Ich habe von der Existenz Klaus Heinrichs erstmals 1975 erfahren. Burkhard Schmidt, damals Assistent im Fachbereich Theologie der Universität Hamburg, schwärmte von Heinrich, den er auf einer Tagung zusammen mit Adorno kennengelernt hatte. Er nannte dieses Treffen sein Bildungserlebnis par excellance. Ich besorgte mir darauf hin die beiden Suhrkampbände von Heinrich „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“ und „Parmenides und Jona“. Außerdem versuchte ich per Brief mit Heinrich Kontakt aufzunehmen. Nach über einem halben Jahr kam schließlich eine Antwort, in der Heinrich sich entschuldigte, dass er mich hatte so lange warten lassen: Sein Brief begann mit den Worten „Asche auf mein Haupt …“. Ich war erst einmal erfreut, dass Heinrich mich wahr- und ernst nahm. Da ich Freunde in Berlin hatte, bei denen ich auch übernachten konnte, fuhr ich öfters dort hin, um in Dahlem im Paul-Tillich-Haus, in dem sich das religionswissenschaftliche Institut befand, an Seminaren teilzunehmen. Es könnte so ab dem Jahre 1980 gewesen sein, in dem ich begann, Kapitel aus meiner entstehenden Dissertation über Ästhetik als säkularisierte Christologie vorzutragen. Heinrich hatte ein Doktoranden-Kolloqium laufen, dass er unter anderem mit den Worten anbot, den Doktoranden aus seiner sololoquistischen Existenz zu befreien. (Ich zitiere hier aus dem Gedächtnis.)
Für die Dissertation spielte im Kontext der „Dialektik der Aufklärung“ zunächst Heinrichs Buch „tertium datur“ eine Rolle; es ging um eine religionsphilosophische Einführung in die Logik. Die große Stärke von Heinrich war das konkrete, anschauliche Denken. So weist Heinrich der Logik nach, dass sie dem selben Zwangscharakter unterliegt wie das mörderische Gleich um Gleich der Pelops-Sippe in der griechischen Mythologie. Ich hatte so um 1980 herum, genau weiß ich es nicht mehr, Gelegenheit, die „Orestie“ des Aischylos an der Schaubühne am Halleschen Ufer unter der Regie von Peter Stein zu sehen. Klytämnestra ermordet zusammen mit ihrem Geliebten Aigisth ihren Ehemann Agamemnon, der aus dem Trojanischen Krieg zurückkehrt war. Nun ist gemäß des Fluches, der über der Pelops-Sippe hängt, die Reihe an Orest, den Tod seines Vaters Agamemnon zu rächen. Peter Stein hatte damals anstelle eines Programms Plakate zur Orestie drucken lassen. Darauf standen unter anderem die Worte: Tod um Tod, Rache um Rache, Mord um Mord. Dieses Prinzip des Gleich um Gleich ist ein Charakteristikum des Mythos.
Ein anderes kleines Beispiel für die Anschaulichkeit von Heinrichs Denken ist seine Erklärung von Kants Begriff des „Überhaupt“. In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant das Schöne als das unwillkürliche Zusammenspiel von Einbildungskraft (als dem Vermögen der Anschaung überhaupt) und Verstand (als dem Vermögen der Begriffe überhaupt).
Heinrich erklärt, dass das Wort „überhaupt“ aus der Viehverkäufersprache stammt und zum Beispiel einen Akt des Kaufens meint, bei dem der Viehkäufer mehrere Kühe „über houbet“ kauft, das heißt, er schaut sich die Kühe nicht im einzelnen an, blickt über ihre Häupter hinweg. Die konkrete, einzelne Kuh zählt nicht.
Als ich Ende der achtziger Jahre in einem kunstwissenschaftlichen Seminar an der Kunsthochschule in Kassel Mondrian thematisierte und sein Bauhaus-Buch „Neue Gestaltung“ vorstellte, war mir Heinrichs Buch „anthropomorphe“ eine große Hilfe. Er behandelt darin die „Entmenschlichung“ des Gottesbegriffs, die zögernd gesagt, mit Xenophanes beginnt, der den Götterbegriff des griechischen Mythos kritisiert und sagt, wenn die Ochsen Götter hätten, sähen diese aus wie Ochsen.
Mondrian, der zunächst auch Bäume malte, ekelt sich später vor ihrer wirren Gestrüpphaftigkeit. In seinem Buch gipfelt das in der Verneinung des menschlichen Körpers und er formuliert als Ideal die leere Theaterbühne, auf der keine Körper mehr zu sehen, sondern nur noch Stimmen zu hören sind. Während also Xenophanes die Götter entmenschlicht, entmenschlicht Mondrian den Menschen, möchte ihn zum Verschwinden bringen.
Heinrich spürte in „anthropomorphe“ den Verdrängungsprozessen nach, die das reine Sein von den Verstrickungszusammenhängen der Menschen scheiden wollen. Der Künstler Gerhard Merz ist so ein Schlawiner.
Ich möchte mich bei Klaus Heinrich unter anderem dafür bedanken, dass er zu meiner Ich-Stärkung entscheidend beigetragen hat. Heinrich war – und das sagte er einst über Günter Anders – ein Menschenfreund.
@ Klaus Baum;
da ich häufiger Gast beim “ ça ira verlag“ bin und die zahlreichen Empfehlungen zu den Texten von Klaus Heinrich gelesen habe, auf einer Seite, die aus dem linken Spektrum weitgehend aussortiert ist (Adorno.Horkheimer ,negative Dialekt) habe ich mal getraut einfach bei Dir nachzufragen.
Man wird in diesen miesen Zeiten einfach vorsichtigt. Deshalb danke für Deine Anmerkungen.
@Klaus Baum
„Ich möchte mich bei Klaus Heinrich unter anderem dafür bedanken, dass er zu meiner Ich-Stärkung entscheidend beigetragen hat. Heinrich war – und das sagte er einst über Günter Anders – ein Menschenfreund.“
Danke für dieses résumé !
schönes foto
Bei Klaus Heinrich war ich nie, Religionsphilosophie hatte ich nicht auf dem Schirm. Für 1 Seminar war ich bei Taubes, aber der entschwand dann schon Richtung Krankenhaus. Theunissen hat mich am meisten beeindruckt, 1 Doppelseminar über die Hegel’sche Logik (wobei ich mich heute frage, wie viel ich damals verstanden habe), dann noch ein Oberseminar über Sartres „Das Sein und das Nichts“. Seitdem habe ich in der Tat den Eindruck, einigermaßen zu verstehen, worum es in der Moderne geht und in welcher Lage sich die Menschen hier befinden. Jedenfalls war in den 80ern das philosophische Angebot in der F. U. absolut grandios. Wenn man mal bei jemandem studiert hat, der sich auf einem hohen philosophischen Niveau bewegt, dann prägt einen das sehr. Man hat dann auch die Maßstäbe, um zu unterscheiden zwischen Scharfsinn und dummem Zeug.
Neuerscheinung!
„Soeben erschien der erste Band der Neuen Folge der Reden und kleinen Schriften Klaus Heinrichs mit dem Titel – wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt.
Im ersten Band der Neuen Folge der Reden und kleinen Schriften untersucht Klaus Heinrich die Quelle des christlichen Antisemitismus im Johannes-Evangelium, weiter die Faszination, die bis heute von fernöstlicher Meditation und Askese ausgeht und im Jenseits von Enttäuschung und Nichtenttäuschung gefunden werden soll wie dann auch den Umstand, daß der Rede von der Gemütlichkeit bereits der Umschlag in die Brutalität innewohnt. Die drei Studien reflektieren in verschiedener Weise auf den Nationalsozialismus und sein Fortleben in der Demokratie nach 1945.“
Weitere Besprechung hier:
https://www.ca-ira.net/neuerscheinung-wie-eine-religion-der-anderen-die-wahrheit-wegnimmt/
:
Hallo Klaus Baum,
habe einen Text von Norbert Rath entdeckt
Der Neue Mensch
Hinweise zur Begriffsgeschichte
den ich für lesenwert halte. Zumindest war er das für mich. Er passt auch relativ gut zum Pandemiethema, in dem über die Fortschritte in der Gentechnik und mit der Digitalisierung teilweise direkt oder mit Versprechungen einer besseren Welt solche Utopien gedacht werden.
Ob das hier nun reinpasst vermag ich nicht einzuschätzen. Hier eine Leseprobe und der Link.
„Aldous Huxley, der selbst 1932 mit dem Roman ‘Brave New World’ (1932) eine der bekanntesten Dystopien des Neuen Menschen geschaffen hat, sieht keine zwei Jahrzehnte später seine Ideen einer Realisierung näher gerückt:
„Alles in allem sieht es ganz so aus, als wäre uns Utopia viel näher, als irgend jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, daß uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt“ (Nachweis siehe unter Anm. 18). Der Wunsch, einen Neuen Menschen möglich zu machen, steht in einer langen Tradition. Neuerdings erst scheint er in Tat und Wahrheit realisierbar zu sein. Hier folgt ein Überblick über einige alte Konzepte des Neuen Mensch
Die Idee des Neuen Menschen ist uralt. Schon in den Mysterienkulten der Antike, in Pubertätsriten archaischer Völker, in Ekstase-Techniken von Schamanen ging es um den Tod des ‘alten’ und die Geburt eines ‘neuen’ Menschen.3 Für unsere Kultur ist die christliche Vorstellung vom Neuen Men-schen wirkungsmächtig geworden. Für Paulus ist Christus das Urbild des Neuen Menschen (Eph. 2,15), der ‘neue Adam’ (Röm 5,12-21). “
Klicke, um auf Rath_Der_neue_Mensch.pdf zuzugreifen
hallo troptard, mir fällt da wieder eine vorlesung ein, und zwar von dem neutestamentler ulrich wilkens: „das reich gottes in der verkündigung jesu“. ein beispiel ist das gleichnis vom verlorenen sohn. wilkens zeigte verhaltensweisen auf, die der logik des alltagshandelns widersprechen. ich mag das hier nicht ausführen, sondern nur darauf hinweisen, dass mein essay auf die struktur der wilkens-schen überlegungen zurückgeht. ich meine meinen essay: lew archer oder: der detektiv als statthalter konkreter utopie. es geht in diesem aufsatz um einen menschen, der infolge seiner humanität schon das lebt, was von den meisten erst anzustreben wäre. doch auch der neue mensch ist geprägt vom alten. ein beispiel aus der DDR: meine mutter lebte mit einem mann zusammen, der kommunist war und mich mit makarenkows „der weg ins leben“ beglückte. dieser typ namens hermann bachmann war gewalttätig, autoritär. er hatte die brutalität der nazi-erziehung verinnerlicht und lebte sie aus.
dabei hatte er noch nicht einmal das reflektionsniveau eines brecht, der da sagte: wir, die wir den boden bereiten wollten für freundlichkeit, konnten selbst nicht freundlich sein.
Gewalttätige, von der Nazi Ideologie geprägte Väter sind schrecklich. Ich hatte auch so einen. Vielleicht wurde Lew Archer deswegen zu meinem liebsten Detektiv. Nachdem ich Deinen Radio-Essay über Ross MacDonald noch einmal gelesen habe, verstehe ich, warum seine Romane mir lange Zeit so wichtig waren. Die Menschlichkeit des Lew Archer hat etwas Heilsames.
@ Klaus Baum,
danke für Deinen Hinweis!
Ich bin nicht so tief in dem Thema drin, wie es den Anschein haben mag.
Habe erstmal nachgelesen, wer dieser Makarenko war. Und dieses Nachwirken der Nazierziehung habe ich noch selber erfahren. Aber was will man von einer Mutter erwarten, die von ihrer eigenen Mutter mit ihren zwei Schwestern im Kindesalter zum Bauern zum arbeiten gegeben wurde?
Jedenfalls hege ich ein tiefes Misstrauen gegen all jene, die mir allzu wohlfeil den Weg in eine bessere Zukunft schmackhaft machen wollen. Noch schlimmer die Weltenretter.
d’accord
@Troptard
Wenn ich das mit den Entdeckungen C.G. Jungs vergleiche: auch er spricht von dem Neuen Menschen nach der Geburt des ‚Selbst‘. Dieses ist ein dem kleinen Ego übergeordneter Kern in jedem Menschen, der sich bildlich – räumlich gesprochen zwischen dem Ich und dem Unbewußten befindet. Das Selbst taucht in Träumen oft als kleines Kind auf, als Edelstein, als Lotusblüte , als Schatz oder Perle usw. Es ist die ’schwer zu erreichende Kostbarkeit‘. Marie-Louise von Franz nennt es das Göttliche, Erich Neumann spricht von Jesus als dem Symbol des Selbst IN UNS. Selbstwerdung ist gleich Menschwerdung.
Es gibt eine Stelle in beiden Passionen von Johann Sebastian Bach, wo ich immer denke, der Komponist muß sich dieser symbolischen Bedeutung des Jesus als des neuen Selbst unbewußt bewußt gewesen sein. Nachdem Petrus Jesus zum dritten Mal verleugnet hat, heißt es „und ging hinaus, und weinete bitterlich‘. Dann erhängt er sich, weil er den Verrat nicht erträgt. Die Musik ist an der Stelle so ergreifend, daß ich jedesmal über diesen Verrat weinen muß. Da – denke ich – spielt auch die Erfahrung mit hinein, wie es sich anfühlt, wenn man sich – wider besseres Wissen – selbst verraten hat, was jedem mal passieren kann. Es muß dieses höhere Selbst sein, für das Jesus das Symbol ist, anders kann ich mir die abgrundtiefe Traurigkeit, die man an dieser Stelle empfindet, nicht erklären.
Diese Geschichte geschieht immer wieder neu in jedem Menschen, genauso wie z.B. die Befreiung aus der Knechtschaft des Pharao, die Flucht und der gefahrvolle Auszug und die Suche nach dem eigenen Heiligen Land, dem Selbst. Die Verfolger, die Soldaten des Pharao sind die Schuldgefühle, die man hat, wenn man sich aus einer Abhängigkeit zu befreien versucht, um zu sich Selbst zu finden. Eugen Drewerman beschreibt das in seinem zweibändigen Werk ‚Tiefenpsychologie und Exegese‘.
Klaus Heinrich
dämonen beschwören – katastrophen auslachen
Reden und kleine Schriften 3
Mit einer CD-Beilage: Rundfunkessay »Musik und Religion« (1989) und Tonbeispielen
„Beschreibung
dämonen beschwören – katastrophen auslachen – diese lange angekündigte dritte Folge meiner Reden und kleinen Schriften befaßt sich vorzugsweise mit Musik und Lachen, zwei exemplarischen Formen der Selbsterfahrung und Selbstbehauptung des Triebwesens Mensch. Daß Musik ihm hilft, mit den Dämonen, die in ihm lauern und es zu zerreißen drohen, angstfrei umzugehen, ist eine Erfahrung, die jeder am eigenen Leibe machen kann. Aber wir können auch auf Lachen nicht verzichten. Wir wären ohne es nicht ernsthafter, als wir es ohnehin schon sind, sondern müßten nur noch tiefer in Infantilität versinken.“
https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/daemonen-beschwoeren-katastrophen-auslachen/
Hinweis:
Klaus Heinrich: Dahlemer Vorlesungen – Karl Friedrich Schinkel / Albert Speer
„Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS
Die Vorlesungen des Religionsphilosophen Klaus Heinrich an der Freien Universität Berlin hatten stets den Anspruch, all das mit einzubeziehen, was – um es mit seinen eigenen Worten zu sagen – zum „Selbstverständigungsunternehmen der menschlichen Gattung“ gezählt werden kann: Mythologie, Religion und Philosophie, aber auch die Psychoanalyse sowie die bildenden Künste, die Musik und Lyrik. Es überrascht daher nicht, dass in diesem Zusammenhang die Architektur nicht fehlen durfte, manifestiert sich doch die menschliche Gattung immer auch im Gebauten.
Da der leidenschaftliche Hochschullehrer vorwiegend in freier Rede gewirkt hat und bisher nur ein Ausschnitt seiner religionsphilosophischen Vorlesungen erschienen ist, sind seine architekturtheoretischen Überlegungen vom Fachdiskurs nicht wahrgenommen worden. Fast vier Jahrzehnte nachdem er Ende der 1970er-Jahre seine Architekturvorlesungen gehalten hat, veröffentlichen wir dieses originäre Werk, das in seinem aufklärerischen Impetus unerhört aktuell geblieben ist. Faszinierend ist nicht nur das breite Wissen, auf das Heinrich seine Argumentation aufbaute, sondern vor allem seine Art Fragen zu stellen, die in dieser Form ein Architekturhistoriker oder -theoretiker nicht aufgeworfen hätte.“
0 Pingback