Heute morgen um halb zehn bin nach Clausnitz gefahren. Ich wollte mir gerne selber einer Bild machen und außerdem hatte ich die naive Vorstellung, ich könne vielleicht dem Jungen aus dem Bus eine Tafel Schokolade schenken.
Es ist nicht weit bis nach Rechenberg-Bienenmühle, der Ortschaft zu der Clausnitz gehört. Von Dresden aus fährt man eine ungefähr eine Stunde über Bannewitz, Welschhuf, Possendorf, Oberhäslich, Sadisdorf, Reichstädt … Mitten hindurch durch die osterzgebirgische Provinz, wo das Handynetz immer schwächer wird und der Deutschlandfunk im Autoradio, der über das brennende Heim in Bautzen berichtet, sich irgendwann den tschechischen Frequenzen beugt. Die Gegend ist einsam, autoleer, menschenleer an diesem verhangenen Sonntag. Der Weg führt vorbei an Erdstoffdeponien, KFZ-Barankaufstellen, einem alten Sägewerk, Baustoffhöfen und Baumaschinendepots. Und immer wieder an Leerstand. Von Dippoldiswalde bis Nassau kann man überall die aufgelassenen Gasthöfe und blinden Mietshausfensterhöhlen sehen, die leer und kalt im Regen stehen. Dies ist offensichtlich eine Gegend mit zweifelhafter Zukunft, ein Landstrich, der von den Menschen verlassen wird. Sächsische Wirtschaftsflüchtlinge. Dazwischen der krasse Gegensatz der Einfamilienhäuser, deren frisch gestrichene Fassaden vom festen Willen künden, es sich schön zu machen hier im feuchten Tal. Dazu benutzen sie wie überall in der Provinz diese groteske Fassadenfarbe, die im Baumarkt offenbar günstig ist und deren Tönung weder in der Natur noch in irgendeinem Farbfächer vorkommt. Falbes Mint und getrübtes Orangebraun, gräuliches Gelb und Neonbeige – plötzlich wirkt der Nebel gnädig.
In Rechenberg-Bienenmühle geht es dann hart links und der Weg führt, kaum befestigt, über einen Hügel. Dahinter liegt Clausnitz in einer Senke. Ein Flecken nur, kaum ein paar dahingeworfene Häuser auf den Feldern. Nichtmal ein Kaff. Auch hier: Menschenleere. Keine Kneipe, kein Gasthof. Ein geschlossener Bäcker. Eine Portaswerbung an einem Zaun, eine andere wirbt für den Ankauf von Altgold.
In den Wohnhäusern, die am Freitag Berühmtheit erlangten, sind die Jalousien unten, trotzdem erkennt man Bewegung dahinter. Kein Mensch ist zu sehen, keiner hält mich auf, als ich ratlos vor dem Haus parke, aussteige und – was bleibt mir denn? – einfach bei der ersten Wohnung unten rechts klingele. Und dann passiert etwas Seltsames: Der Türsummer wird gedrückt und ich trete zögernd in ein enges Treppenhaus. Auf dem ersten Absatz steht ein Junge und schaut neugierig. Ich bin so perplex, dass ich ihm als erstes Schokolade anbiete. Das ist jetzt natürlich einer der absoluten Tiefpunkte in meinem Leben. Als seltsamer Onkel in der sächsischen Provinz bei Fremden klingeln und kleinen Jungs Schokolade anbieten. Wer braucht da noch Nazis?
Ob er nicht der Junge aus dem Bus sei? Bist Du Luai Khatum?
Da strahlt er über das ganze Gesicht ruft seine Mutter und weitere Verwandte, die sich nun auch an der Tür versammeln. Luai ist der King, er hat sein Bild im Internet gesehen und ist auf verlegene Weise stolz.
Die Verständigung ist schwer und daher ist es eine große Erleichterung, dass nun eine Gruppe aus Würzburg vor dem Haus parkt. Sie bringen Spielzeug und Geschenke, vier Stunden sind sie gefahren und sie haben einen Dolmetscher dabei.
Was sie denn bräuchten, fragen wir die Menschen im Haus, wie man ihnen am besten helfen könne. Und da sagt Frau Khatum tatsächlich: „Wir haben alles, was wir brauchen: Frieden und Sicherheit. Wir sind sehr dankbar.“
Wir leeren dann unsere Kofferräume, gemeinsam mit anderen Hausbewohnern. Es sind noch ein paar Dutzend weitere Menschen, die nun hier leben, sie kommen aus dem Iran, dem Libanon, Syrien und weiteren Ländern. Keiner weiß, was sie hier sollen. Und ich weiß es auch nicht. Diese Gegend ist tot, sogar Fuchs und Hase sind hier nicht mehr. In was für eine Gesellschaft soll man sich hier integrieren? Selbst mir ist das alles völlig fremd. Wie kann man hier ankommen? Wie soll man hier Anschluss an ein Land finden? Dazu ganz praktische Probleme. Wo ist hier der nächste Arzt? Der nächste Edeka ist kilometerweit weg, der nächste Discounter 10km. Busse fahren selten.
Man blickt ratlos über die nassen Felder und fragt sich, wie das alles gehen soll.
Luai mag übrigens gar keine Schokolade. Aber Kekse.
Sehr lesenswert! Es erinnert ein wenig an den Ku-Klux-Klan. Der agiert ja ebenfalls in ökonomisch vollkommen vollkommen abgehängten Gebieten, in den Südstaaten der USA, und seine Anhänger sind arme Weiße, Leute, die ihr eigenes Elend damit kompensieren, dass sie Farbige lynchen wollen. White Trash, heißen die wohl.
Ulli, da besteht aber noch ein ganz kleiner Unterschied: die Schwarzen Menschen in Amerika sind als Sklaven zur Arbeit geholt worden, die jetzigen Migranten kommen, weil wir ihnen in ihren Ländern keinen Frieden und kein Überleben gelassen haben. In beiden Fällen sind wir, die Wertegemeinschaft unter Führung der USA, besser Wallstreet et al., Schuld am Dilemma. Im Gegensatz zum Ku-Klux-Klan könnte die Wertegemeinschaft aber für Abhilfe sorgen. Warum kleben alle von uns am System, horen und glauben betreutes Denken und verhalten uns wie Zombies? teddabären, Schokolade und… ist empathisch sehr wichtig, beglückt kurzzeitig, löst aber KEIN Problem!
Ich sehe da noch deutlich mehr.
Ich sehe da die Ursache, warum der Frust und die Wut auf die Politik hier noch ein bisschen größer ist als anderorts. Diese Region ist großflächig wirtschaftlich zerstört worden, sie blutet aus. Noch vor 30 Jahren hatte jedes selbst noch so kleine Nest wenigstens eine kleine Dorfkneipe, einen Bäcker, einen kleinen Dorfkonsum. Die Bewohner hatten ihre Arbeit, für die sie nicht 50 oder 100 km weit fahren mussten oder gar auf Wochen“montage“, sondern nicht selten sogar im Ort selbst oder im Nachbarort.
Und heute dann diese Wüste, so wie sie im obigen Bericht nachzulesen ist. Ich war im letzten Herbst zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder in der Gegend. Als wir abends eine Gaststätte suchten, mussten wir 20 km fahren, um in der nächstgrößeren Stadt einen Griechen zu finden. Alle Gaststätten, die ich von früher kannte, gab es nicht mehr, waren geschlossen, waren weg. Dort, wo wir damals Woche für Woche zur Disko gegangen sind. Nichts mehr. Alles tot.
Die Leute ziehen sich nun in ihr Haus zurück. Es ist ihre Burg.
Das sind die Folgen der so überaus erfolgreichen, bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahre. Mir sind sie besonders aufgefallen, da ich die zwischenzeitliche Entwicklung solange nicht mitverfolgt hatte. Hierin sehe ich aber eine maßgebliche Ursache für die jetzigen Entwicklungen. Dass man mit den Flüchtlingen völlig Unbeteilgte trifft, ist völlig klar. Aber sie haben einen „Vorteil“: Sie sind gegenwärtig, sie sind greifbar. Die Politik hingegen schwebt in weit entfernten Sphären.
Die Politik strebt eine dezentrale Besiedlung der Ankömmlinge an. Ob diese jedoch dauerhaft gelingt, so dass die Menschen im Niemandsland sesshaft werden, ist mehr als ungewiss.
Vielfach werden sie versuchen. sich einer größeren Auslandsgemeinschaft in den Großstädten anzuschließen.
Die damit einhergehende Problematik ist komplex und es empfiehlt sich, das an anderer Stelle vorgestellte Buch „Exodus“ zu lesen.
Was die Pogrome angeht, trägt das dilettantische, politische Migrations- resp. Flüchtlingsmanagement erhebliche Mitschuld an diesen Exzessen.
Es reicht nicht hin, die meist unbekannten Täter coram publico als Pack oder Abschaum zu titulieren, den Rechtsstaat ins Feld zu führen und die ‚entarteten‘ Leute vorgeblich verbal abholen zu wollen, ohne dem tatsächlich in irgendeiner Form nachzukommen.
Gegenwärtig sind es vormehmlich eingängige wie naive Narrative, von denen sich große Teile der Aufnahmegesellschaft leiten/verleiten/beeinflussen lassen.
In diesem Kontext, wie auch in anderen Zsammenhängen taucht wiederholt die Frage auf, warum viele Menschen dem System verhaftet sind, es bejahen, obwohl es sie gängelt und mehr oder weniger massiv in betreuter Abhängigkeit hält.
Fakt ist, dass sie ihre Möglichkeiten als Einzelne oftmals nicht mehr wahrnehmen/erkennen können und obwohl viefältig ausgebeutet, umfänglich überwacht und bevormundet, es keineswegs grundlos als Bedrückung/Bedrohung empfinden, vom kollektiven (Selbst-) Ausbeutungsprozess und von einer möglichen, wie auch immer gearteten Partizipation ausgeschlossen zu sein.
@Sleghammer; @KB u.a., vor einigen Jahren versuchte ich, das Problem „Falsches Bewußtsein und Handlungsblockaden“, also schlichter: Warum lassen sich viele da unten von den wenigen da oben so viel gefallen, handlungswissenschaftlich anzusprechen, vgl. Forum Wissenschaft, 30 (2013) 4: 49-51; Netzfassungen hier http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/7292438.html
und hier: http://politropolis.wordpress.com/2014/05/05/handlungsblockaden/
Vielen Dank für den lesenswerten Artikel.
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