Zunächst ein Differenzierungsversuch des Begriffs „Antisemitismus“. Der Mangel an Differenziertheit bei diesem Thema ist im Begriff schon angelegt. Der Vorwurf, etwas sei antisemitisch, wird oft im Zusammenhang mit einer Kritik der Politik Israels verwendet.
Ein kleiner Ausflug zu Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Diese „Briefe“ sind auf dem Hintergrund der Erfahrung des Bürgerkriegs bzw. der Bürgerkriege entstanden. Diesen hat unter anderem Kassel und Bad Karlshafen die Anwesenheit der Hugenotten zu verdanken.
Schiller trifft in den Briefen die Unterscheidung zwischen Person und Zustand. Die Person als ganzer Mensch und der Zustand als eine Beschaffenheit der Person. Wer am Abend betrunken ist, kann am nächsten Tag wieder nüchtern sein.
Oder anders gesagt: Der Mensch durchläuft Entwicklunszustände, er kann zum Beispiel qua Einsicht sein falsches Verhalten ändern.
Mit dem, was ich hier nur angedeutet habe, will ich darauf hinweisen, dass man öfter sagen müsste: „Anti-eine-bestimmte-Verhaltensweise-eines-Semiten“. Im Begriff des Antisemitismus steckt zu sehr die Totale. Nicht in jeder Krikik eines Semiten steckt die Absicht, ihn gänzlich zu vernichten. Das haben die Nazis getan, die Absicht hatte und hat die Künstlergruppe Tarin Padi nicht. Man muss nur in ihrem Statement auf der documenta-Seite nachlesen, welche Repressalien 1998 in Indonesien noch zugange waren. Das Bild ist darauf eine Reaktion, es gibt an den besagten Stellen wider, wie „Zustände“ israelischer Menschen empfunden wurden (Mossa z.B. und der Herr mit den Locken). Nicht selten macht sich Woody Allen, ein Jude, über orthodoxe Juden in seinen Filmen lustig. Hinzuweisen ist auch auf die Symolik des Schweins. Diese wird von George Orwell in seinem Buch „Animal Farm“ verwendet und steht dort für diktatorische Gewaltausübung. Ich habe ein Cover auf meinem Account veröffentlicht.
Auch das folgende Zitat von Orwell: >>The most effective way to destroy people is to deny and obliterate their own understanding of their history.<<
Dass Künstler ihre Empfindungen gegenüber Vertretern oder Repräsentanten Israels in zwei Karikaturen artikulieren, darf nicht sein, proviert einen Shit-Storm, der so heftig ist und so pharisäerhaft, dass alles Menschliche dabei verloren geht.
Zu erinnern ist an den Juden Erich Fried, an sein Gedicht „Höre, Israel“. Zionisten nannten Fried einen sich selbst hassenden Juden.
Höre, Israel
Erich Fried
Video Player
00:32
01:17
Audio Player
00:00
00:00
Use Up/Down Arrow keys to increase or decrease volume.
Aufnahme 2011
Als wir verfolgt wurden,
war ich einer von euch.
Wie kann ich das bleiben,
wenn ihr Verfolger werdet?
Eure Sehnsucht war,
wie die anderen Völker zu werden
die euch mordeten.
Nun seid ihr geworden wie sie.
Ihr habt überlebt
die zu euch grausam waren.
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?
Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
„Zieht eure Schuhe aus“.
Wie den Sündenbock habt ihr sie
in die Wüste getrieben
in die große Moschee des Todes
deren Sandalen Sand sind
doch sie nahmen die Sünde nicht an
die ihr ihnen auflegen wolltet.
Der Eindruck der nackten Füße
im Wüstensand
überdauert die Spuren
eurer Bomben und Panzer.
deutschelyrik.de
Höre, Israel – Deutsche Lyrik
In Deutschland kann man sich mit derlei Überzeichnungen einzig in die Nesseln setzen.
Insbesondere bei Menschen, die eine Haltung vor sich hertragen, in der das Subjekt wie eingemauert wirkt.
So wie der Pawlowsche Hund speichelt wenn das Glöckchen erklingt, wird eine Melange aus Emotionen, Erregungsbereitschaft und Zuordnungsschablonen abgerufen.
Keine oder allenfalls geringe Bereitschaft sich mit dem Urheber und/oder dem Objekt der Entrüstung auseinanderzusetzen, sich den Bezugsrahmen zu verdeutlichen.
Entsteht doch beinahe nichts, was sich nicht aus einer Erfahrung, einem Bedürfnis oder einer Vorstellung heraus formt bzw. artikuliert.
Stattdessen wird die mediale Öffentlichkeit mit neuen und bekannten Begriffskaskaden geflutet, denen der lebensweltliche Resonanzraum abhanden gekommen ist.
Keine Diffenziertheit – nirgends.
Die hochfliegenden Diskurshegemonen des Westens zeigen kaum Bewusstsein für die Lebenswirklichkeit/den Erfahrungshorizont und das Geschichtsverständnis der Menschen weitab ihrer üblichen Einflusszonen.
Das Gedicht von Erich Fried erinnert mich an die Armenier, die im ersten Weltkrieg von den (mit Deutschland verbundenen) Türken in die Wüste getrieben wurden, um dort an Hunger, Durst und Erschöpfung zu sterben. Ob Armenier, Juden oder Muslime – alles, was dem Christen fremd ist, ist ihm willkommen, um seine durch den strafenden Gott des alten Testaments hervorgerufenen Schuldgefühle los zu werden.
Deshalb gab es im antiken Judentum den Sündenbock; in einer Zeremonie wurde ein Ziegenbock symbolisch mit allen Sünden der Gemeinschaft beladen und in die Wüste getrieben. Die Gemeinschaft wurde so von ihren Sünden befreit. Diese Sündenbockpsychologie ist bis heute im Christentum zu finden, aber statt des Ziegenbocks bedient man sich der Fremden, der Ausländer, der Kommunisten oder eben der Semiten. Menschen, die irgendwie anders sind als die Gemeinschaft eignen sich hervorragend als Projektionsträger der eigenen dunklen Seite.
Die Projektion der eigenen Schattenseite auf unschuldige Andere aber verursacht neue Schuldgefühle, welche eine sachliche Kritik z.B. an der Politik Israels nicht erlauben.
Wir haben ein großes Haus geerbt, ein großes „Haus der Welt“, in dem wir zusammen
leben müssen – Schwarze und Weiße, Morgenländer und Abendländer, Juden und Nichtjuden,
Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus – eine Familie, die in Ideen, Kultur und
Interessen zu Unrecht getrennt ist, die deshalb lernen muß, in Frieden miteinander auszukommen.
Martin Luther King
Ein weiser Befund, leider mangelt es immer noch an der Umsetzung.Ich finde das passt zum Anti-
Semitismusposting.
sso ist es
Es ist klar, die beanstandene Darstellung des Juden mit SS Hut ist klassischer Antisemitismus und innerhalb des Kollektivs ist die Diskussion bekannt (ich selber habe darüber mit Vertretern und Freunden des Kollektiv darüber geredet). Immerhin ist das Gemälde von 2002.
Das diese Darstellung nicht überarbeitet wurde ist unreflektiert und/oder Sturheit.
Ich kann nur empfehlen im Netz die pdf Datei „Taring Padi – Seni Membonkar Tirani“ (indonesisch/englisch 318 Seiten) zu suchen.
Da wird genau das Bild in drei Artikeln erwähnt oder gehört zum Bildmaterial. Es ist schon ein Vorzeigestück des Kollektivs.
Der Mossad-Vertreter wird NICHT mit einem Schweinerüssel dargestellt, sondern mit einem Mundschutz.
Wer als „babi hutan“ (Wildschwein) dargestellt wird ist der Vertreter der Kopassus (indon. Spezialeinheit), der mit dem roten Barret.
Es handelt sich um eine plakative, aber denn noch nicht weniger unwahre, Darstellung der internationalen Geheimdienste und der Armee als Armee oder eher Cops des Kapitals.
Ab Seite 35 gibt es einen eigenen Beitrag, der sich nur mit den Mischfiguren Mensch-Hund auseinandersetzt.
Das es wesentlich Komplexer ist, sieht man am Holzschnitt „Berikan cinta pada sesama“ (Anderen Liebe schenken, S.94).
Es ist die Aufforderung alle Religionen „zu lieben“, auch die jüdische und die ist eben KEINE offizielle Religion in Indonesien.
Das Kollektiv, welches sich in der Nachfolge von Lekra, kommunistische Künstlervereinigung der PKI (Indonesiens ehm. KP) zur Zeitens Soekarnos, sieht, vertritt hier die Position der NU (weltgrößte islam. Organisation aus Indonesien).
Übrigens; beim durchstöbern der pdf. Datei wird man noch so einige „Kapitalisten Schweine“ finden, aber keines davon ist jüdisch. Auch ist der Nahostkonflikt nicht so das Thema des Kollektivs.
PS: Ich habe die pdf. Datei nur auf WA und bin zu doof die hier zu verlinken.
Wenn Du interesse hast, schicke mir eine Email und ich versuche sie dann via Mail an Dir zu senden.
Es wäre dann schön wenn Du das dann hier verlinkst als Artikel.
Man hätte ja erwarten können das die dt. Empörungswelle sich selber die Mühe gemacht hätte.
Da Taring Padi (indon. Wortspiel, taring=Reißzähne und padi=der frisch geerntete Reis mit Schale, also Reiszähne) aus meiner Heimatstadt kommen und ich den ein oder anderen persönlich kenne, ist mir das ein Anliegen.
Der Vorwurf des „Antisemitismus“ greift tatsächlich zu kurz und dient linke Position zu Diskreditierung (mal wieder).
lieber fred, herzlichen dank für deinen fundierten beitrag.
Auch von mir vielen Dank für die erhellenden Ausführungen zum „skandalträchtigen“ Triptychon.
Der Philosoph Peter Sloterdijk:
„Wir beobachten die Mobilisierung einer postkolonialen Intellektualkultur“, sagte er der Berliner Zeitung“,“Intellektuelle von der Peripherie“ machten sich bereit,“im Zentrum Macht zu übernehmen“.
Man habe mit „ruangrupa“ aus Indonesien „ganz bewusst ein peripheres Künstlerkollektiv zum kollektiven Kurator der Ausstellung bestimmt und damit ein Zeichen gesetzt“.
Obendrein sei es ein „miserables Gemälde“.
Das sagt mir zwei Dinge:
Erstens, es gibt also tatsächlich Macht.Innerhalb der intellektuellen Szene, oder das was sich dafür hält.
Zweitens,der eitle Herr Sloterdijk wähnt sich des Zentrums zugehörig, und sieht sich und seine
Macht durch die Peripheren, mithin Unbedeutenden bedroht.
Vielleicht doch noch ein drittens.Mit Wachsmalstiften kennt er sich auch aus.
Gut, das war jetzt gemein von mir.
0 Pingback