Der folgende Text ist ein Beispiel für die zwiefache Sicht auf die Realität (gepostet auf den Wunsch von Kurt hin):
>>Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.<<
Aber welche Version ist denn nun die richtige? Es gibt ja keine zwei Wirklichkeiten, oder alternative Fakten, oder ähnliches. Man nennt es den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: es kann nicht gleichzeitig Tag und Nacht sein. Andererseits kann man sagen, dass Tag und Nacht die zwei Seiten derselben Struktur sind.
Vielleicht geht es aber auch gar nicht um die Reiterin, sondern um die Galerie. Wenn man auf der Galerie sitzt wie die Alten in der Muppet show, dann kann man die Dinge so oder so sehen, schimpfen ohne Ende oder alles loben – man weiß dort oben ohnehin nicht, was die Dinge unten zu bedeuten haben. Erst wenn man unten selbst teilnimmt, versteht man etwas.
Kafkas wegen stelle ich mal vielleicht nicht „ganz unsinnig“ den Anton Pawlowitsch Tschechow hierhin: „L. wirft mir vor, daß ich eine erzählung mit dem satz beende: „Ja, man begreift nichts auf dieser welt!“ Seiner meinung nach muß der künstler und psychologe begreifen, dazu sei er psychologe. Ich bin nicht seiner meinung. Die schreibenden, besonders die künstler, müssen sich allmählich eingestehen, daß man auf dieser welt nichts begreifen kann, so wie sich das einst Sokrates und Voltaire eingestanden haben. Die menge meint alles zu wissen und alles zu begreifen; und je dümmer sie ist, desto weiter erscheint ihr ihr horizont. Wenn sich aber der künstler, dem die menge glaubt, dazu entschließt, zu erklären, daß er nichts von dem begreift, was er sieht, so stellt das bereits ein großes wissen dar und einen großen schritt vorwärts.“
Obwohl mir die Geschichte von Kafka nicht aus dem Kopf geht, denke ich jetzt Tchechows wegen an den Maler Isaac Lewitan, der mit Tchechow eng befreundet war, und häufig die Sommer auf dessen Gut verbrachte. Der Dichter schätze den Maler sehr, konnte es aber nicht lassen, immer wieder über dessen ärmliche, jüdische Herrkunft zu spotten. Als er einmal an dessen Tür schrieb, hier wohnt der Jude Levitan, war dieser so verletzt, daß er abreiste. Tchechow offenbart hier eine andere Seite seiner selbst, und Humor kann unterschiedlich wahrgenommen werden.
„Obwohl mir die Geschichte von Kafka nicht aus dem Kopf geht,…“ Mir geht sie wieder mal nicht rein, weil der Zusammenhang sich mir nicht so recht erschliessen will. Soll damit ausgedrückt werden, dass sich die Menschen ihre Wirklichkeit, ihre Lebensverhältnisse nach Belieben „zurechtbiegen/zurechtlügen“?
Weil es dabei ja nicht nur um banale Sinnesleistungen geht, um individuelle Wahrnehmung, sondern oft auch um intellektuelle Anstrengung, hinter dem falschen Schein die Wirklichkeit zu erkennen, dann würde Kafkas Beispiel gut dazu taugen auch den „Linken“ Motive zu unterstellen, die nicht der Äufklärung dienen,sondern nur dem Transport eigener Weltanschauungen.
Wer klärt mich auf?
Troptard: Ich denke, es geht darum, dass es gar nicht so einfach ist zu sagen, so und so ist die Wirklichkeit beschaffen. Vielleicht war Kafka selbst im Zirkus und hat selbst eine solche Erfahrung gemacht. Man sollte die Geschichte auf sich wirken lassen und die Gedanken schweifen lassen. Es ist so ähnlich wie das Betrachten einer Zeichnung.
„[…]“Nach mehr als 120.000 Abrufen hat Youtube heute mein Interview mit dem Mediziner gelöscht – ohne wirkliche Angabe von Gründen. Ich komme mir vor wie in einem Kafka-Roman. Man wird mundtot gemacht – und es wird einem nicht mal erklärt, warum. Die Hintergründe hier im Livechat.
https://tinyurl.com/y4tdkk6k
Reitschuster Punkt de
Seit meinem Umzug liegen die Kafkas noch gestapelt mit den Lems auf einer Fensterbank. Nachher baue ich das Bücherregel auf. schwitz
@Leselotte: Guten Morgen! Grundsätzlich: Meinungsfreiheit ist ein Recht gegenüber dem Staat. Youtube, das von der Google-Tochter alphabet zum Zwecke der Gewinnerzielung betrieben wird, ist dem Staat nicht untergeordnet. Wenn die ab morgen nur noch Porno- oder Katzenvideos erlauben, kann man da nix machen. Mein Rat deshalb: Man nutze facebook, twitter, youtube etc. einfach überhaupt nicht.
Die ursprüngliche Idee des Internets hatte sowieso das Gegenteil zentraler Servern im Sinn. Ich verstand die Aufregung über gelöschte Videos deshalb noch nie.
Zwei Menschen sitzen an einem Tisch, auf dem ein angeschnittener Kuchen steht. Die eine Person sieht von der Seite, dass bereits ein Stück fehlt, die andere sieht – ebenfalls von der Seite – den völlig intakten Teil des Kuchens.
Damit beide sehen können, was wirklich ist, könnten sie ihre Sitzposition ändern und zum Beispiel von oben auf den Kuchen schauen. Wenn das jedoch nicht geht, gibt es die Möglichkeit der Kommunikation, sodass jeder seine Sicht dem anderen mitteilen kann und gemeinsam die „Wahrheit“ erschlossen wird.
Um das, was die gegenüber sitzende Person aus ihrer jeweiligen Perspektive beschreibt, zu glauben und der eigenen Erfahrung als Wissenselement hinzuzufügen, braucht es unter anderem Vertrauen in die Fähigkeit des anderen, Sinneseindrücke „richtig“ interpretieren und verbalisieren zu können. „Richtig“ ist leider nur das, was man selbst dafür hält. D.h., die Grenzen der eigenen Erfahrungen und das damit verbundene Wissen, beschränken auch die möglichen Sichten auf das, was uns mitgeteilt wird.
Früher hielt man das allgemeine Anheben der „Bildung“ für eine vertrauensbildende Maßnahme. Schaut man in die Geschichte, stellt man wiederum fest, dass Bildung alleine keinesfalls Immunität gegenüber individuellen Machtgelüsten hervorbringt, sondern dass Ethik hinzukommen muss, damit alle einen Vorteil haben.
Ich denke , es ist genau dieser Mangel an Vertrauen, was die Kommunikation zwischen Menschen so schwierig macht. Kriege gehören ja längst nicht zur Vergangenheit, aber trotzdem versuchen wir ständig neu miteinander zu reden.
Nur meine 2 Cent.
Der Text von Kafka beschreibt die oft schwer einzuordnenden Gefühle angesichts einer zwiespältigen Realiität. Der Ablick der erschöpften Kunstreiterin, löst in dem jungen Zuschauer Mitgefühl aus. Er will sie befreien, vielleicht gerade, weil sie den Beifall genießt, aber selbst das Traurige ihrer Situation nicht zu erfassen scheint. Auch die zweite, völlig andere Situaiton berührt ihn tief. Hier ist es die Schönheit, die er nicht ertragen kann, und er weint, ohne zu wissen, warum.
Realität…Anblick…Situation…
🙂
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens ins Jobcenter einbestellt….
@Ulli
Solange es morgens nicht an der Tür klopft…
Kafka hat vieles von dem, was heute Realität ist, intuitiv geahnt.
@Troptard
Meine Interpretation des Textes ist vor allem an Dich gerichtet. EINE Interpretation…:-)
@ Pentimento,
ja Danke. Hat mir sehr gefallen! Leider ist das „s“ auf meiner Tastatur nicht mehr benutzbar und dadürch wird das Schreiben sehr anstrengend (Copier/Coller).
@Troptard
Nun, da wir es wissen, ist das doch kein Problem. Nimm ein x statt des s, oder so. Wir verstehen es. 🙂 Gute Wünsche.
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