Ich bin Adorno nie persönlich begegnet. Im Jahre 67 sollte ich für den Deutschunterricht am Hessenkolleg in Kassel ein Referat über Becketts Endspiel erarbeiten. Das war der Anlass, erstmalig zu einem Text von Adorno zu greifen „Versuch, das Endspiel zu verstehen“. Doch zu diesem Zeitpunkt gefiel mir die umfangreichere Studie über „Samuel Beckett“ von Hugh Kenner in der Reihe „Literatur als Kunst“, herausgegeben von Walter Höllerer, besser.
Zum Studium landete ich im Oktober 1968 in Hamburg an der Kunsthochule am Lerchenfeld. Professor Fritz Seitz, der die bauhausorientierte Ausbildung vertrat, äußerte 69, nach dem die Studentinnen vor Adorno ihre Brüste entblößt hatten, ihn hätte dergleichen nicht „schockiert“, er hätte eher daran gedacht, dass diese jungen Frauen wohl gefroren haben müssen. Und da ist da noch eine zweite Erinnerung: In einer Publikation über Visuelle Kommunikation fand sich eine Art Karikatur, deren Urheber sich einer Werbung von Lord Extra bedient hatte: Elegante Leute standen in Polohemden auf einem „gathering“ herum, und einer von ihnen sagte: „Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität:“ Ein Satz, der in diesem Milieu der Schickeria auf komische Weise fremd wirkte, war aber auch mir in seiner Bedeutung verborgen.
1971 verlies ich die HfbK und wechselte zur Uni. Das künstlerische Treiben war mir zu begriffslos, und ich schrieb mich bei den Philosophen ein. Mein erstes Seminar absolvierte ich allerdings in Germanistik bei Ulrich Wergin über Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen“. Das war die Gelegenheit, über Adornos „Minimal Moralia“ ein Referat zu verfassen, das mit dem Satz endete: „Entfremdet ist, wer dem Fremden fernbleibt.“ Schiller hat ja in seinen Briefen eine Vorstellung vom Menschen entworfen, der zufolge dieser sich entwickeln und so viel Welt in sich aufnehmen müsse, wie nur möglich. Um meinen ersten umfangreicheren Adorno-Studien ein atmosphärisches Element hinzuzufügen: Ich hütete im Winter 70 die Wohnung der Familie Wiedemann in Othmarschen ein und war tagsüber derart heftig den Reizen und Verlockungen der Großstadt ausgeliefert, dass mein Inneres erst zur Ruhe kam, wenn draußen nichts mehr lief, so in etwa ab Mitternacht. Da konnte Konzentration eintreten, und ich arbeitete mit Hilfe eines guten Schwarztees bis um Fünf in der Frühe und schlief dann tagsüber.
Etwa ein Jahr später, ich wohnte mittlerweile auf dem Land allein in einem Haus, was manchmal zum Fürchten war, saß ich an einem weiteren Referat über Sprache bei Adorno. ProSeminar bei Beutin in Linguistik. Hier passierte es, es war wie ein Erleuchtungserlebnis: Was ich in der „Negativen Dialektik“ zu lesen bekam, war die Umwertung der Urteile über Sachverhalte. Ein Beispiel: Bei Wiedemanns traf ich eines Tages einen damals sehr bekannten, fernsehpräsenten Dokumentarfilmer, der meine Urteile über verschiedene Sachverhalte mit den Worten, das sei doch nur subjektiv, abqualifizierte. Bei Adorno las ich, dass bündig Durchlebtes keineswegs nur subjektiv sei und dass das Subjektive keineswegs eine herabzuwürdigende Qualität wäre, anders denn als Subjekt sei keine Erfahrung möglich.
Als ich dieses Referat, vorwiegend über die Einleitung zur Negativen Dialektik, geschrieben hatte, war ich – wie es im Englischen heißt – „hooked“. Die Kunst, die von diesem Augenblick an einzuüben war, bestand darin, von Adorno zu lernen, ohne wie er zu schreiben, denn wer sich seiner Sprechweise bediente, wurde sogleich verunglimpft, wurde als Adornit abqualifiziert.
Wer aber nur einen Hauch von Kritik, nicht einen Hauch, der sich über alles legte, sondern sich auf einige winzige Stellen bezog, hatte es bei Rolf Tiedemann, dem ehemaligen Leiter des Adorno-Archivs, verschissen. Ich hatte in meiner nun 35 Jahre alten Diss über Adorno und Schelling schon im Vorwort eine Unterscheidung zwischen irrealer und realistischer Utopie getroffen. Tiedemann hat dies als Kritik an Adorno verstanden und mir eine Stelle im Adorno-Archiv verwehrt, weil eine Anmerkungsziffer in meiner Arbeit fehlte, ohne zu bedenken, dass den frühen Nachkriegs-Benjamin-Ausgaben (hrsg. von Gretel und Th. W. Adorno) in der Reihe „Bücher der Neunzehn“ der Druckfehler nicht fremd ist.

Hier eine Leseprobe, die ich anläßlich der documenta 13 schon einmal auf meinem Blog veröffentlicht habe:
https://klausbaum.wordpress.com/2012/12/03/adorno-

Sledgehammer bemerkte neulich, es gäbe eine schleichende Dequalifizierung auf diesen Blog. Ich bemerke soeben, dass keiner zu dem verlinkten Adorno-Zitat je etwas angemerkt hat. ……..