, bringt die Wahrheit zutage. Die Schurken waren wirklich welche. Und sie haben ihre Schurkereien weggelogen, indem sie sich gegenseitig bestätigten, sich schmeichelten und Rechtfertigungen lieferten, ihr Tun verharmlosten, ihre Gemeinheiten in etwas Positives ummünzten.

Kafka hat mit dieser Erzählung die Wirklichkeit kollektiver Beschönigungen aufs genaueste getroffen: die Gemeinschaft von Schurken könnte ein Parlament sein, das dem Volk Sparen verordnet, und sich selbst schamlos aus der Staatskasse bedient; es könnte ein Polizeirevier sein, das eine Kollegin, die sich der kollektiven Verlogenheit nicht anpaßt, durch Mobbing in den Selbstmord treibt; es könnte eine Gruppe weißer Südstaatler wie in dem Film Mississippi Burning sein, die schwarze Mitbewohner durch Brandanschläge terrorisiert oder die Apartheid, die nicht besser war als der Ku-Klux-Klan. Es könnten – wie in Ibsens Theaterstück Ein Volksfeind – die Einwohner eines Badeortes sein, die aus kommerziellen und Selbsterhaltungsinteressen die Veröffentlichung der Tatsache gewaltsam unterdrücken, daß die Heilquellen ihres Ortes durch chemische Abwässer vergiftet sind.

Jede Form gemeinsamer Vorurteile und partikularer Interessen, jede zur Macht gekommene Konstellation trüber Selbsterhaltungsinstinkte wird sich selbst zur Norm, umhüllt sich mit einem Gespinst von Rechtfertigungen und Lügen, das keinen Widerspruch duldet und das jeden ausgrenzt, der sich nicht gleichschalten läßt oder der von vornherein so beschaffen ist, daß er sich infolge seiner Hautfarbe oder seiner Religion gar nicht anzupassen vermag, so sehr er es auch möchte. In Kafkas Prozeßroman, der ja davon handelt, daß sein Protagonist, Josef K., von einer undurchsichtigen Behörde angeklagt worden ist, zitiert ein Verwandter K.s diesem gegenüber folgendes Diktum: „Angeklagt zu sein in einem Fall wie diesen, bedeutet, ihn bereits verloren zu haben.“ Und im Vorwort der englischen Ausgabe von The Trial kommentiert der Übersetzer die hoffnungslose Lage Josef K.s wie folgt: „Dies ist eine absolut präzise Vorwegnahme von dem, was Recht und Gerechtigkeit im Nationalsozialismus bedeutete.“ Und er verdeutlicht diesen Satz an einer konkreten Begebenheit. Die Gestapo verhaftet die jüdische Ehefrau eines Nichtjuden. Der Ehemann fragt, was seine Frau denn getan habe, daß man sie in ein Todeslager deportiere. Und die Gestapo antwortet: „Wir würden niemanden verhaften, es sei denn, er habe ein Verbrechen begangen.“ Das Verbrechen besteht darin, Jude zu sein. Nichts, aber auch gar nichts kann getan werden, um kein Jude mehr zu sein.

Es brauchen nur die entsprechenden Rassenfanatiker ihre Rechtsauffassung zur Geltung zu bringen, und schon wird man schuldig allein durch Geburt.

Schuldig durch Geburt? Nein! Schuldig durch die Macht und durch Verblendung, durch die zur Macht gekommene Verblendung. Was gilt, bestimmt nicht der Himmel, vor dem alles in seine Elemente zerschlagen wird, sondern, was recht ist, bestimmen die Schurken, die das Böse in die Banalität des Alltäglichen verwandeln, das Böse, das man dann für das Richtige hält.

Ich hatte in einer ersten Fassung dieses Essays geschrieben, daß Kunst, diese säkularisierte Gestalt transsubjektiver Wahrheit, dieses Stück Himmel auf Erden, eine Umwertung der Werte vollzieht. Das aber war nicht ganz zutreffend, stimmiger ist vielmehr, daß die Kunst, ähnlich wie die jesuanische Verkündigung in den Evangelien, die Verdrehungen der Maßstäbe beim Namen nennt und sich einsetzt für die verdrängte Wahrheit, die immer zugleich auch verdrängte Humanität bedeutet.

Die gesellschaftlich Etablierten, die Lieblosen und Hochmütigen, die Selbstgerechten und Kaltherzigen, die Phärisäer aller Zeiten, kurz, die Inhaber der Macht, die andere durch Unterdrückung und diktatorische Ignoranz unter sich leiden lassen, werden in der Kunst ihres Glorienscheins entkleidet, sie werden zu Randfiguren. Und die von der Macht zur Seite Gedrängten, die von den Starken und Gesunden Mißachteten, die Schwachen, die vermeintlichen Versager, die Lädierten, die Tauge- und Habenichtse, die Verfolgten und die Opfer werden hingegen zu Protagonisten. Kunst kehrt das Unterste zuoberst, bringt jene Gestalten des Lebens, bringt die Realität zur Geltung, die der Macht und ihren Stützen lästig sind. Kunst ist die Präsenz des Übersehenen, des Un-Erhörten, des Vergessenen, Unliebsamen oder gar Tabuisierten. Literatur und Malerei zum Beispiel sind bevölkert von Säufern, Brandstifern, Mördern, Huren, Krüppeln, Arbeitsscheuen, Verbitterten, Einsamen, Selbstmördern, Ehebrechern, Landstreichern – und nicht zu vergessen: von den Müden, den Langsamen, den Melancholikern und Verzweifelten. Die Liste scheinbar negativer Charaktere verwandelt sich durch die Kunst in eine positive Liste der Weltliteratur: Werther, der Selbstmörder, Kohlhaas, der Brandstifter, Woyzeck, der Mörder, Effie, die Ehebrecherin, Lulu, die Dirne, Wladimir und Estragon, die Landstreicher, Hamm, der Krüppel. Und die Namen der Verwandler: Goethe, Kleist, Büchner, Fontane, Wedekind und Beckett.

Das Skandalon besteht in den Augen der Anständigen, Fitten, Erfolgreichen, Durchsetzungsstarken, der Glatten, Eleganten, der Täuscher und Selbstgefälligen darin, daß die Kunst die Nutzlosen, die Außenseiter nicht verurteilt, sondern sie in besonderer Weise beachtet und sie auch noch zu lieben scheint. Der Künstler, der sich zum Anwalt der Unterdrückten und Mißachteten macht, ist nicht nur gesellschaftlich ein Oppositioneller, sondern er leistet gegen alle Formen selbstzufriedener, ausgrenzender Abstraktion die Anstrengung des Konkreten, wie zum Beispiel E.T.A. Hoffmann, der das Verknöcherte, Bürokratische und Puritanische an der Aufklärung kritisierte; oder wie etwa Büchner, der sich im Lenzgegen das idealistische Menschenbild ausspricht, das ein verkürztes insofern war, als es das reale Dasein, die Vielfalt der Existenz verdrängte.

Aber die Idealisten selbst waren bereits genötigt, danach zu fragen, was wohl die Ursachen und Umstände dafür sein könnten, daß einer sich nicht so entwickelte, wie es ihrer Vorstellung von der Vervollkommnung des Menschen entsprach. Schiller hat dies in seiner Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre getan, das heißt, er hat die gesellschaftlichen Bedingungen verdeutlicht, die einen Menschen ins Abseits treiben. Nahezu parallel zur Schillerschen Genese einer unfreiwilligen kriminellen Laufbahn schreibt Hegel in seinem Aufsatz von 1807 Wer denkt abstrakt: „Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. […] Ein Menschenkenner [hingegen] sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheuere Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb[,] und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte.“

Hegels Fazit, nachdem er festgestellt hat, daß es ihm nicht darum geht, einen Mord zu rechtfertigen: „Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen.“

Abstraktes Denken ist im Grunde genommen nichts anderes, als zu etikettieren, sich mit einer Reduktion zufriedenzugeben, einen Sachverhalt nur von außen oder von oben her zu betrachten – um ihn von sich wegzuschieben. Geht es Schiller und Hegel darum, die komplexen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu begreifen, das Entstehen von Prozessen und die ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, bevor man über andere Menschen urteilt oder sie gar verurteilt, so entspricht es einer weiteren historischen Stufe der Erkenntnis, der Psychoanalyse, daß die Eigenschaften von Menschen, die ausgegrenzt werden, sehr oft den verdrängten Eigenschaften derjenigen entsprechen, die ausgrenzen. Man distanziert sich vom anderen, der ein Verbrechen begangen hat, nicht deshalb, weil man über einen moralisch einwandfreien Charakter verfügt, sondern man entrüstet sich, weil man das Potential zum Mörder, zum Triebtäter, zum Dieb in sich selbst verspürt und aus diesem Grund verleugnet. Mit dem vermeintlich bösen Anderen zerschlägt man sein eigenes Spiegelbild, denn man haßt den Spiegel, der die Wahrheit sagt.

Einen Mörder einen Mörder zu nennen, erfordert keinerlei Anstrengung. Durch simple Etikettierung ist es möglich, das ’sogenannte Böse’ von sich zu distanzieren; man selbst lebt auf der Seite des Guten, und das Üble ist jenseits dieser Grenze. Die Ursachen für ein Verbrechen zu ergründen, ist unbequem, denn es könnte sich ja herausstellen, daß man an diesem Verbrechen mitschuldig geworden ist, da man durch seine Lebensweise einen Teil jener bürgerlichen Kälte repräsentiert, die andere Menschen ausgrenzt.

Die individuelle Untat, so hart es auch die einzelnen Opfer treffen mag, bleibt vergleichsweise begrenzt gegenüber dem kollektiven Verbrechen, das im Namen des Staates oder gar im globalen Maßstab organisiert wird. Die Umwertung der Werte durch die Kunst, die Verwandlung der Schwachen und Außenseiter zu Protagonisten, repräsentiert eine geradezu ohnmächtige Position gegenüber der Gewalt von politisch Mächtigen, denen es in der Geschichte immer wieder gelingt, die Barbarei durchzusetzen. Wer zum Außenseiter wird, bestimmt der sich als Recht setzende und als Norm behauptende Wahnsinn. Wer ihm zum Opfer fällt, ist eine Frage des Datums: Jan Hus wird 1415, Giordano Bruno 1600 als Ketzer vebrannt; Galileo Galilei mußte 1633 gegenüber der Inquisition seine Ansichten widerrufen; genau 300 Jahre später werden in Deutschland die Bücher ins Feuer geworfen, die Juden in den Konzentrationslagern erst vergast und dann in den Öfen verbrannt. Keine von einem menschlichen Mitgefühl geprägte Phantasie könnte sich die Greueltaten ausdenken, die Menschen an Menschen bereits begangen haben, derzeit begehen und in Zukunft noch begehen werden.

Gleichsam zeitübergreifend gilt, daß jede Form der Weltanschauung, und sei sie noch so irre und abstrus, mächtig werden kann – und verfügt der Wahnwitz erst einmal über die Macht, erklärt er sich zur Norm für alle. Wie ein Magnet ordnet das Kraftfeld der Macht die Instinkte der Selbsterhaltung der einzelnen, und in Scharen bewegen sie sich wieder in Reih und Glied – die Mitläufer. Der ohnehin bei den meisten Menschen schwach ausgebildete Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, geht unter im Sog der Anpassung. Und schon sind die Wenigen, die noch die Kraft haben, den Wahnsinn als Wahnsinn auch zu benennen, die Ausgegrenzten. Das eugenische Denken zum Beispiel, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vereinzelt bei Ärzten und Naturwissenschaftlern findet, wird unter der Hitlerdiktatur zum allgemein verbindlichen Bewußtsein und dient als Rechtfertigung des Massenmordes. Liebevolle Hilfe und Mitgefühl etwa für Blinde und Taube, für Epileptiker, Geisteskranke und Körperbehinderte wird an den Pranger gestellt, wird desavouiert mit dem im Dritten Reich gebräuchlichen Begriff der „Humanitätsduselei“. Sterilisierung und Ausrottung des unwerten Lebens dienten nicht nur der „Rassenhygiene“, sondern auch einem Ideal des Schönen, für dessen Veranschaulichung unter anderem der Bildhauer Arno Breker und für dessen architektonische Realisierung Albert Speer sorgten. Brutalität, Härte, Kälte, Arroganz und Borniertheit werden zur historischen Norm, zur Normalität – und die Opfer werden so klein und demütig, daß sie scheinbar willenlos noch ihr eigenes Grab schaufeln, anstatt mit dem Spaten auf ihre Peiniger einzuschlagen.

Heute, gegen Ende unseres Jahrhunderts, erleben wir die Renaissance eines extremen Laissez-faire-Kapitalismus. Denkmuster, die soziale Gerechtigkeit verächtlich machen, drängen sich machtvoll in den Vordergrund, determinieren die Wahrnehmung und werden von Intellektuellen unter dem Begriff der Globalisierung – mit einem Schuß Postmoderne – als unaufhaltsam verkauft. Wissenschaftler liefern – ohne Not – erneut Begründungen für die unabänderlich darwinistische Natur des Menschen, für das Recht des Stärkeren, für die unersättliche Gier nach Reichtum und damit nach Macht; sie liefern mit dem Vokabular des Fortschritts Rechtfertigungen für die in Wirklichkeit uralte Inhumanität. Brutalität und die rücksichtslose Durchsetzung materieller Interessen werden als auf der Höhe der Zeit befindlich angesehen, weil sie sich grenzüberschreitend, eben global, austoben können. Alle kritischen Argumente, die jemals in der Geschichte über die Mentalität des Haben- und Besitzenwollens geäußert worden sind, haben sich – mit Hilfe des Dekonstruktivismus – in Luft aufgelöst, gelten als historisch überholt. Gunter Hofmann raunt bedeutungsvoll in der ZEIT: „Und wem gilt das ‘Soziale’ nicht als europäisch verstaubt?“

Doch die Gegen-Frage bleibt, ob das Soziale wirklich überholt ist oder ob nicht vielmehr mit der globalisierten Brutal-Ökonomie ein Denken in die Köpfe schwappt, das voraufklärerisch ist und von dem man glaubte, es gehöre einer vergangenen Zeit an. Aufklärung und Idealismus erhofften sich von der Verwirklichung des Individuums, von der gleichmäßigen Entfaltung aller seiner Kräfte den universell gebildeten Menschen und damit die Überwindung kleinstaatlichen Denkens. Dasjenige aber, was sich derzeit als herrschendes Prinzip ausbreitet, ist nicht universell, sondern bloß entgrenzt; es handelt sich um ein sehr reduziertes, partikulares Bild vom Menschen: unverhohlene Raffgier wird zum Maßstab für einen weltweit dominanten Sozialcharakter, und die Rationalisierung einer rücksichtslosen Bereicherungsmentalität durch die Wiederbelebung alter Feindbilder und Vorurteile wird zum fortgeschrittensten Bewußtsein der Gegenwart gekürt. Das Feinbild par excellence ist das Prinzip der Solidarität und der Mitmenschlichkeit selber, denn es besagt, denen zu helfen und mit denen zu teilen, die der Hilfe bedürfig sind.

Angesichts des Überbordwerfens humaner Maßstäbe und der im Namen des Christlichen betriebenen Verabschiedung christlicher Wertvorstellungen wird jene ‘europäisch antiquierte’ Kunst, die sich der Schwachen und Ausgestoßenen annimmt, wieder äußerst aktuell. Wohlgemerkt Kunst, und nicht nur das Bewußtsein sozialer Probleme, das Bewußtsein von Nöten.

Fortsetzung hier:

https://klausbaum.wordpress.com/die-hinwendung-der-kunst-zu-den-schwachen-und-ausenseitern-fortsetzung/